Produktdetails
- Iaponia Insula 9
- Verlag: iudicium
- 2000.
- Seitenzahl: 433
- Deutsch
- Abmessung: 210mm
- Gewicht: 494g
- ISBN-13: 9783891298107
- ISBN-10: 3891298102
- Artikelnr.: 09541767
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2001In Auerbachs Sake-Keller
Dort ist uns kannibalisch wohl: Susanne Phillipps rekonstruiert die Arbeitsweise des japanischen Manga-Meisters Tezuka Osamu
Tezuka Osamu (1928 bis 1989) gilt in Japan als "Gott der Comics". In der Nachkriegszeit befreite er die japanischen Comics ("Manga") von ihrem Schattendasein als lustige Kurzgeschichten und begründete die Kunst, den Strichmännchen Leben einzuhauchen und sie in verschiedenste Szenarien zwischen Alltag und Apokalypse einzubetten, als Ausdrucksform, die dem Film, Drama oder Roman ebenbürtig ist. "Tetsuwan Atomu" alias "Astro Boy" oder "Kimba, der weiße Löwe" sind auch im Westen beliebte Exportartikel. Sein plastischer Zeichenstil wurde zum Industriestandard.
Zeit seines Lebens zeichnete Tezuka ungefähr 150 000 Seiten, veröffentlichte siebenhundert Manga und schuf sechzig Zeichentrickfilme. Sein Tod markierte für einige Japaner mehr noch als der Tod des Showa-Tenno einige Wochen zuvor das Ende einer Epoche. Susanne Phillipps spannt nun einen Bogen von der Mischform Manga zu verwandten Medien, um mit dort bewährten Analyseinstrumenten die Verflechtungen von Zeitstruktur, Figur, Charakter und Handlung in Tezukas Werk auszuleuchten.
Sie erkennt Anleihen bei Filmen wie "High Noon" oder "Metropolis" sowie Einflüsse westlicher Kriminalerzählungen und Schauerromane. Die Protagonisten haben einen hohen Wiedererkennungswert und sind zudem im Gesamtwerk intertextuell verwoben, was Phillipps mit dem Begriff "Starsystem" umschreibt. Unter Rückgriff auf Forschungen zur nonverbalen Kommunikation rekonstruiert sie aus Tezukas Anleitungsbüchern für Amateure die Arbeitsweise des Meisters.
Die Autorin teilt das Werk Tezukas in eine klassische, eine romantisch-phantastische und realistische Phase. In den Fünfzigern hatte der gelernte Arzt in der Manga-Industrie eine Monopolstellung inne. Die klassischen, für Kinder gemachten Manga bis Mitte der Sechziger sind von Disneys Zeichentrickfilmen geprägt. Die frühe Phase umfaßt Abenteuer in der afrikanischen Wildnis und im Wilden Westen, Mädchen-Manga und Science-fiction. Mit der "Neuen Schatzinsel" (1947) gelang Tezuka sowohl beruflich als auch stilistisch der Durchbruch. Der Wechsel der Perspektiven und Rahmengrößen gab den Geschichten eine hohe Geschwindigkeit. Die Handlung fließt über die Seiten, statt sie aufzuteilen. Mädchen-Manga wie "Der Ritter mit der Schleife" (1953 bis 1956) zeigen Kostümstücke vor exotischen europäischen Kulissen. Andererseits erkennt Phillipps in der Geschichte des von einem Wissenschaftler konstruierten Roboterjungen "Astroboy" das zentrale japanische Märchenmotiv des "von den Göttern geschickten Kindes" (Moshigo).
