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Archivar des Instituts für Deutsche Romantik in Berlin Konrad Johanser schreckt auch vor Mord nicht zurück, wenn es darum geht, seine Fälschungen von Texten aus der Romantik zu decken. In dem Gespinst von Schuld, Lüge und Wahn sind dem weltabgewandten Einzelgänger alle Mittel recht, um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden.

Produktbeschreibung
Archivar des Instituts für Deutsche Romantik in Berlin Konrad Johanser schreckt auch vor Mord nicht zurück, wenn es darum geht, seine Fälschungen von Texten aus der Romantik zu decken. In dem Gespinst von Schuld, Lüge und Wahn sind dem weltabgewandten Einzelgänger alle Mittel recht, um nicht zur Verantwortung gezogen zu werden.
Autorenporträt
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, zählt zu den interessantesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern. Für seine Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Dramen, Drehbücher und musikalische Werke erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Seine Romane "Der große Bagarozy" und "Fette Welt" (mit Jürgen Vogel in der Hauptrolle) wurden fürs Kino verfilmt. Der Autor lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.1996

Tod, wo ist dein Stachel?
Verquer und bewegend: Helmut Kraussers Roman "Thanatos" · Von Gerhard Schulz

Anfangs ist das ein Buch zum Zuklappen: Je nach Temperament möchte man es verärgert, angeödet oder degoutiert aus der Hand legen. Denn da ist zunächst die Sache mit der Romantik. Dr. Konrad Ezechiel Johanser, Held des Buches, ist Archivar eines Berliner Instituts für deutsche romantische Literatur mit zwei Professoren, dreiundzwanzig Mitarbeitern und 920000 Dokumenten. Ihm verhilft Johanser zu internationalem Ansehen, indem er als geschickter Handschriften-Fälscher Manuskripte sämtlicher romantischer Autoren produziert und auf diese Weise aus seinem Archivkeller "Jahrhundertfunde" ans Licht bringt, die die Welt aufhorchen lassen, "das Bild einer ganzen Epoche umkrempeln" und einen Tabakkonzern zur Finanzierung von Neueditionen inspirieren.

Als Satire liegt das allenfalls auf dem Niveau eines Studentenulks, denn ohne ein Element an Wahrscheinlichkeit kommt eine wirklich gute Übertreibung nicht aus. Und was einem Adolf Hitler eine Woche lang billig war, ist einem Novalis oder Hölderlin noch lange nicht recht. Hätte Krausser sich ein wenig im Felde umgetan und eine der kritischen Editionen dieser "versteinerten Autoren" angesehen, wäre ihm das wohl aufgegangen. Wasserzeichen des jeweils verwendeten Papiers, Schriftzüge, Quellen und biographische Hintergründe sind da so gut dokumentiert, daß Kinkerlitzchen von Johansers Art auf den ersten Blick aufgeflogen wären, statt ihn zum "weltführenden Spezialisten" zu machen.

Nun ist dieser Johanser seinem Wesen nach hauptsächlich ein trüber, unangenehmer Zeitgenosse, und Krausser hätte auch jeden anderen Beruf wählen können, von dem er nichts versteht, wenn nicht mit der Romantik in diesem Buch zugleich ein "hintergründiges literarisches Spiel" getrieben werden sollte, wie der Umschlagtext behauptet. Denn auf Satire ist es eigentlich nicht abgesehen. "Erhabener Schauder", "Todessehnsucht", "Fragment" und "typisch deutsch" werden als weitere Köder für Lust auf Tiefsinn angeboten. "Thanatos" heißt das Buch nach dem griechischen Todesgott, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und wir wissen, wohin das geführt hat. Mit anderen Worten: Krausser wärmt hier die ganze Grundsuppe von Klischees und Vorurteilen auf, mit der man den Begriff "Romantik" immer wieder übergossen, dabei aber sachliches Urteil und eine Antwort auf die Frage nach geschichtlicher Verantwortung eher verwässert hat.

Im übrigen ist dieser Johanser mehr an ausgefallenen Sexualpraktiken und Alkohol interessiert als an Literatur. Für einen Moment besteht sogar bei ihm der Verdacht auf Drogenabhängigkeit, denn er schluckt regelmäßig "Rutaretil", ein "bittersüßes, gefährliches Mittel", das den "Zustand des Gemüts bis ins Extrem" verstärkt. Aber dann erinnert man sich, daß Johanser Palindrome liebt, also Wörter und Sätze, die man vorwärts wie rückwärts lesen kann. "Rutaretil" - da sinkt das Niveau des Humors mühelos auf das eines Sextanerspaßes. Nur ist das leider ebenfalls seriös gemeint.

Ein ferneres Ärgernis ist Kraussers Sprache. Keine Unsitte oder Geschmacklosigkeit, die er ausließe: Kalauereien ("das Hanebuch"), Abgegriffenstes ("deftige Küche"), Schwulst ("lumineszieren"), Arno-Schmidtsches ("Nümfn") und Wortschöpfungen fragwürdigen Reizes ("zusammengefrankensteint", "veramselt"). Sprachentgleisungen sind andererseits nichts Neues bei Krausser; die Kritiker seiner vorausgehenden Bücher ("Melodien", "Die Zerstörung der europäischen Städte") haben sie bereits in großem Detail notiert. Geholfen hat es nichts. Auch hier also begegnen sie uns, diese Ausbrüche im aufgesteilten Expressionismus ("An der Hauptstraße entrissen Neonauren den Dächern scharfe Konturen"), das Bürodeutsch oder die schiefen Bilder ("erigiertes Herz"). Ein Buch zum Zuklappen mithin?

