"At Westish College, a small school on the shore of Lake Michigan, baseball star Henry Skrimshander seems destined for big-league stardom. But when a routine throw goes disastrously off course, the fates of five people are upended."--Publisher's description.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2012Leiden bis zur Perfektion
Man muss Baseball nicht mögen, um diesen Roman zu lieben. Man kann dieses amerikanische Spiel, in dem scheinbar nicht viel passiert, sogar für einen langweiligen Zeitvertreib halten und trotzdem von diesem 600-Seiten-Wälzer mitgerissen werden. Obwohl sich in Chad Harbachs "Die Kunst des Feldspiels" vieles um Baseball dreht, geht die Geschichte weit übers Werfen, Fangen, Schlagen und Herumstehen hinaus: Sie handelt vom provinziellen College-Leben, vom Erwachsenwerden, von Liebe (auch gleichgeschlechtlicher), und vor allem behandelt sie Chancen, Risiken und Nebenwirkungen des Mannschaftssports im Allgemeinen. Von Freundschaften, wie sie der Sport stiften kann und gefährden. Vom Teamgeist und dessen Bedrohungen. Vom Athleten-Traum, im entscheidenden Wettkampf eine perfekte Leistung abzuliefern. Von Ausnahmekönnern, die an ihrem Talent zu zerbrechen drohen. Von Missbrauch von Schmerzmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln. Eingebunden in die Erfolgsstory des Collegeteams "Harpooners", das sich von einem Prügelknaben zum Meisterschaftsanwärter mausert, sind Sentenzen, die in ihrer Lakonie geradezu lehrhaft sind. Zum Beispiel jene über gutes Coaching, die sich auch Fußballtrainer wie Felix Magath an ihre Kabinentür heften können: "Ein guter Coach ließ jeden in der ihm gemäßen Weise leiden. Ein schlechter Coach ließ alle gleich leiden und war damit eher eine Art Folterknecht."
Leistungssport heißt Leiden. Das erfahren vor allem die beiden Freunde Henry, das schüchterne und schmächtige Supertalent, und Mike, sein Entdecker und verletzungsgeplagter Mitspieler. Als Henry, anfangs der Erfolgsgarant der "Harpooners", die Aufmerksamkeit sämtlicher Profi-Scouts und Berater erregt hat und unmittelbar davorsteht, einen amerikanischen College-Rekord zu übertreffen, versagt er kläglich. Jeder Wurf, zuvor traumwandlerisch ausgeführt, geht plötzlich daneben. Das Team, angeführt von Henrys Förderer Mike, steht vor einer Zerreißprobe: Soll es mit seinem Star, dem es fast alles verdankt, womöglich untergehen? Oder soll es dem Hochbegabten, der dem Druck offenbar nicht gewachsen ist, eine Zwangspause verordnen? Der Perfektionist, zumal der in sich gekehrte Henry, muss das Scheitern lernen. "Vielleicht war es nicht einmal Baseball, was er liebte, sondern nur diese Vorstellung von Perfektion, von einem ganz und gar einfachen Leben, in dem jede Bewegung zählte, und Baseball war nur das Medium, durch das er sein Ziel erreichen konnte." Solche Gedanken, solch eine Geschichte und so viel Weltgehalt in einem deutschen Roman über Fußball - auch das wäre eine Vorstellung von Perfektion.
kle.