Die Autorin vermittelt Einblicke in die Werkstatt Tezukas und die Produktionsbedingungen zur Gründerzeit der populären Massenware. Sie entstand primär unter dem Diktat der Leserschaft und dem Druck der Herausgeber. Dem Publikumsgeschmack nicht genehme Serien wurden ohne langes Zögern abgebrochen. Da Tezuka zeitweise an über zehn Serien gleichzeitig zeichnete, litt er unter chronischem Zeitdruck. Die Verlagsvertreter warteten vor Tezukas Arbeitszimmer auf die überfällige Abgabe des Manuskripts. Zuweilen stahl sich der gefragte "Mangaka" aus dem Fenster, um sich bei einem Kinobesuch zu entspannen. Doch mit der Zeit wirkten die Kinder-Manga veraltet und in starren Formen verhaftet, und Tezuka bekam Konkurrenz von seinen mittlerweile erwachsenen früheren Lesern.
In den Sechzigern schilderten junge Leute aus Osaka in fotorealistischem Zeichenstil sozialkritische Themen. Die "dramatischen Bilder" ("Gekiga") zählten zur Pflichtlektüre der rebellierenden Studenten. Auch Tezuka ließ sich in seiner Umbruchsphase von dieser rätselhaft-irritierenden Form des Geschichtenerzählens inspirieren. Die neuen Helden kämpfen nicht mehr gegen böse Außerirdische, sondern erkennen ihre eigenen dunklen Seiten. Die Fortsetzungsgeschichten der siebziger und achtziger Jahre erlauben den Figuren, zu altern und sich charakterlich zu wandeln. Jene bis zu einigen tausend Seiten langen Episoden richten sich mit buddhistisch geprägten, reflexiv-philosophischen oder historischen Inhalten vorwiegend an ein erwachsenes Lesepublikum.
Tezukas Figuren der Spätphase agieren im Kontext nationaler, politischer, ökologischer und religiöser Konflikte. So dokumentiert "Adorufu ni tsugu" ("Mitteilung an Adolf", 1983 bis 1985) die auseinanderbrechende Freundschaft zwischen zwei Jungen namens Adolf Kaufmann und Adolf Kamil wegen der jüdischen Herkunft des einen vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus. Tezuka offenbart ein in Deutschland bis dato kaum zur Kenntnis genommenes Interesse für deutsche Zeitgeschichte und Kultur, wovon auch das Kostümstück "Rudouihi B." (1987 bis 1989), eine halbfiktive Biographie Ludwig van Beethovens, oder die Adaptationen des Faust-Motivs zeugen. Splitter des Goetheschen Originals wie das Trinkgelage in Auerbachs Keller oder das Treiben in der Walpurgisnacht werden im Kinder-Manga "Fausuto" (1950) als "Abenteuereinheiten" aneinandergereiht. Der unvollendete "Neo-Fausuto" (1988/1989) setzt das Faustsche Paktieren vor dem Hintergrund ökonomischer Meilensteine der Showa-Ära wie des Baus der Autobahnen, der Inbetriebnahme des Shinkansen oder gentechnischer Forschungen in Szene.
Tezuka Osamu behandelte im Bilderfluß seiner Geschichten immer wieder die Themenkreise Krieg, Umweltzerstörung und Fortschrittsglaube. Auf der Ebene der Pop-Kultur tauchen die zentralen Fragen der menschlichen Existenz schlaglichtartig auf. Die "in den eingefrorenen Positionen zu Papier gebrachten Manga-Figuren", so Susanne Phillipps' These, "verfügen über einige zusätzliche Eigenheiten". Von verschiedenen Seiten nähert sie sich in ihrer komplexen Studie einer möglichen Grammatik der Manga an.
STEFFEN GNAM
Susanne Phillipps: "Tezuka Osamu". Figuren, Themen und Erzählstrukturen im Manga-Gesamtwerk. Iudicium Verlag, München, 2000. 433 S., zahlr. Abb., br., 70,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dort ist uns kannibalisch wohl: Susanne Phillipps rekonstruiert die Arbeitsweise des japanischen Manga-Meisters Tezuka Osamu
Tezuka Osamu (1928 bis 1989) gilt in Japan als "Gott der Comics". In der Nachkriegszeit befreite er die japanischen Comics ("Manga") von ihrem Schattendasein als lustige Kurzgeschichten und begründete die Kunst, den Strichmännchen Leben einzuhauchen und sie in verschiedenste Szenarien zwischen Alltag und Apokalypse einzubetten, als Ausdrucksform, die dem Film, Drama oder Roman ebenbürtig ist. "Tetsuwan Atomu" alias "Astro Boy" oder "Kimba, der weiße Löwe" sind auch im Westen beliebte Exportartikel. Sein plastischer Zeichenstil wurde zum Industriestandard.
