"In the early fifteenth century, a casket containing the remains of the Roman historian Livy was unearthed at a Benedictine abbey in Padua. The find was greeted with the same enthusiasm as the bones of a Christian saint, and established a pattern that antiquarians would follow for centuries to come. The Art of Discovery tells the stories of the Renaissance antiquarians who turned material remains of the ancient world into sources for scholars and artists, inspirations for palaces and churches, and objects of pilgrimage and devotion. Maren Elisabeth Schwab and Anthony Grafton bring to life some of the most spectacular finds of the age, such as Nero's Golden House and the wooden placard that was supposedly nailed to the True Cross. They take readers into basements, caves, and cisterns, explaining how digs were undertaken and shedding light on the methods antiquarians--and the alchemists and craftspeople they consulted--used to interpret them. What emerges is not an origin story for modern archaeology or art history but rather an account of how early modern artisanal skills and technical expertise were used to create new knowledge about the past and inspire new forms of art, scholarship, and devotion in the present. The Art of Discovery challenges the notion that Renaissance antiquarianism was strictly a secular enterprise, revealing how the rediscovery of Christian relics and the bones of martyrs helped give rise to highly interdisciplinary ways of examining and authenticating objects of all kinds."--Publisher's description.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2023Es duften auch die Knochen großer Heiden
Gelehrtheit hat halt auch ihre emotionale Seite: Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton zeigen in einem ebenso kenntnisreichen wie unterhaltsamen Buch, was die humanistischen Verehrer antiker Überreste mit dem christlichen Reliquienkult verband.
Seit etwa 1320 vermuteten die Bürger von Padua, dass Titus Livius, der antike Geschichtsschreiber und große Sohn ihrer Stadt, unentdeckt im Bereich des örtlichen Klosters Santa Giustina begraben lag. So war die Aufregung groß, als man 1413 beim Bau einer Latrine in der Nähe einer nicht ganz passenden Inschrift einen Totenschrein entdeckte. "Das Grab des Livius!", riefen die Zuschauer begeistert. Noch ehe man die Stelle richtig sichern konnte, machten sich Menschen über den Fund her und raubten die Zähne des Skeletts, wohl als Souvenirs und Glücksbringer, aber sicher auch zu den selben Zwecken, zu denen man sich seit jeher Reliquienfunde angeeignet hatte. Diese auffallende Ähnlichkeit zwischen christlicher Reliquienverehrung und der humanistischen Bewunderung für antike Überreste machen die Kieler Philologin Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton, Historiker an der Universität Princeton, zum Ausgangspunkt ihrer ebenso gescheiten wie unterhaltsamen Studie über eine ganze Reihe von Entdeckungsgeschichten. Neben dem Paduaner Grab behandeln sie den Fund eines gut konservierten Frauenleichnams, der bei Bauarbeiten an der Via Appia sechs Meilen südlich von Rom aufgetaucht war (1485); die Auffindung des vermeintlich originalen Titulus, das heißt der im Johannesevangelium mitgeteilten Inschrift, die Pontius Pilatus am Christuskreuz anbringen ließ, über dem Hauptaltar der römischen Kirche Santa Croce in Gerusalemme (1492); die Erforschung dessen, was von Kaiser Neros "Goldenem Haus" übrig geblieben war (seit den 1470ern); die Entdeckung der marmornen Laokoon-Gruppe in der Nähe der besagten Domus Aurea (1506); neu aufgefundene Reliquien des heiligen Dunstan in der Abtei Glastonbury (1508); und letztlich die Erhebung des heiligen ungenähten Rocks zu Trier unter Kaiser Maximilian I. (1512).
Die Gegenstände zerfallen, doch die Debatten dauern
Dass Schwab und Grafton auf diese Weise Fallstudien zu christlichen mit solchen zu profanen Fundstücken kombinieren, ist Programm, denn der Gegenstand ihres Buches war in der Vergangenheit prominenter Bestandteil einer Erzählung von der allmählichen Verweltlichung des europäischen Geistes gewesen. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert war ein Milieu entstanden, dessen Verehrung für die römische vorchristliche Antike nicht nur das Studium der römischen Literatur, Kunst und Philosophie anregte, sondern auch Kampagnen zur Auffindung antiker Überreste.