Chad Harbach: "Die Kunst des Feldspiels". Roman aus dem Englischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. Dumont Buchverlag, Köln 2012. 607 Seiten, 22,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man muss Baseball nicht mögen, um diesen Roman zu lieben. Man kann dieses amerikanische Spiel, in dem scheinbar nicht viel passiert, sogar für einen langweiligen Zeitvertreib halten und trotzdem von diesem 600-Seiten-Wälzer mitgerissen werden. Obwohl sich in Chad Harbachs "Die Kunst des Feldspiels" vieles um Baseball dreht, geht die Geschichte weit übers Werfen, Fangen, Schlagen und Herumstehen hinaus: Sie handelt vom provinziellen College-Leben, vom Erwachsenwerden, von Liebe (auch gleichgeschlechtlicher), und vor allem behandelt sie Chancen, Risiken und Nebenwirkungen des Mannschaftssports im Allgemeinen. Von Freundschaften, wie sie der Sport stiften kann und gefährden. Vom Teamgeist und dessen Bedrohungen. Vom Athleten-Traum, im entscheidenden Wettkampf eine perfekte Leistung abzuliefern. Von Ausnahmekönnern, die an ihrem Talent zu zerbrechen drohen. Von Missbrauch von Schmerzmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln. Eingebunden in die Erfolgsstory des Collegeteams "Harpooners", das sich von einem Prügelknaben zum Meisterschaftsanwärter mausert, sind Sentenzen, die in ihrer Lakonie geradezu lehrhaft sind. Zum Beispiel jene über gutes Coaching, die sich auch Fußballtrainer wie Felix Magath an ihre Kabinentür heften können: "Ein guter Coach ließ jeden in der ihm gemäßen Weise leiden. Ein schlechter Coach ließ alle gleich leiden und war damit eher eine Art Folterknecht."
Leistungssport heißt Leiden. Das erfahren vor allem die beiden Freunde Henry, das schüchterne und schmächtige Supertalent, und Mike, sein Entdecker und verletzungsgeplagter Mitspieler. Als Henry, anfangs der Erfolgsgarant der "Harpooners", die Aufmerksamkeit sämtlicher Profi-Scouts und Berater erregt hat und unmittelbar davorsteht, einen amerikanischen College-Rekord zu übertreffen, versagt er kläglich. Jeder Wurf, zuvor traumwandlerisch ausgeführt, geht plötzlich daneben. Das Team, angeführt von Henrys Förderer Mike, steht vor einer Zerreißprobe: Soll es mit seinem Star, dem es fast alles verdankt, womöglich untergehen? Oder soll es dem Hochbegabten, der dem Druck offenbar nicht gewachsen ist, eine Zwangspause verordnen? Der Perfektionist, zumal der in sich gekehrte Henry, muss das Scheitern lernen. "Vielleicht war es nicht einmal Baseball, was er liebte, sondern nur diese Vorstellung von Perfektion, von einem ganz und gar einfachen Leben, in dem jede Bewegung zählte, und Baseball war nur das Medium, durch das er sein Ziel erreichen konnte." Solche Gedanken, solch eine Geschichte und so viel Weltgehalt in einem deutschen Roman über Fußball - auch das wäre eine Vorstellung von Perfektion.
kle.
Chad Harbach: "Die Kunst des Feldspiels". Roman aus dem Englischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. Dumont Buchverlag, Köln 2012. 607 Seiten, 22,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.08.2012Alles eine Frage der Beinarbeit
In den USA schaffte Chad Harbach mit seinem Campus-Roman „Die Kunst des Feldspiels“ auf Anhieb den Sprung in die Topliga der Literatur. Doch muss man wohl
Amerikaner sein, um dem Epos um einen Baseball-Helden mit angeknackstem Ego so viel abgewinnen zu können wie die Leser in der Neuen Welt
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Im amerikanischen Verständnis haben die Kunst des Feldspiels und die Kunst des Erzählens viel miteinander gemein. Die gefühlte Nähe von Baseball und Heldenepos kommt schon darin zum Ausdruck, dass ein „Home Run“ kurz „Homer“ genannt wird, wobei der Gleichklang mit dem Namen des alten Griechen wiederum zu allfälligen Vergleichen zwischen der antiken Götterwelt und den Heroen des Baseballs inspiriert.