Zeit seines Lebens zeichnete Tezuka ungefähr 150 000 Seiten, veröffentlichte siebenhundert Manga und schuf sechzig Zeichentrickfilme. Sein Tod markierte für einige Japaner mehr noch als der Tod des Showa-Tenno einige Wochen zuvor das Ende einer Epoche. Susanne Phillipps spannt nun einen Bogen von der Mischform Manga zu verwandten Medien, um mit dort bewährten Analyseinstrumenten die Verflechtungen von Zeitstruktur, Figur, Charakter und Handlung in Tezukas Werk auszuleuchten.
Sie erkennt Anleihen bei Filmen wie "High Noon" oder "Metropolis" sowie Einflüsse westlicher Kriminalerzählungen und Schauerromane. Die Protagonisten haben einen hohen Wiedererkennungswert und sind zudem im Gesamtwerk intertextuell verwoben, was Phillipps mit dem Begriff "Starsystem" umschreibt. Unter Rückgriff auf Forschungen zur nonverbalen Kommunikation rekonstruiert sie aus Tezukas Anleitungsbüchern für Amateure die Arbeitsweise des Meisters.
Die Autorin teilt das Werk Tezukas in eine klassische, eine romantisch-phantastische und realistische Phase. In den Fünfzigern hatte der gelernte Arzt in der Manga-Industrie eine Monopolstellung inne. Die klassischen, für Kinder gemachten Manga bis Mitte der Sechziger sind von Disneys Zeichentrickfilmen geprägt. Die frühe Phase umfaßt Abenteuer in der afrikanischen Wildnis und im Wilden Westen, Mädchen-Manga und Science-fiction. Mit der "Neuen Schatzinsel" (1947) gelang Tezuka sowohl beruflich als auch stilistisch der Durchbruch. Der Wechsel der Perspektiven und Rahmengrößen gab den Geschichten eine hohe Geschwindigkeit. Die Handlung fließt über die Seiten, statt sie aufzuteilen. Mädchen-Manga wie "Der Ritter mit der Schleife" (1953 bis 1956) zeigen Kostümstücke vor exotischen europäischen Kulissen. Andererseits erkennt Phillipps in der Geschichte des von einem Wissenschaftler konstruierten Roboterjungen "Astroboy" das zentrale japanische Märchenmotiv des "von den Göttern geschickten Kindes" (Moshigo).
Die Autorin vermittelt Einblicke in die Werkstatt Tezukas und die Produktionsbedingungen zur Gründerzeit der populären Massenware. Sie entstand primär unter dem Diktat der Leserschaft und dem Druck der Herausgeber. Dem Publikumsgeschmack nicht genehme Serien wurden ohne langes Zögern abgebrochen. Da Tezuka zeitweise an über zehn Serien gleichzeitig zeichnete, litt er unter chronischem Zeitdruck. Die Verlagsvertreter warteten vor Tezukas Arbeitszimmer auf die überfällige Abgabe des Manuskripts. Zuweilen stahl sich der gefragte "Mangaka" aus dem Fenster, um sich bei einem Kinobesuch zu entspannen. Doch mit der Zeit wirkten die Kinder-Manga veraltet und in starren Formen verhaftet, und Tezuka bekam Konkurrenz von seinen mittlerweile erwachsenen früheren Lesern.