Man bezeichnet diese Bewegung als den europäischen Antiquarianismus, ihre Vertreter als Antiquare. Seien es die Archäologie, die Kunst- oder die Geschichtswissenschaft - gleich mehrere akademische Disziplinen der Gegenwart zählen sie zu ihren Vorläufern und betonen, von den Akteuren dieser Bewegung Zukunftsweisendes abgeschaut zu haben, so etwa den vergleichenden Blick auf Texte und Artefakte, die Kriterien für Echtheitsdiskussionen und für die Entscheidung, welchem Autor und welchem Dokument bei widersprüchlichen Angaben mehr Glauben geschenkt werden soll. Schwab und Grafton bestreiten derartige Genealogien keineswegs, doch verlängern sie diese in die Vergangenheit zurück, insofern sich der Antiquarianismus bei ihnen als Erbe mittelalterlicher Reliquienjagd und -verehrung zu erkennen gibt. Die Zeitgenossen schrieben den heidnischen Überresten diejenigen Eigenschaften zu, die von den christlichen Reliquien bekannt waren: Sie waren intakt, sie leuchteten, und sie dufteten wie Blumen. Es scheint, als sei es mit der Verweltlichung des Denkens doch nicht so weit her gewesen.
Doch bei dieser Botschaft, die in dem Band ein wenig redundant wiederholt wird, bleibt es nicht. Ausführlich gehen die beiden Autoren auf die gelehrten und die handwerklichen Kniffe ein, mit denen die Antiquare ihren Fundstücken zur Anerkennung ihrer Authentizität verhelfen wollten. Überhaupt halten Schwab und Grafton nicht die Gegenstände für das eigentlich Interessante, sondern den Umgang mit diesen. Geradezu komisch ist die Diskrepanz zwischen der Kurzlebigkeit mancher Entdeckungen und der langen Dauer der Debatten, die von den Gelehrten mit Hingabe, ja entfesselter Kombinationsfreude geführt wurden. Grabbeigaben verschwanden auf der Stelle, die römische Frauenleiche ließ man binnen kurzer Zeit zerfallen, die Seidenschnüre am Behältnis des Kreuzes-Titulus verwandelten sich in Staub, und Knochen des Livius-Skeletts wurden an italienische Potentaten verschenkt. Dagegen war die gelehrte Kontroverse um die Funde eine langlebige Sache, immer wieder angeheizt durch kühne Behauptungen. Erst Jahrzehnte nach dem Fund des Via-Appia-Mädchens brachte ein Autor eine angebliche Grablampe ins Spiel, die seit mehr als 1000 Jahren von einem geheimnisvollen Öl nach römischer Rezeptur gespeist worden sei. Erst im Augenblick der Graböffnung sei das Wunderding erloschen.
Mit großer Selbstverständlichkeit griffen die Antiquare auf das Expertenwissen von Handwerkern zurück. So bat man in Trier die Weber um ihr Urteil über die Textur des ungenähten Rocks. Die Künstler waren überzeugt davon, dass nur sie und nicht die Philologen in der Lage waren, die grotesken Malereien in Neros Goldenem Haus fachmännisch zu beurteilen. Freilich, die Gelehrten waren sofort mit einer Textstelle aus der "Naturgeschichte" des Plinius bei der Hand, als ein Römer im Januar 1506 in seinem Garten grub und auf den Laokoon stieß. Doch nur das geübte Auge des Skulptors erkannte, dass die Figurengruppe keineswegs aus einem Marmorblock gearbeitet war, wie dies der römische Autor behauptet hatte. Neben der Schriftkenntnis bedurfte es eben auch einer profunden handwerklichen Expertise sowie der Courage zuzugreifen: "Man konnte ihre Zunge anfassen und aus dem Mund herausziehen", berichtete ein langjähriger Sekretär des römischen Senats von der Frauenleiche, "und sofort bewegte sie sich an ihren Ort zurück".