Um einen Home Run zu erzielen, muss der eine, der Batter, den Ball des anderen, des Pitchers, mit dem Schläger so weit aus dem Feld dreschen, dass er genügend Zeit hat, alle vier Bases abzulaufen. Wenn er die Home Base erreicht, bevor es der gegnerischen Mannschaft gelingt, den Ball abzufangen und zurückzubefördern, gibt es dafür einen Punkt. Darum geht es bei diesem Spiel: Nach einer langen Reise, einer symbolischen Erdumrundung, wieder im Heimathafen einzulaufen. Und die Mannschaft, die es schafft, möglichst viele Männer von ihrer Odyssee wieder nach Hause zu holen, hat gewonnen. Ein homerischer Gesang, der nichts an Dramatik einbüßt, wenn nicht die Weltmeere sein Schauplatz sind, sondern ihm das amerikanische Binnengewässer als Kulisse dient. Und wenn der Speer eines Achill, des mythischen Recken aus der „Ilias“, zur profanen Harpune eines Walfängers schrumpft.
Die frei erfundene Geschichte dazu steht in Chad Harbachs Baseball-Roman „Die Kunst des Feldspiels“, der an diesem Dienstag auf Deutsch erscheint, und sie geht so: Als der Schriftsteller Herman Melville bereits zu alt und zu arm war, um noch einmal den Ozean zu überqueren, befuhr er die Great Lakes seiner Heimat. Auf dieser Reise machte er auch am Westish College Station und hielt dort eine Vorlesung, was allerdings schon bald in Vergessenheit geriet. Erst die Entdeckung eines Studenten und späteren Präsidenten des Colleges verhalf der kleinen Liberal Arts School am Westufer des Lake Michigan in den späten sechziger Jahren nachträglich zu einem Gründungsmythos. Eine Melville-Statue wurde auf dem Campus errichtet, und die Baseball-Mannschaft der Schule nannte sich fortan Westish Harpooners, Harpuniere, die laut ihrem Kampflied dem Ball unverzagt den Speer reinjagen.
Obwohl dem Sport in Westish keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt wird und das Baseball-Team bei den College-Meisterschaften regelmäßig den letzten Platz belegt, erstarrt ein schmächtiger Junge aus dem Mittleren Westen förmlich vor Ehrfurcht, als er zum ersten Mal in dem Trikot, dessen Emblem den Harpunier zeigt, auflaufen darf. Dieser Junge namens Henry Skrimshander ist ein hochbegabter Shortstop und gilt bereits als das größte Baseball-Talent seiner Generation, als er bei einem unbedeutenden Turnier von einem Westish-Spieler entdeckt wird und dieser ihm zu einem Stipendium an seinem College verhilft, in der Hoffnung, der Neuzugang werde die Mannschaft in eine glorreiche Zukunft führen.
Doch auch Henry, dieser wiedergeborene Achill, ist nicht unverwundbar. Als der begnadete Pitcher bei einem Spiel die Kontrolle über den Ball verliert, und sein Schmetterball nicht den Handschuh des Fängers erreicht, sondern einen Mitschüler auf der Ersatzbank mitten ins Gesicht trifft, der wie gefällt zusammensinkt, ist das ein Schock, der Henry in eine tiefe Krise stürzt: Er kann nicht mehr spielen, eine Tragödie, für die es in der Geschichte des Baseballs zahlreiche reale Vorläufer gibt. Der Fehlwurf bricht nicht nur einem begabten jungen Mann den Kiefer und befördert ihn ins Koma, er trifft zugleich das amerikanische Seelenleben, ruft traumatische Erinnerungen an ähnliche Fälle gebrochener Baseball-Helden wach.
Um die Bedeutung dieser Schlüsselszene in Chad Harbachs Roman zu ermessen, muss man wissen, dass Baseball in den Vereinigten Staaten quasi-religiöse Verehrung genießt und als Gleichnis der Selbstwahrnehmung nationaler Tugenden an zentrale Topoi der großen amerikanischen Erzählung rührt: Da ist der archaische Zweikampf zwischen dem Werfer und dem Schlagmann, David gegen Goliath, da gibt es den befreienden Schlag, der den Ball ins Unbekannte befördert, gewissermaßen bis zum Ende des Regenbogens, wo den Tüchtigen ein pot of gold erwartet – ein Bild für den unbeugsamen frontier spirit. Und da ist das Motiv der Heimkehr, der spirituellen Reise zu sich selbst, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft bekräftigt.
