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Frankfurter Allgemeine ZeitungAls lachende Männer ein Loch in den Himmel brannten
Todesangst und Überlebensrausch: A. L. Kennedys Kriegsroman / Von Hubert Spiegel
Angst, Schuld und Liebe. Darum geht es und um nichts anderes. Es ärgere sie, hat A. L. Kennedy einmal gesagt, wenn man sie fragt, wovon dieses oder jenes Werk handle. Denn die Frage ist überflüssig. "Es geht um Angst, Schuld und Liebe. Immer." Und es geht darum, was ein Autor daraus macht.
A. L. Kennedy macht daraus Bücher, die zum Besten gehören, was die britische Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Keine andere Autorin stürzt sich ähnlich tollkühn und radikal auf ihre Gegenstände wie die 1965 in Dundee geborene Schottin. Ob ihre Figuren in den Suff abgleiten, in sexuelle Abhängigkeit geraten oder von Todessehnsucht erfüllt sind: Emotionen sind für diese Autorin Urgewalten. A. L. Kennedy interessiert sich für alles, was Menschen zerstören kann, und für alles, was ihnen erlaubt, mit den Verwüstungen ihrer Seelen weiterzuleben. Also musste sie früher oder später an den Krieg geraten.
Alfred F. Day ist keine zwanzig, als er sich freiwillig zur Luftwaffe meldet. Ein Milchgesicht vom Land, kleinwüchsig und schüchtern. Ein harmloser, guter Junge, der nach den ersten Einsätzen an der Front nach Hause zurückkehrt und den verhassten Vater tötet. Die Crew des Lancaster-Bombers wird ihm zum Familienersatz, eine Männergemeinschaft auf Leben und Tod, aus der nur Day lebendig hervorgehen wird. Aus der Kriegsgefangenschaft kehrt er als Wrack zurück, einer jener jungen Männer, die nie wieder vergessen können, was sie gesehen und getan haben.
Als der Roman einsetzt, ist der Krieg seit vier Jahren zu Ende und Day wieder in Deutschland, wieder in einem Lager, aber diesmal als Komparse bei Dreharbeiten zu einem Kriegsfilm. Am ganzen Leib zitternd, steht er zwischen den Baracken und erinnert sich an die Misshandlungen durch die Deutschen, an die toten Kameraden, an ihre zuweilen bizarren Rituale und an ihren gemeinsamen Spitznamen: Sie waren die Crew, die lacht.
Es ist dies eine der vielen ungeheuerlichen Szenen dieses beeindruckenden Romans: Bei einem der Einsätze geraten sie in feindliches Feuer, und Sergeant Pluckrose wird von den Geschossen zerfetzt. Der Kopf ist verschwunden, Teile des Körpers sind im Flugzeug verteilt, überall kleben Blut und Fleischfetzen, einen Leichnam, den man bergen könnte, gibt es nicht, nur einen Torso und verstreute Überreste. Nach der Landung stehen die sechs Überlebenden beisammen, und in einem bizarren Ritual halten sie sich aneinander fest, fassen sich gegenseitig an ihren mit den Überresten des Toten verschmierten Uniformen und singen lachend eines der Lieder, die sie sonst vor dem Abflug zu singen pflegen: "He's there for a day and then he's away, / He's a-a-all over the place."
Immer wieder versucht A. L. Kennedy nachzuvollziehen, was der Krieg in den Männern anrichtet. Er ist das große Initiationserlebnis: Er erschafft den Mann - und löscht ihn wieder aus. Die einen sterben, die anderen sind verkrüppelt und für immer gezeichnet. Nicht einer kehrt als der zurück, als der er ausgezogen war. Im Stakkato des inneren Monologs des wie verrückt feuernden Bordschützen will A. L. Kennedy die Atemlosigkeit Days in seiner Glaskanzel spürbar werden lassen, die ungeheure Mischung aus Angst und Erregung, die entsteht, wenn man tötet und weiss, dass man jederzeit getötet werden kann. Sie schildert die Schuldgefühle, die Day nach der Bombardierung Hamburgs plagen und nie wieder verlassen. Und sie schildert die Bombardierung selbst, jenen Tag, an dem Männer wie Alfred Day ein "Loch in den Himmel brannten". Was sie darin erblickten, war "der Rand des wahren Gesichts des Todes".