Von solcher Begeisterung führt ein Weg in die moderne Wissenschaft
Schwab und Grafton nehmen auch die emotionalen Energien sehr ernst, die durch die Artefakte bei den Antiquaren und ihrem Publikum hervorgerufen wurden: "Erudition also had its emotional side". Daher die hitzigen Debatten, das leidenschaftliche Ringen um Datierungen und Fundinterpretationen, das Werben für die Plausibilität der eigenen Schlüsse. Inschriften in der Nähe der Via-Appia-Leiche verwiesen auf das Geschlecht der Tullier, also war wohl Cicero involviert, ergo handelte es sich bei dem Mädchen wahrscheinlich um dessen Tochter, und die hieß dann wohl Tulliola. Vielleicht war aber auch alles ganz anders gewesen, schreibt einer, und die divergierenden Erklärungen der Experten, die mittlerweile angehäuft worden waren, rührten daher, dass in dem Grab seinerzeit nicht eine, sondern drei tote Frauen entdeckt worden waren. Wir befinden uns hier bereits im Nachsommer der Debatte und schöpfen aus einer 1625 veröffentlichten Schrift "Von den verborgenen Lampen der Alten."
Dass man um die Bedeutung der Reliquien genauso rang, war den aktuellen Verhältnissen geschuldet, denn die christliche Religiosität veränderte sich im Zeichen von Reformation und Gegenreformation unter den Händen der Antiquare. Altgläubige Reliquienfrömmigkeit war gegen die Angriffe der Protestanten zu verteidigen, die gelehrt-handwerkliche Arbeit an ihnen diente auch der Apologie der katholischen Spiritualität und ihrer Gegenstände, der Kreuzigung und der zahllosen Martyrien. Johannes Calvin überzog solche Versuche mit Spott. Der in Rom verehrte Titulus crucis sei einfach zu perfekt, um echt zu sein, so der Reformator, und in Toulouse gebe es ja bereits einen. Falsch seien sie garantiert beide.
Das letzte Wort gehörte aber nicht den Kritikern. Mit der antiquarischen Praxis überlebte ein Milieu, das sich in seiner Verehrung fürs Fassbare nicht irremachen ließ. Seit Langem hatte man den Reliquien sogenannte Authentiken hinzugefügt, kleine Schriftstücke zu dem Zweck, die Echtheit und Heiligkeit des Gegenstandes zu bezeugen. Das faszinierende Buch von Schwab und Grafton handelt genau hiervon: von der Begeisterung an den Spuren vergangenen Lebens, der Neugier auf das Authentische, Echte. Von ihr sollte künftig auch die modernisierte Wissenschaft getragen werden. FRANK REXROTH
Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton: "The Art of Discovery". Digging into the Past in Renaissance Europe.
Princeton University Press, Princeton 2022. 308 S., Abb., geb., 34,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gelehrtheit hat halt auch ihre emotionale Seite: Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton zeigen in einem ebenso kenntnisreichen wie unterhaltsamen Buch, was die humanistischen Verehrer antiker Überreste mit dem christlichen Reliquienkult verband.
Seit etwa 1320 vermuteten die Bürger von Padua, dass Titus Livius, der antike Geschichtsschreiber und große Sohn ihrer Stadt, unentdeckt im Bereich des örtlichen Klosters Santa Giustina begraben lag. So war die Aufregung groß, als man 1413 beim Bau einer Latrine in der Nähe einer nicht ganz passenden Inschrift einen Totenschrein entdeckte. "Das Grab des Livius!", riefen die Zuschauer begeistert. Noch ehe man die Stelle richtig sichern konnte, machten sich Menschen über den Fund her und raubten die Zähne des Skeletts, wohl als Souvenirs und Glücksbringer, aber sicher auch zu den selben Zwecken, zu denen man sich seit jeher Reliquienfunde angeeignet hatte. Diese auffallende Ähnlichkeit zwischen christlicher Reliquienverehrung und der humanistischen Bewunderung für antike Überreste machen die Kieler Philologin Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton, Historiker an der Universität Princeton, zum Ausgangspunkt ihrer ebenso gescheiten wie unterhaltsamen Studie über eine ganze Reihe von Entdeckungsgeschichten. Neben dem Paduaner Grab behandeln sie den Fund eines gut konservierten Frauenleichnams, der bei Bauarbeiten an der Via Appia sechs Meilen südlich von Rom aufgetaucht war (1485); die Auffindung des vermeintlich originalen Titulus, das heißt der im Johannesevangelium mitgeteilten Inschrift, die Pontius Pilatus am Christuskreuz anbringen ließ, über dem Hauptaltar der römischen Kirche Santa Croce in Gerusalemme (1492); die Erforschung dessen, was von Kaiser Neros "Goldenem Haus" übrig geblieben war (seit den 1470ern); die Entdeckung der marmornen Laokoon-Gruppe in der Nähe der besagten Domus Aurea (1506); neu aufgefundene Reliquien des heiligen Dunstan in der Abtei Glastonbury (1508); und letztlich die Erhebung des heiligen ungenähten Rocks zu Trier unter Kaiser Maximilian I. (1512).