Vor allem aber ist es ein Regelwerk, das den Zufall nahezu ausschließt, und der Umstand, dass Taktik, Teamgeist und Technik über körperliche Voraussetzungen triumphieren, was diesen Sport zur Projektionsfläche werden ließ: Der Schlagmann mag ein nordeuropäischer Hüne sein, und doch kann er von einem zierlichen Puertoricaner mit brillanter Wurftechnik jederzeit zur Strecke gebracht werden. So symbolisiert Baseball das Ethos der Einwanderungsgesellschaft, in der jeder seinen Platz finden kann, und den uramerikanischen Glauben, dass es nichts als Selbstbeherrschung, Gottvertrauen und zwei gesunde Hände braucht, um sich die Natur untertan zu machen.
Diese Überhöhung ist der Grund, weshalb Baseball-Romane, wie sie auch Philip Roth („Amerikanisches Idyll“) oder Paul Auster („Von der Hand in den Mund“) geschrieben haben, in den USA ein seriöses Genre der Literatur darstellen, während es hierzulande stets nur anbiedernd und volkstümelnd wirkt, wenn Intellektuelle mit ihrer Fußball-Begeisterung kokettieren. Don DeLillo, der in seinem Monumentalroman „Unterwelt“ den nur wenige Sekunden dauernden Flug eines Balls bei einem legendären Home Run über acht Buchseiten hinweg dehnt und darin zugleich eine ganze Epoche Revue passieren lässt, bezeichnete Baseball einmal als eines der wenigen Dinge im amerikanischen Leben, die ein Gedächtnis besitzen.
Chad Harbach misst sich also an großen Vorbildern mit seinem Baseball-Roman, an dem er zehn Jahre geschrieben hat und für den er erst nach einigen Anläufen einen Agenten fand. Doch dann schlug die Stimmung plötzlich um, wurden 665 000 Dollar für das Debüt geboten. Seit seinem Erscheinen in den USA gilt „Die Kunst des Feldspiels“ als eines der besten Bücher des Jahres 2011 und war bei der Kritik und beim Publikum ein Überraschungserfolg. Aber auch hochmögende Schriftstellerkollegen lobten den Roman überschwänglich, der nun, versehen mit werbewirksamen Segenssprüchen von Jonathan Franzen und John Irving auf dem Umschlag, bei uns erscheint.
Man mag nur ungern den Kranz zerpflücken, den ihm die literarische Öffentlichkeit der USA geflochten hat, und trotzdem fällt es nicht ganz leicht, die transatlantische Begeisterung über diesen doch sehr behäbigen 600-Seiten-Roman im Retro-Look nachzuvollziehen. Gewiss ist die Unerschrockenheit zu bewundern, mit der Harbach das Baseball-Narrativ aufgreift, denn wer über Baseball schreibt, schreibt über das, was Amerika im Innersten zusammenhält. Das Baseballleder gleiche „Yin und Yang“, schreibt Harbach unumwunden, „zwei Stücke Unendlichkeit, zusammengenäht mit dem roten Garn der Liebe“. Doch die Schicksalsgemeinschaft, die ein Moment der Unaufmerksamkeit im Mikrokosmos des Campus verbindet, ist deutlich sichtbar mit dem Garn des Fleißes zusammengeflickt.
Als der tragische Unfall passiert, wird aus dem harten Baseball eine launische Roulette-Kugel, von einer Sekunde auf die nächste wendet sich das Glück. Die vorgezeichnete Lebensbahn von Henry Skrimshander, die gleich seinen präzisen Bällen wie an der Schnur gezogen ihr Ziel zu erreichen schien – erst der Sprung aus dem kleinbürgerlichen Mief an eine altehrwürdige Privatschule, dann die lukrativen Angebote der Talent-Scouts und Agenten aus dem ganzen Land, die ihm eine Bilderbuchkarriere prophezeien –, wird jäh unterbrochen. Henry fällt in eine Depression, er lässt sich gehen und den Dingen auch darin ihren Lauf, dass er fortan in der Badewanne stundenlang im eigenen Urin liegt. Er hat sich in Pellas WG eingenistet und findet in den Armen der Tochter von Rektor Affenlight ein wenig Trost-Sex, obwohl Pella mit Henrys Mentor und bestem Freund Mike zusammen ist, was die Rivalität zwischen den beiden zusätzlich befeuert.