A. L. Kennedy rückt so nah an die Schrecken des Luftkriegs heran, dass sie zuweilen Gefahr läuft, der Faszination des Grauens zu erliegen. Sie schildert den Zusammenhalt der siebenköpfigen Crew nahezu ungebrochen als Männeridyll, eine verschworene Gemeinschaft, zusammengeschweißt durch Todesfurcht und Überlebensrausch, denn jeder überstandene Einsatz wird wie eine Wiedergeburt erlebt. Distanz zum Geschehen nimmt sie nur ein, soweit sie ihrem Helden selbst möglich ist.
Neben die Kriegshandlungen und die Zeit bei den Dreharbeiten im Lager tritt Days dumpfes Nachkriegsleben in London, wo er mit dem pazifistischen Buchhändler Ivor ein Antiquariat betreibt und seiner großen Liebe nachtrauert. Auch die Erzählperspektive ist auf drei Ebenen verteilt, auf einen allwissenden Erzähler, einen sich im Selbstgespräch erinnernden Day sowie auf kursiv gesetzte Passagen, die Days Gedanken wiedergeben und den Kern der Figur enthüllen. Die vollkommene Sicherheit, mit der Kenndy zwischen diesen Zeitebenen und Erzählperspektiven wechselt, hat etwas geradezu Unheimliches. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der sich eine 1965 geborene Frau in einen Bordschützen des Zweiten Weltkriegs einfühlt, ist mehr als erstaunlich. Sie ist bewundernswert.
In England ist "Day" der großen Antikriegsliteratur zugerechnet worden, in Deutschland wird man das Buch nicht zuletzt im Zusammenhang mit der vor zehn Jahren von W. G. Sebald ausgelösten Luftkriegsdebatte lesen. A. L. Kennedy selbst hat darauf hingewiesen, dass ihr Roman entstanden ist, während England in einen anderen Krieg verwickelt war, den sie in vielen Kommentaren in englischen Zeitungen verdammmt hat. Mehrfach hat sie darauf hingewiesen, dass jeder vierte Obdachlose in Schottland ein Veteran des Irak-Kriegs ist.
Dass es aus dem Krieg auch für die Überlebenden keine Heimkehr geben kann, wäre die zentrale Botschaft dieses Romans, wenn A. L. Kennedy ihrem Helden nicht so viel Sympathie entgegenbringen würde. Aber "Day" ist letztlich die Geschichte einer Erlösung. Bei den Dreharbeiten begegnet Day dem lettischen Nazi-Kollaborateur Vasyl. Für diesen Massenmörder gibt es nur Opfer und Täter, und die Täter sind ihm alle gleich. Denn sie alle empfinden Lust bei dem, was sie tun. Erst durch diese dunkle Gegenfigur findet Day zu sich und ins Leben zurück. Kennedy verdammt den Krieg, aber nicht jene, die in ihm kämpften. Ein Widerspruch ist das nicht.
A. L. Kennedy: "Day". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 349 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Todesangst und Überlebensrausch: A. L. Kennedys Kriegsroman / Von Hubert Spiegel
Angst, Schuld und Liebe. Darum geht es und um nichts anderes. Es ärgere sie, hat A. L. Kennedy einmal gesagt, wenn man sie fragt, wovon dieses oder jenes Werk handle. Denn die Frage ist überflüssig. "Es geht um Angst, Schuld und Liebe. Immer." Und es geht darum, was ein Autor daraus macht.
A. L. Kennedy macht daraus Bücher, die zum Besten gehören, was die britische Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Keine andere Autorin stürzt sich ähnlich tollkühn und radikal auf ihre Gegenstände wie die 1965 in Dundee geborene Schottin. Ob ihre Figuren in den Suff abgleiten, in sexuelle Abhängigkeit geraten oder von Todessehnsucht erfüllt sind: Emotionen sind für diese Autorin Urgewalten. A. L. Kennedy interessiert sich für alles, was Menschen zerstören kann, und für alles, was ihnen erlaubt, mit den Verwüstungen ihrer Seelen weiterzuleben. Also musste sie früher oder später an den Krieg geraten.