Unversehens geschieht jedoch beim pflichtmäßigen Weiterlesen entgegen aller Neigung etwas Überraschendes - es fangen einen die Menschen dieses Buches mit seiner im Grunde mageren Handlung zu interessieren an. Johanser, Anfang Dreißig, wird aus dem romantischen Institut entlassen, fürchtet die Entdeckung seiner Fälschungen und flieht aus Berlin und der Ehe mit Kathrin, der Galeristin, zu Onkel und Tante in die Schwäbische Alb. Offenbar sucht er in ihnen so etwas wie Ersatzeltern, denn seine wirklichen Eltern, die ihn einst gequält hatten, sind tot. Tante Marga nun ist ganz fürsorgliche Hausfrau, im Keller kommuniziert Onkel Rudolf per Funk mit den Toten - ein Hobby muß der Mensch ja haben. Und außerdem ist da noch der sechzehnjährige Cousin Benedikt, der sich als ein Störfaktor in der schwäbischen Idylle erweist, einen kessen - manchmal reichlich kondensierten und stilisierten - Jugendslang spricht, in der Schule sitzenzubleiben droht und mit Literatur nichts am Hut hat. Ihm nähert sich Johanser, der einstige Musterschüler, als dem anderen, dessen Unbekümmertheit ihn reizt, obwohl der Junge seine eigenen Probleme mit sich hat. Das wiederum macht ihn zu einer interessanten Figur.

Johansers Annäherung geschieht auf seine Art. "He, dafür liest du gefälligst den Wackenroder, alles klar?" "Hätt' ich sowieso! Mensch, danke!" Nun sind Wackenroders "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" kaum geeignet, einen rockbesessenen Teenager von seinen Lautsprechern wegzulocken; Kraussers Handlungsmotivationen sind da von derselben Sorglosigkeit wie seine Sprache. Aber dennoch nehmen die Figuren Gestalt an, es entstehen Beziehungen und Spannungen zwischen ihnen, wie sehr sich auch Johanser (und mit ihm Krausser) Mühe gibt, die Leser durch banale Kommentare abzuschrecken. Der Kellnerin Anna - ein Palindrom! - macht Johanser hoffnungslos den Hof. Trost - "Kellnerin in der Provinz, was läßt das schon für Schlüsse zu?" - und gelegentliche Selbsterkenntnis lauten: "Warum geh' ich nicht nach Afrika? Alaska? Indonesien? Warum geh' ich lieber allen auf die Nerven?"

Krausser spinnt Handlungsfäden, in die sich sein Held als selbstzerstörerischer Intellektueller und unreiner Tor - "ich aber bin lächerlich" - immer weiter verstrickt. Benedikts Freundin Berit möchte aus unerklärlichen Gründen bei Johanser gern ihre Jungfräulichkeit loswerden, worauf Benedikt Rachepläne schmiedet. Von diesem Moment an erhebt sich dieser Roman über sich selbst. Johanser nämlich nimmt den Cousin auf einen Spaziergang mit. "Mann", sagt Benedikt, "bist du kaputt! Ehrlich, ich dachte, du bist'n totaler Langweiler. Dabei bist du'n richtiges Arschloch. Wo gehn wir denn hin?" Eine Novalis-Reminiszenz, die auf einmal nicht stört, sondern ganz natürlich daherkommt als dunkle Neugier. Denn kurz darauf erschlägt Johanser den Jungen mit einem Stein. Dieser Mord in seiner ganz naturalistisch geschilderten brutalen Grausamkeit, das langsame Sterben Benedikts, danach die amateurhaften, aber erfolgreichen Versuche Johansers, die Leiche zu beseitigen und die Tat zu vertuschen, lesen sich, als hätte stellenweise die Hand Dostojewskis in diesen deutschen Roman hineingeschrieben.

Gewiß, Krausser läßt seinen literarischen Romantik- und Thanatos-Komplex störend dazwischenfahren. Aber wie dieser Johanser nun den Eltern seines Opfers bei der Suche nach dem angeblich entlaufenen Sohn hilft, wie er Briefe des Ermordeten fälscht - denn auf Handschriften versteht er sich ja -, wie er vor der Polizei auftritt, die ihn ganz anderer Dinge wegen befragen will, wie sich überhaupt nach der Tat die Welt für ihn verändert - das ist derart faszinierend und spannend geschrieben, daß man sich mit den 310 Seiten aussöhnt, die es brauchte, um zu diesem Punkt zu gelangen.

Am Ende wird Johanser zum Tatort zurückkehren und die Identität des Opfers angenommen haben. "Anagnorisis" lautet die Überschrift des letzten Kapitels. Das ist in der antiken Tragödie am Ende der Umschlag von Unwissenheit in Erkenntnis. Ob sich greifbare Erkenntnis für Johanser oder die Leser dieses Buches gewinnen läßt, ist fraglich. Sätze wie "Alles hängt irgendwie zusammen" dürften es kaum sein; das ist wiederum nur banalisierte Romantik. Aber handliche Weisheit als Ertrag ist ohnehin kaum das Kriterium für den Wert eines Romans. Man kommt immerhin zu der Erkenntnis, daß von Helmut Krausser Bedeutendes zu erwarten sein könnte, falls er sich Mühe gibt. Oder um der Romantik zu Ehren Novalis zu zitieren: "Nichts ist dem Dichter unentbehrlicher, als Einsicht in die Natur jedes Geschäfts, Bekanntschaft mit den Mitteln, jeden Zweck zu erreichen, und Gegenwart des Geistes, nach Zeit und Umständen, die schicklichsten zu wählen."

Helmut Krausser: "Thanatos. Das schwarze Buch". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 1996. 527 Seiten, geb., 44,- DM.

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