Henry fühlt sich von Mike missbraucht, der ihn fördert und zugleich als sein Geschöpf betrachtet, während Henrys überragende Fähigkeiten Mike an seinem eigenen Talent zweifeln lassen. Dieser flüchtet sich in eine milde Alkohol- und Tablettenabhängigkeit, die er wiederum mit Pella teilt. Und auch sie muss sich von einem Pygmalion befreien. Aus der verfrühten Ehe mit einem Architekten von der Westküste entflieht sie nach Westish, um ihre abgebrochene Schullaufbahn wieder aufzunehmen und sich einstweilen im harten Frondienst der College-Küche zu läutern. Einerseits sieht sich ihr Dad, Guert Affenlight, nun unversehens auf seine Vaterrolle zurückgeworfen, andererseits hat er gerade zum zweiten Mal seine Jungfräulichkeit verloren. Mit über sechzig erlebt Guert sein Coming-out. Er hat sich in Owen, den Zimmergenossen von Henry verliebt, und findet, als Owen sich im Krankenhaus von seinen Verletzungen erholt, endlich den Mut zu sich selbst.
Affenlight ist mit Abstand der interessanteste, vielschichtigste Charakter des Romans mit seinem Witz, seiner Eleganz und seiner Liebe zu Dichtern wie Emerson und Whitman. Seine kleinen Extravaganzen – die teuren Krawatten, der weiße Audi, die heimlich gerauchten Parliaments-Zigaretten – verleihen diesem modernen Ahab Plastizität, einem Mann, harpuniert von der Liebe, die als Stachel in seinemFleisch steckt. Der in sich verkapselte Baseball-Autist Henry, der sich außerhalb des Spielfelds nicht äußern und nicht entäußern kann – klassische Helden waren noch stets schweigsam – lädt dagegen wenig zur Identifikation ein. Als Affenlights Homosexualität jedoch schließlich bei der College-Administration ruchbar wird, nimmt der Roman eine Wendung, über die man sehr geteilter Meinung sein kann.
Einerseits mag man sagen, es sei großherzig von dem Autor, dass er seiner Figur die Pein einer offiziellen Untersuchung ebenso erspart wie die zweifelhafte Aussicht, sich als romantischer Narr auf den Spuren von Thomas Manns Aschenbach allnächtlich in die Studentenbude seines jungen Geliebten zu stehlen. Andererseits kann man es auch als Feigheit vor dem Freund betrachten, wenn Harbach sich damit abfindet, dass Westish zwar eine liberal arts school sei, wie es heißt, aber so liberal nun auch wieder nicht, die Gesellschaft also noch nicht reif sei für offen gelebte Homosexualität. Einen Roman jedenfalls, der glaubt, seinen Lesern explizit erklären zu müssen, „dass Schwulsein keine Krankheit ist“, möchte man heute eigentlich nicht mehr lesen.
Natürlich ist „Die Kunst des Feldspiels“ eine Initiationsgeschichte, sie erzählt vom Erwachsenwerden und davon, wie man lernt, das Leben zu meistern. Leider beschränkt sich die Weisheit auf so banale Sätze wie: „Tja, Gefühle sind nun mal nicht rational“, wenn sie ihre Maximen nicht gleich aus dem überreichen Fundus der Baseball-Esoterik schöpft: „Spielen bedeutet Scheitern (. . .), niemand ist unfehlbar“. Hausbacken sind die Rezepte der Lebenshilfe: Pella erinnert sich ihrer quasi-natürlichen Rolle als Haus- und Kümmerfrau, indem sie in der Küche eine neue Erfüllung findet und den angeschlagenen Baseball-Kriegern die heilenden Kräfte ihrer Weiblichkeit zur Verfügung stellt. Und die jungen Männer tragen ihre Probleme ohnehin auf dem Baseball-Platz aus – wo auch sonst? „Vermutlich war es, wie die meisten Dinge im Leben, eine Frage der Beinarbeit“, lautet die passende Einsicht zur Krisenbewältigung.