Alfred F. Day ist keine zwanzig, als er sich freiwillig zur Luftwaffe meldet. Ein Milchgesicht vom Land, kleinwüchsig und schüchtern. Ein harmloser, guter Junge, der nach den ersten Einsätzen an der Front nach Hause zurückkehrt und den verhassten Vater tötet. Die Crew des Lancaster-Bombers wird ihm zum Familienersatz, eine Männergemeinschaft auf Leben und Tod, aus der nur Day lebendig hervorgehen wird. Aus der Kriegsgefangenschaft kehrt er als Wrack zurück, einer jener jungen Männer, die nie wieder vergessen können, was sie gesehen und getan haben.
Als der Roman einsetzt, ist der Krieg seit vier Jahren zu Ende und Day wieder in Deutschland, wieder in einem Lager, aber diesmal als Komparse bei Dreharbeiten zu einem Kriegsfilm. Am ganzen Leib zitternd, steht er zwischen den Baracken und erinnert sich an die Misshandlungen durch die Deutschen, an die toten Kameraden, an ihre zuweilen bizarren Rituale und an ihren gemeinsamen Spitznamen: Sie waren die Crew, die lacht.
Es ist dies eine der vielen ungeheuerlichen Szenen dieses beeindruckenden Romans: Bei einem der Einsätze geraten sie in feindliches Feuer, und Sergeant Pluckrose wird von den Geschossen zerfetzt. Der Kopf ist verschwunden, Teile des Körpers sind im Flugzeug verteilt, überall kleben Blut und Fleischfetzen, einen Leichnam, den man bergen könnte, gibt es nicht, nur einen Torso und verstreute Überreste. Nach der Landung stehen die sechs Überlebenden beisammen, und in einem bizarren Ritual halten sie sich aneinander fest, fassen sich gegenseitig an ihren mit den Überresten des Toten verschmierten Uniformen und singen lachend eines der Lieder, die sie sonst vor dem Abflug zu singen pflegen: "He's there for a day and then he's away, / He's a-a-all over the place."
Immer wieder versucht A. L. Kennedy nachzuvollziehen, was der Krieg in den Männern anrichtet. Er ist das große Initiationserlebnis: Er erschafft den Mann - und löscht ihn wieder aus. Die einen sterben, die anderen sind verkrüppelt und für immer gezeichnet. Nicht einer kehrt als der zurück, als der er ausgezogen war. Im Stakkato des inneren Monologs des wie verrückt feuernden Bordschützen will A. L. Kennedy die Atemlosigkeit Days in seiner Glaskanzel spürbar werden lassen, die ungeheure Mischung aus Angst und Erregung, die entsteht, wenn man tötet und weiss, dass man jederzeit getötet werden kann. Sie schildert die Schuldgefühle, die Day nach der Bombardierung Hamburgs plagen und nie wieder verlassen. Und sie schildert die Bombardierung selbst, jenen Tag, an dem Männer wie Alfred Day ein "Loch in den Himmel brannten". Was sie darin erblickten, war "der Rand des wahren Gesichts des Todes".
A. L. Kennedy rückt so nah an die Schrecken des Luftkriegs heran, dass sie zuweilen Gefahr läuft, der Faszination des Grauens zu erliegen. Sie schildert den Zusammenhalt der siebenköpfigen Crew nahezu ungebrochen als Männeridyll, eine verschworene Gemeinschaft, zusammengeschweißt durch Todesfurcht und Überlebensrausch, denn jeder überstandene Einsatz wird wie eine Wiedergeburt erlebt. Distanz zum Geschehen nimmt sie nur ein, soweit sie ihrem Helden selbst möglich ist.
Neben die Kriegshandlungen und die Zeit bei den Dreharbeiten im Lager tritt Days dumpfes Nachkriegsleben in London, wo er mit dem pazifistischen Buchhändler Ivor ein Antiquariat betreibt und seiner großen Liebe nachtrauert. Auch die Erzählperspektive ist auf drei Ebenen verteilt, auf einen allwissenden Erzähler, einen sich im Selbstgespräch erinnernden Day sowie auf kursiv gesetzte Passagen, die Days Gedanken wiedergeben und den Kern der Figur enthüllen. Die vollkommene Sicherheit, mit der Kenndy zwischen diesen Zeitebenen und Erzählperspektiven wechselt, hat etwas geradezu Unheimliches. Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der sich eine 1965 geborene Frau in einen Bordschützen des Zweiten Weltkriegs einfühlt, ist mehr als erstaunlich. Sie ist bewundernswert.