Die Gegenstände zerfallen, doch die Debatten dauern
Dass Schwab und Grafton auf diese Weise Fallstudien zu christlichen mit solchen zu profanen Fundstücken kombinieren, ist Programm, denn der Gegenstand ihres Buches war in der Vergangenheit prominenter Bestandteil einer Erzählung von der allmählichen Verweltlichung des europäischen Geistes gewesen. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert war ein Milieu entstanden, dessen Verehrung für die römische vorchristliche Antike nicht nur das Studium der römischen Literatur, Kunst und Philosophie anregte, sondern auch Kampagnen zur Auffindung antiker Überreste.
Man bezeichnet diese Bewegung als den europäischen Antiquarianismus, ihre Vertreter als Antiquare. Seien es die Archäologie, die Kunst- oder die Geschichtswissenschaft - gleich mehrere akademische Disziplinen der Gegenwart zählen sie zu ihren Vorläufern und betonen, von den Akteuren dieser Bewegung Zukunftsweisendes abgeschaut zu haben, so etwa den vergleichenden Blick auf Texte und Artefakte, die Kriterien für Echtheitsdiskussionen und für die Entscheidung, welchem Autor und welchem Dokument bei widersprüchlichen Angaben mehr Glauben geschenkt werden soll. Schwab und Grafton bestreiten derartige Genealogien keineswegs, doch verlängern sie diese in die Vergangenheit zurück, insofern sich der Antiquarianismus bei ihnen als Erbe mittelalterlicher Reliquienjagd und -verehrung zu erkennen gibt. Die Zeitgenossen schrieben den heidnischen Überresten diejenigen Eigenschaften zu, die von den christlichen Reliquien bekannt waren: Sie waren intakt, sie leuchteten, und sie dufteten wie Blumen. Es scheint, als sei es mit der Verweltlichung des Denkens doch nicht so weit her gewesen.
Doch bei dieser Botschaft, die in dem Band ein wenig redundant wiederholt wird, bleibt es nicht. Ausführlich gehen die beiden Autoren auf die gelehrten und die handwerklichen Kniffe ein, mit denen die Antiquare ihren Fundstücken zur Anerkennung ihrer Authentizität verhelfen wollten. Überhaupt halten Schwab und Grafton nicht die Gegenstände für das eigentlich Interessante, sondern den Umgang mit diesen. Geradezu komisch ist die Diskrepanz zwischen der Kurzlebigkeit mancher Entdeckungen und der langen Dauer der Debatten, die von den Gelehrten mit Hingabe, ja entfesselter Kombinationsfreude geführt wurden. Grabbeigaben verschwanden auf der Stelle, die römische Frauenleiche ließ man binnen kurzer Zeit zerfallen, die Seidenschnüre am Behältnis des Kreuzes-Titulus verwandelten sich in Staub, und Knochen des Livius-Skeletts wurden an italienische Potentaten verschenkt. Dagegen war die gelehrte Kontroverse um die Funde eine langlebige Sache, immer wieder angeheizt durch kühne Behauptungen. Erst Jahrzehnte nach dem Fund des Via-Appia-Mädchens brachte ein Autor eine angebliche Grablampe ins Spiel, die seit mehr als 1000 Jahren von einem geheimnisvollen Öl nach römischer Rezeptur gespeist worden sei. Erst im Augenblick der Graböffnung sei das Wunderding erloschen.