All das wird in wahrhaft epischer Breite erzählt, kunstvoll gedrechselt und durchtränkt von einer nicht so sehr süffigen als nerdhaft klemmigen Menschelei, und ist gespickt mit literarischen Verweisen. Harbachs Wille zur Gediegenheit treibt überdies einige bürokratische Blüten, wenn er etwa eine kaputte Straße zum „nachlässig instand gehaltenen Highway“ veramtssprachlicht oder Pella in eine Gedankenblase schreibt: „ . . . und tatsächlich verspürte sie ein starkes Verlangen danach, das Geschirr abzuwaschen“. Literatur klingt anders. Und den Detail-Fimmel, ein Dogma der amerikanischen Literatur, treibt er manchmal bis zur Grenze des Nichtssagenden. Was zum Beispiel soll man sich unter dem „ursprünglichen Limabohnen-Ton“ einer Küchenspüle vorstellen? Und bei wie vielen Leser regt sich spontan freudiges Wiedererkennen, wenn es über ein Paar Frauenbeine heißt, dass sie an „hochglanzpolierte Brancusi-Vögel“ erinnern?
Auch die deutsche Übersetzung von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass schwelgt teilweise so sehr im Vintage-Rausch, dass sie sich von der Metaphorik über die Grenzen der Logik hinwegtragen lässt. Eine Formulierung wie „Pella spürte ein Flimmern trauriger Zwangsläufigkeit wie stets am Ende einer Reise“, kann man auch als Übersetzungsleistung nicht von Herzen geglückt nennen. Ebenso wenig funktionieren im Deutschen solche Bindestrichungetüme wie der „verzweifelte Verzieht-euch-endlich-Blick“ oder die „Ich-bin-so-mit-Schreiben-beschäftigt-dass-ich-nicht-mal-zum-Rasieren-komme-Kiste“.
Chad Harbach beschwört in „Die Kunst des Feldspiels“ noch einmal das gute Amerika, erinnert an die Kardinaltugenden, die das Land groß gemacht haben: Toleranz, gepaart mit Traditionsbewusstsein, Kampfesgeist, humanisiert durch Achtsamkeit – lobenswerte Eigenschaften eines Volks von Individualisten, die zugleich teamfähig sind, solidarisch und nicht unterzukriegen. Lägen die Anfänge dieses Romanprojekts nicht mehr als zehn Jahre zurück, man wäre geneigt, dieses amerikanische Idyll als eskapistische Reaktion auf die Krise zu verbuchen.
Doch zwischen dem Entwurf des Buches und seiner Veröffentlichung hat sich Amerika verändert: Es hat zwei Amtszeiten von George W. Bush hinter sich, 9/11, den Irak-Krieg und den wirtschaftlichen und ideellen Niedergang. Und so hat man eher den Eindruck, dass die Leser, die das Buch feiern, sich sentimentalisch an der verlorenen Unschuld erbauen, für die Baseball eine Metapher ist.
Hinzu kommt, dass der Ruf nach der „great american novel“ zum Breitensport der Literaturszene in den USA gehört und unterschiedliche Ansätze mit der Inbrunst eines Glaubenskriegs gegeneinander ausgespielt werden: Hier der Avantgardismus eines David Foster Wallace, dort die altmeisterliche Manier von Jonathan Franzen. Vor diesem Hintergrund nimmt sich Chad Harbach aus wie ein willkommenes Alibi für die angeblich überdauernden Kräfte des realistischen Erzählens, dessen Gesetze manchem so ehern dünken wie die Baseball-Regeln. Doch wirkt bei der Lektüre das literarische Hartholz des Sportler-Epos eher wie ein rettender Strohhalm der Selbstvergewisserung in verwirrender Zeit. Irgendwie muss Chad Harbach geahnt haben, dass nostalgisches Wunschdenken ihm beim Schreiben die Hand führte, denn im Roman definiert er die Postmoderne einmal als „eine Ära, in der selbst Sportler nur noch von Seelenqualen heimgesuchte Modernisten waren“.