In England ist "Day" der großen Antikriegsliteratur zugerechnet worden, in Deutschland wird man das Buch nicht zuletzt im Zusammenhang mit der vor zehn Jahren von W. G. Sebald ausgelösten Luftkriegsdebatte lesen. A. L. Kennedy selbst hat darauf hingewiesen, dass ihr Roman entstanden ist, während England in einen anderen Krieg verwickelt war, den sie in vielen Kommentaren in englischen Zeitungen verdammmt hat. Mehrfach hat sie darauf hingewiesen, dass jeder vierte Obdachlose in Schottland ein Veteran des Irak-Kriegs ist.
Dass es aus dem Krieg auch für die Überlebenden keine Heimkehr geben kann, wäre die zentrale Botschaft dieses Romans, wenn A. L. Kennedy ihrem Helden nicht so viel Sympathie entgegenbringen würde. Aber "Day" ist letztlich die Geschichte einer Erlösung. Bei den Dreharbeiten begegnet Day dem lettischen Nazi-Kollaborateur Vasyl. Für diesen Massenmörder gibt es nur Opfer und Täter, und die Täter sind ihm alle gleich. Denn sie alle empfinden Lust bei dem, was sie tun. Erst durch diese dunkle Gegenfigur findet Day zu sich und ins Leben zurück. Kennedy verdammt den Krieg, aber nicht jene, die in ihm kämpften. Ein Widerspruch ist das nicht.
A. L. Kennedy: "Day". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 349 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungZur Lage der Bartstoppeln in der Dichtkunst
Ein großes, trauriges, aufregendes und grausames Buch: A. L. Kennedys neuer Roman „Day” führt tief hinab in die Abgründe der Erinnerungen eines britischen Bomberschützen Von Jens-Christian Rabe
Einen merkwürdig trägen Sog erzeugt dieses Buch. So leicht in sich hineinfinden lässt es einen nicht, heraus kommt man allerdings auch nicht wieder so schnell. Denkbar banal geht es los: „Alfred ließ sich einen Schnauzer wachsen.” Er tut es, wie man erfährt, nicht aus Langeweile. In Wahrheit interessiert ihn die Ausrichtung jedes einzelnen Stoppels. Das Übrige von Alfreds Äußerem ist alles andere als perfekt. Er ist klein, seine Hände reichlich unansehnlich, er hat lichtes Haar und ein paar Pfund zu viel an den Hüften. Es ist eine an die Methoden des Films erinnernde Erzähltechnik, mit der die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy in ihren neuen – von Ingo Herzke souverän ins Deutsche übertragenen – Roman „Day” einführt. Der Zoom auf ein Detail, das langsame Aufziehen des Bildausschnitts, die Art, wie Hände, Haare, Pfunde in den Blick kommen.
Zufall ist dieses Vorgehen natürlich nicht. Die 1965 geborene Autorin weiß genau, was sie tut, schließlich ist sie im Nebenberuf auch Filmemacherin. Aber das ist eben nur die eine Seite ihrer Kunst. Die andere besteht darin, dass vom ersten Absatz an Irritationen eingestreut werden, Deutungen, Bildsprünge, psychologische Charakteristika. Unmittelbar bevor die Erzählkamera etwa auf Alfreds Hände schwenkt, wird ihm schon fehlende Größe attestiert, und kurz nachdem man von seinem lichter werdenden Haar erfahren hat, ist von seiner Angewohnheit die Rede, Worte zu verschlucken und meist den Blick zu senken; aber nur ganz knapp wird das notiert, und im gleichen Satz folgt noch der Gegenschnitt.