In den Sechzigern schilderten junge Leute aus Osaka in fotorealistischem Zeichenstil sozialkritische Themen. Die "dramatischen Bilder" ("Gekiga") zählten zur Pflichtlektüre der rebellierenden Studenten. Auch Tezuka ließ sich in seiner Umbruchsphase von dieser rätselhaft-irritierenden Form des Geschichtenerzählens inspirieren. Die neuen Helden kämpfen nicht mehr gegen böse Außerirdische, sondern erkennen ihre eigenen dunklen Seiten. Die Fortsetzungsgeschichten der siebziger und achtziger Jahre erlauben den Figuren, zu altern und sich charakterlich zu wandeln. Jene bis zu einigen tausend Seiten langen Episoden richten sich mit buddhistisch geprägten, reflexiv-philosophischen oder historischen Inhalten vorwiegend an ein erwachsenes Lesepublikum.
Tezukas Figuren der Spätphase agieren im Kontext nationaler, politischer, ökologischer und religiöser Konflikte. So dokumentiert "Adorufu ni tsugu" ("Mitteilung an Adolf", 1983 bis 1985) die auseinanderbrechende Freundschaft zwischen zwei Jungen namens Adolf Kaufmann und Adolf Kamil wegen der jüdischen Herkunft des einen vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus. Tezuka offenbart ein in Deutschland bis dato kaum zur Kenntnis genommenes Interesse für deutsche Zeitgeschichte und Kultur, wovon auch das Kostümstück "Rudouihi B." (1987 bis 1989), eine halbfiktive Biographie Ludwig van Beethovens, oder die Adaptationen des Faust-Motivs zeugen. Splitter des Goetheschen Originals wie das Trinkgelage in Auerbachs Keller oder das Treiben in der Walpurgisnacht werden im Kinder-Manga "Fausuto" (1950) als "Abenteuereinheiten" aneinandergereiht. Der unvollendete "Neo-Fausuto" (1988/1989) setzt das Faustsche Paktieren vor dem Hintergrund ökonomischer Meilensteine der Showa-Ära wie des Baus der Autobahnen, der Inbetriebnahme des Shinkansen oder gentechnischer Forschungen in Szene.
Tezuka Osamu behandelte im Bilderfluß seiner Geschichten immer wieder die Themenkreise Krieg, Umweltzerstörung und Fortschrittsglaube. Auf der Ebene der Pop-Kultur tauchen die zentralen Fragen der menschlichen Existenz schlaglichtartig auf. Die "in den eingefrorenen Positionen zu Papier gebrachten Manga-Figuren", so Susanne Phillipps' These, "verfügen über einige zusätzliche Eigenheiten". Von verschiedenen Seiten nähert sie sich in ihrer komplexen Studie einer möglichen Grammatik der Manga an.
STEFFEN GNAM
Susanne Phillipps: "Tezuka Osamu". Figuren, Themen und Erzählstrukturen im Manga-Gesamtwerk. Iudicium Verlag, München, 2000. 433 S., zahlr. Abb., br., 70,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tezuka Osamu war der japanische "Gott der Comics" und rangierte mit seinen zu Lebzeiten verfassten 700 Mangas und 60 Zeichentrickfilmen in der Wertschätzung des Volkes knapp hinter dem Tenno. Susanne Phillips untersucht sein Werk mit an anderen, verwandten Medien - Film und Genreliteratur, insbesondere Krimis und Schauerromane - gewonnenen Analysemethoden. Sie teilt Osamus Werk in drei Phasen ein, "eine klassische, eine romantisch-phantastische und realistische". Von den Kinder-Mangas habe sich sein Stil zur Darstellung "nationaler, politischer, ökologischer und religiöser Konflikte" entwickelt, bis hin zu seinem unvollendeten Faust-Comic "Neo-Fausuto". Rezensent Steffen Gnam beschränkt sich fast ausschließlich auf eine Inhaltswiedergabe, zuletzt wird die vorher implizite positive Einschätzung explizit: die "komplexe Studie" nähert sich "einer möglichen Grammatik der Manga an."
© Perlentaucher Medien GmbH
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