Baseball ist kein Spiel,
es ist eine Ersatzreligion
Muss man heute noch erklären,
dass Schwule nicht krank sind?
In der Krise kommt das Buch
dem Kuschelbedürfnis entgegen
Chad Harbach, geboren 1975, wuchs in Wisconsin auf und lebt heute in Virginia. Er ist Redakteur der literarischen Zeitschrift n+1, die er gemeinsam mit Keith Gessen, Mark Greif und Benjamin Kunkel gegründet hat.
Foto: Beowulf Sheehan
Wie die Prinzipien von Yin und Yang greifen die Lederflecken des Balls ineinander: So hat das gewiss auch Billy Loes empfunden, der in den fünfziger Jahren für die Brooklyn Dodgers pitchte.
FOTO: HULTON ARCHIVE/GETTY IMAGES
Chad Harbach: Die Kunst des Feldspiels. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. DuMont Buchverlag, Köln 2012.
576 Seiten, 22,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In den USA schaffte Chad Harbach mit seinem Campus-Roman „Die Kunst des Feldspiels“ auf Anhieb den Sprung in die Topliga der Literatur. Doch muss man wohl
Amerikaner sein, um dem Epos um einen Baseball-Helden mit angeknackstem Ego so viel abgewinnen zu können wie die Leser in der Neuen Welt
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Im amerikanischen Verständnis haben die Kunst des Feldspiels und die Kunst des Erzählens viel miteinander gemein. Die gefühlte Nähe von Baseball und Heldenepos kommt schon darin zum Ausdruck, dass ein „Home Run“ kurz „Homer“ genannt wird, wobei der Gleichklang mit dem Namen des alten Griechen wiederum zu allfälligen Vergleichen zwischen der antiken Götterwelt und den Heroen des Baseballs inspiriert.
Um einen Home Run zu erzielen, muss der eine, der Batter, den Ball des anderen, des Pitchers, mit dem Schläger so weit aus dem Feld dreschen, dass er genügend Zeit hat, alle vier Bases abzulaufen. Wenn er die Home Base erreicht, bevor es der gegnerischen Mannschaft gelingt, den Ball abzufangen und zurückzubefördern, gibt es dafür einen Punkt. Darum geht es bei diesem Spiel: Nach einer langen Reise, einer symbolischen Erdumrundung, wieder im Heimathafen einzulaufen. Und die Mannschaft, die es schafft, möglichst viele Männer von ihrer Odyssee wieder nach Hause zu holen, hat gewonnen. Ein homerischer Gesang, der nichts an Dramatik einbüßt, wenn nicht die Weltmeere sein Schauplatz sind, sondern ihm das amerikanische Binnengewässer als Kulisse dient. Und wenn der Speer eines Achill, des mythischen Recken aus der „Ilias“, zur profanen Harpune eines Walfängers schrumpft.
Die frei erfundene Geschichte dazu steht in Chad Harbachs Baseball-Roman „Die Kunst des Feldspiels“, der an diesem Dienstag auf Deutsch erscheint, und sie geht so: Als der Schriftsteller Herman Melville bereits zu alt und zu arm war, um noch einmal den Ozean zu überqueren, befuhr er die Great Lakes seiner Heimat. Auf dieser Reise machte er auch am Westish College Station und hielt dort eine Vorlesung, was allerdings schon bald in Vergessenheit geriet. Erst die Entdeckung eines Studenten und späteren Präsidenten des Colleges verhalf der kleinen Liberal Arts School am Westufer des Lake Michigan in den späten sechziger Jahren nachträglich zu einem Gründungsmythos. Eine Melville-Statue wurde auf dem Campus errichtet, und die Baseball-Mannschaft der Schule nannte sich fortan Westish Harpooners, Harpuniere, die laut ihrem Kampflied dem Ball unverzagt den Speer reinjagen.