Es ist also sicher so, dass der frühe Hinweis auf das penible Interesse Alfreds an der Lage seiner Bartstoppeln weniger als unverzichtbares Detail zur Beschreibung des Helden gelesen werden muss, sondern vielmehr als narrative Fährte. In Wahrheit nämlich scheint vor allem A. L. Kennedy die präzise Ausrichtung jeder einzelnen Stoppel ihrer Geschichte zu interessieren. Das Buch entwickelt sich dementsprechend als eine Art Puzzle. Abschnitte, in denen ein allwissender Erzähler spricht, wechseln sich ab mit kursiv gesetzten inneren Monologen Alfreds:
„Aber er würde sich nicht an Pluckrose erinnern, würde ihn nicht hereinbitten.
Schluß jetzt. Verstanden?
Und diesmal meine ich es ernst.
Verstanden?
Der Lärm zog sich also gehorsam zurück, ließ ihn sein, wo er war.”
Es dauert viele Seiten, bis man eine Ahnung davon bekommt, worum es genau geht und wer dieser Alfred nun tatsächlich ist. Die Indizien sind spärlich ausgelegt, die Geschichte wird nicht linear oder gar chronologisch erzählt, sondern entlang der Erinnerungen und Flashbacks der Hauptfigur. Eine durchaus gewöhnungsbedürftige Geduldsprobe. Aber es ist genau dieser literarische Kniff, der das Buch von anderen unterscheidet und seine Kraft ausmacht. Wie so oft bei A. L. Kennedy steckt man sofort tief drin im Kopf des Protagonisten.
Was sich nach und nach entfaltet – so viel muss jetzt doch endlich gesagt werden, obwohl es dem Buch natürlich etwas plump vorgreift – was sich entfaltet, ist die Geschichte des Alfred Day, eines ehemaligen britischen Bomberschützen während des Zweiten Weltkriegs. Die etwas schräge, aber raffinierte Klammer des Erzählten bildet Days Aufenthalt in einem Gefangenenlager im Jahr 1949, als alles längst zu Ende ist. Ein Film wird dort gedreht, und Day meldet sich freiwillig als Statist. Sechs Jahre zuvor hatten ihn die Deutschen in genau so ein Lager tatsächlich eingesperrt. Jetzt soll es ihn von seinen Erinnerungen befreien.
Eine große, traurige, aufregende und grausame Geschichte entsteht so. Und ein weiteres Kriegsbuch dieses Herbstes, ein Buch über das Wesen des Krieges wie etwa auch der große Wurf „Der Marsch” des amerikanischen Romanciers E. L. Doctorow. Die Zeiten sind danach. Und doch ist „Day” ganz anders, denn ein historischer Roman ist es nicht, selbst wenn immer wieder durchscheint, dass Kennedy im Londoner Imperial War Museum akribisch recherchiert hat. Doctorow widmet sein wuchtiges Schlachtenpanorama des amerikanischen Bürgerkriegs im Kern der Frage, was die Menschen im Krieg anstellen. A. L. Kennedys Buch dagegen ist bis in die Verästelungen seiner mitunter kaum weniger wuchtig aufgerissenen Ereignisse darauf aus, davon zu erzählen, was der Krieg in den Menschen anstellt. Genauer: in diesem einen, mit seinen dunklen Erinnerungen ringenden Menschen Alfred Day, der der Armee, der dem Krieg sein Leben verdankt. Er hat ihn vor seinem brutalen Vater gerettet – und vor sich selbst. Er hat ihn herausgeführt aus kleinsten Verhältnissen und zu einem tapferen Soldaten gemacht, einem selbstbewussten Helden.
Es ist die Spannung dieser Ambivalenz, die Spannung zwischen der zerstörerischen und der identitätsstiftenden Macht des Krieges, von der der Roman zehrt. Neu ist das natürlich nicht. Die Anti-Kriegsliteratur ist voll mit Schicksalen wie dem Alfred Days. Aber es wird auf beeindruckend eigene Art durchgespielt. „Tupferschreiberin” ist sie kürzlich von der Zeit genannt worden. Das Bild trifft.