Mit großer Selbstverständlichkeit griffen die Antiquare auf das Expertenwissen von Handwerkern zurück. So bat man in Trier die Weber um ihr Urteil über die Textur des ungenähten Rocks. Die Künstler waren überzeugt davon, dass nur sie und nicht die Philologen in der Lage waren, die grotesken Malereien in Neros Goldenem Haus fachmännisch zu beurteilen. Freilich, die Gelehrten waren sofort mit einer Textstelle aus der "Naturgeschichte" des Plinius bei der Hand, als ein Römer im Januar 1506 in seinem Garten grub und auf den Laokoon stieß. Doch nur das geübte Auge des Skulptors erkannte, dass die Figurengruppe keineswegs aus einem Marmorblock gearbeitet war, wie dies der römische Autor behauptet hatte. Neben der Schriftkenntnis bedurfte es eben auch einer profunden handwerklichen Expertise sowie der Courage zuzugreifen: "Man konnte ihre Zunge anfassen und aus dem Mund herausziehen", berichtete ein langjähriger Sekretär des römischen Senats von der Frauenleiche, "und sofort bewegte sie sich an ihren Ort zurück".
Von solcher Begeisterung führt ein Weg in die moderne Wissenschaft
Schwab und Grafton nehmen auch die emotionalen Energien sehr ernst, die durch die Artefakte bei den Antiquaren und ihrem Publikum hervorgerufen wurden: "Erudition also had its emotional side". Daher die hitzigen Debatten, das leidenschaftliche Ringen um Datierungen und Fundinterpretationen, das Werben für die Plausibilität der eigenen Schlüsse. Inschriften in der Nähe der Via-Appia-Leiche verwiesen auf das Geschlecht der Tullier, also war wohl Cicero involviert, ergo handelte es sich bei dem Mädchen wahrscheinlich um dessen Tochter, und die hieß dann wohl Tulliola. Vielleicht war aber auch alles ganz anders gewesen, schreibt einer, und die divergierenden Erklärungen der Experten, die mittlerweile angehäuft worden waren, rührten daher, dass in dem Grab seinerzeit nicht eine, sondern drei tote Frauen entdeckt worden waren. Wir befinden uns hier bereits im Nachsommer der Debatte und schöpfen aus einer 1625 veröffentlichten Schrift "Von den verborgenen Lampen der Alten."
Dass man um die Bedeutung der Reliquien genauso rang, war den aktuellen Verhältnissen geschuldet, denn die christliche Religiosität veränderte sich im Zeichen von Reformation und Gegenreformation unter den Händen der Antiquare. Altgläubige Reliquienfrömmigkeit war gegen die Angriffe der Protestanten zu verteidigen, die gelehrt-handwerkliche Arbeit an ihnen diente auch der Apologie der katholischen Spiritualität und ihrer Gegenstände, der Kreuzigung und der zahllosen Martyrien. Johannes Calvin überzog solche Versuche mit Spott. Der in Rom verehrte Titulus crucis sei einfach zu perfekt, um echt zu sein, so der Reformator, und in Toulouse gebe es ja bereits einen. Falsch seien sie garantiert beide.
Das letzte Wort gehörte aber nicht den Kritikern. Mit der antiquarischen Praxis überlebte ein Milieu, das sich in seiner Verehrung fürs Fassbare nicht irremachen ließ. Seit Langem hatte man den Reliquien sogenannte Authentiken hinzugefügt, kleine Schriftstücke zu dem Zweck, die Echtheit und Heiligkeit des Gegenstandes zu bezeugen. Das faszinierende Buch von Schwab und Grafton handelt genau hiervon: von der Begeisterung an den Spuren vergangenen Lebens, der Neugier auf das Authentische, Echte. Von ihr sollte künftig auch die modernisierte Wissenschaft getragen werden. FRANK REXROTH
Maren Elisabeth Schwab und Anthony Grafton: "The Art of Discovery". Digging into the Past in Renaissance Europe.
Princeton University Press, Princeton 2022. 308 S., Abb., geb., 34,50 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main