Die erzählerische Subtilität und Originalität , die die Schriftstellerin A. L. Kennedy auszeichnet, ist nicht das bevorzugte Mittel der regelmäßig öffentlich Stellung beziehenden Intellektuellen A. L. Kennedy. Das gegenwärtige Großbritannien erinnert sie „an die Nazizeit”. Wieder würde eine einzelne religiöse Gruppe stigmatisiert, diesmal die Muslime. Gern polterte sie gegen den damaligen britischen Premier Tony Blair wegen dessen Unterstützung des Irak-Kriegs. In ihren Augen ist er nicht weniger als ein „wahnhafter Kriegsverbrecher”. 2003 rechnete sie ihm sogar vor, wie viele Liter Blut an seinen Fingern kleben: 47 940. A. L. Kennedy weiß, wie man die Debatten bedient. Für grobe Keile ist sie sich dabei nicht zu schade. Die Wucht ihrer literarischen Arbeiten jedoch ist nicht erklärbar ohne das Temperament der engagierten politischen Kommentatorin und Polemikerin. Deren Prominenz natürlich ebensowenig ohne Bücher wie „Day”.
A. L. Kennedy
Day
Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 349 Seiten, 22,90 Euro.
Alfred verdankt dem Krieg sein Leben. Er hat ihn vor dem Vater gerettet – und vor sich selbst
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Ein großes, trauriges, aufregendes und grausames Buch: A. L. Kennedys neuer Roman „Day” führt tief hinab in die Abgründe der Erinnerungen eines britischen Bomberschützen Von Jens-Christian Rabe
Einen merkwürdig trägen Sog erzeugt dieses Buch. So leicht in sich hineinfinden lässt es einen nicht, heraus kommt man allerdings auch nicht wieder so schnell. Denkbar banal geht es los: „Alfred ließ sich einen Schnauzer wachsen.” Er tut es, wie man erfährt, nicht aus Langeweile. In Wahrheit interessiert ihn die Ausrichtung jedes einzelnen Stoppels. Das Übrige von Alfreds Äußerem ist alles andere als perfekt. Er ist klein, seine Hände reichlich unansehnlich, er hat lichtes Haar und ein paar Pfund zu viel an den Hüften. Es ist eine an die Methoden des Films erinnernde Erzähltechnik, mit der die schottische Schriftstellerin A. L. Kennedy in ihren neuen – von Ingo Herzke souverän ins Deutsche übertragenen – Roman „Day” einführt. Der Zoom auf ein Detail, das langsame Aufziehen des Bildausschnitts, die Art, wie Hände, Haare, Pfunde in den Blick kommen.
Zufall ist dieses Vorgehen natürlich nicht. Die 1965 geborene Autorin weiß genau, was sie tut, schließlich ist sie im Nebenberuf auch Filmemacherin. Aber das ist eben nur die eine Seite ihrer Kunst. Die andere besteht darin, dass vom ersten Absatz an Irritationen eingestreut werden, Deutungen, Bildsprünge, psychologische Charakteristika. Unmittelbar bevor die Erzählkamera etwa auf Alfreds Hände schwenkt, wird ihm schon fehlende Größe attestiert, und kurz nachdem man von seinem lichter werdenden Haar erfahren hat, ist von seiner Angewohnheit die Rede, Worte zu verschlucken und meist den Blick zu senken; aber nur ganz knapp wird das notiert, und im gleichen Satz folgt noch der Gegenschnitt.
Es ist also sicher so, dass der frühe Hinweis auf das penible Interesse Alfreds an der Lage seiner Bartstoppeln weniger als unverzichtbares Detail zur Beschreibung des Helden gelesen werden muss, sondern vielmehr als narrative Fährte. In Wahrheit nämlich scheint vor allem A. L. Kennedy die präzise Ausrichtung jeder einzelnen Stoppel ihrer Geschichte zu interessieren. Das Buch entwickelt sich dementsprechend als eine Art Puzzle. Abschnitte, in denen ein allwissender Erzähler spricht, wechseln sich ab mit kursiv gesetzten inneren Monologen Alfreds:
„Aber er würde sich nicht an Pluckrose erinnern, würde ihn nicht hereinbitten.
Schluß jetzt. Verstanden?
Und diesmal meine ich es ernst.
Verstanden?
Der Lärm zog sich also gehorsam zurück, ließ ihn sein, wo er war.”
Es dauert viele Seiten, bis man eine Ahnung davon bekommt, worum es genau geht und wer dieser Alfred nun tatsächlich ist. Die Indizien sind spärlich ausgelegt, die Geschichte wird nicht linear oder gar chronologisch erzählt, sondern entlang der Erinnerungen und Flashbacks der Hauptfigur. Eine durchaus gewöhnungsbedürftige Geduldsprobe. Aber es ist genau dieser literarische Kniff, der das Buch von anderen unterscheidet und seine Kraft ausmacht. Wie so oft bei A. L. Kennedy steckt man sofort tief drin im Kopf des Protagonisten.
Was sich nach und nach entfaltet – so viel muss jetzt doch endlich gesagt werden, obwohl es dem Buch natürlich etwas plump vorgreift – was sich entfaltet, ist die Geschichte des Alfred Day, eines ehemaligen britischen Bomberschützen während des Zweiten Weltkriegs. Die etwas schräge, aber raffinierte Klammer des Erzählten bildet Days Aufenthalt in einem Gefangenenlager im Jahr 1949, als alles längst zu Ende ist. Ein Film wird dort gedreht, und Day meldet sich freiwillig als Statist. Sechs Jahre zuvor hatten ihn die Deutschen in genau so ein Lager tatsächlich eingesperrt. Jetzt soll es ihn von seinen Erinnerungen befreien.
Eine große, traurige, aufregende und grausame Geschichte entsteht so. Und ein weiteres Kriegsbuch dieses Herbstes, ein Buch über das Wesen des Krieges wie etwa auch der große Wurf „Der Marsch” des amerikanischen Romanciers E. L. Doctorow. Die Zeiten sind danach. Und doch ist „Day” ganz anders, denn ein historischer Roman ist es nicht, selbst wenn immer wieder durchscheint, dass Kennedy im Londoner Imperial War Museum akribisch recherchiert hat. Doctorow widmet sein wuchtiges Schlachtenpanorama des amerikanischen Bürgerkriegs im Kern der Frage, was die Menschen im Krieg anstellen. A. L. Kennedys Buch dagegen ist bis in die Verästelungen seiner mitunter kaum weniger wuchtig aufgerissenen Ereignisse darauf aus, davon zu erzählen, was der Krieg in den Menschen anstellt. Genauer: in diesem einen, mit seinen dunklen Erinnerungen ringenden Menschen Alfred Day, der der Armee, der dem Krieg sein Leben verdankt. Er hat ihn vor seinem brutalen Vater gerettet – und vor sich selbst. Er hat ihn herausgeführt aus kleinsten Verhältnissen und zu einem tapferen Soldaten gemacht, einem selbstbewussten Helden.
Es ist die Spannung dieser Ambivalenz, die Spannung zwischen der zerstörerischen und der identitätsstiftenden Macht des Krieges, von der der Roman zehrt. Neu ist das natürlich nicht. Die Anti-Kriegsliteratur ist voll mit Schicksalen wie dem Alfred Days. Aber es wird auf beeindruckend eigene Art durchgespielt. „Tupferschreiberin” ist sie kürzlich von der Zeit genannt worden. Das Bild trifft.
Die erzählerische Subtilität und Originalität , die die Schriftstellerin A. L. Kennedy auszeichnet, ist nicht das bevorzugte Mittel der regelmäßig öffentlich Stellung beziehenden Intellektuellen A. L. Kennedy. Das gegenwärtige Großbritannien erinnert sie „an die Nazizeit”. Wieder würde eine einzelne religiöse Gruppe stigmatisiert, diesmal die Muslime. Gern polterte sie gegen den damaligen britischen Premier Tony Blair wegen dessen Unterstützung des Irak-Kriegs. In ihren Augen ist er nicht weniger als ein „wahnhafter Kriegsverbrecher”. 2003 rechnete sie ihm sogar vor, wie viele Liter Blut an seinen Fingern kleben: 47 940. A. L. Kennedy weiß, wie man die Debatten bedient. Für grobe Keile ist sie sich dabei nicht zu schade. Die Wucht ihrer literarischen Arbeiten jedoch ist nicht erklärbar ohne das Temperament der engagierten politischen Kommentatorin und Polemikerin. Deren Prominenz natürlich ebensowenig ohne Bücher wie „Day”.
A. L. Kennedy
Day
Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2007. 349 Seiten, 22,90 Euro.
Alfred verdankt dem Krieg sein Leben. Er hat ihn vor dem Vater gerettet – und vor sich selbst
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