Obwohl dem Sport in Westish keine allzu große Aufmerksamkeit geschenkt wird und das Baseball-Team bei den College-Meisterschaften regelmäßig den letzten Platz belegt, erstarrt ein schmächtiger Junge aus dem Mittleren Westen förmlich vor Ehrfurcht, als er zum ersten Mal in dem Trikot, dessen Emblem den Harpunier zeigt, auflaufen darf. Dieser Junge namens Henry Skrimshander ist ein hochbegabter Shortstop und gilt bereits als das größte Baseball-Talent seiner Generation, als er bei einem unbedeutenden Turnier von einem Westish-Spieler entdeckt wird und dieser ihm zu einem Stipendium an seinem College verhilft, in der Hoffnung, der Neuzugang werde die Mannschaft in eine glorreiche Zukunft führen.
Doch auch Henry, dieser wiedergeborene Achill, ist nicht unverwundbar. Als der begnadete Pitcher bei einem Spiel die Kontrolle über den Ball verliert, und sein Schmetterball nicht den Handschuh des Fängers erreicht, sondern einen Mitschüler auf der Ersatzbank mitten ins Gesicht trifft, der wie gefällt zusammensinkt, ist das ein Schock, der Henry in eine tiefe Krise stürzt: Er kann nicht mehr spielen, eine Tragödie, für die es in der Geschichte des Baseballs zahlreiche reale Vorläufer gibt. Der Fehlwurf bricht nicht nur einem begabten jungen Mann den Kiefer und befördert ihn ins Koma, er trifft zugleich das amerikanische Seelenleben, ruft traumatische Erinnerungen an ähnliche Fälle gebrochener Baseball-Helden wach.
Um die Bedeutung dieser Schlüsselszene in Chad Harbachs Roman zu ermessen, muss man wissen, dass Baseball in den Vereinigten Staaten quasi-religiöse Verehrung genießt und als Gleichnis der Selbstwahrnehmung nationaler Tugenden an zentrale Topoi der großen amerikanischen Erzählung rührt: Da ist der archaische Zweikampf zwischen dem Werfer und dem Schlagmann, David gegen Goliath, da gibt es den befreienden Schlag, der den Ball ins Unbekannte befördert, gewissermaßen bis zum Ende des Regenbogens, wo den Tüchtigen ein pot of gold erwartet – ein Bild für den unbeugsamen frontier spirit. Und da ist das Motiv der Heimkehr, der spirituellen Reise zu sich selbst, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft bekräftigt.
Vor allem aber ist es ein Regelwerk, das den Zufall nahezu ausschließt, und der Umstand, dass Taktik, Teamgeist und Technik über körperliche Voraussetzungen triumphieren, was diesen Sport zur Projektionsfläche werden ließ: Der Schlagmann mag ein nordeuropäischer Hüne sein, und doch kann er von einem zierlichen Puertoricaner mit brillanter Wurftechnik jederzeit zur Strecke gebracht werden. So symbolisiert Baseball das Ethos der Einwanderungsgesellschaft, in der jeder seinen Platz finden kann, und den uramerikanischen Glauben, dass es nichts als Selbstbeherrschung, Gottvertrauen und zwei gesunde Hände braucht, um sich die Natur untertan zu machen.
Diese Überhöhung ist der Grund, weshalb Baseball-Romane, wie sie auch Philip Roth („Amerikanisches Idyll“) oder Paul Auster („Von der Hand in den Mund“) geschrieben haben, in den USA ein seriöses Genre der Literatur darstellen, während es hierzulande stets nur anbiedernd und volkstümelnd wirkt, wenn Intellektuelle mit ihrer Fußball-Begeisterung kokettieren. Don DeLillo, der in seinem Monumentalroman „Unterwelt“ den nur wenige Sekunden dauernden Flug eines Balls bei einem legendären Home Run über acht Buchseiten hinweg dehnt und darin zugleich eine ganze Epoche Revue passieren lässt, bezeichnete Baseball einmal als eines der wenigen Dinge im amerikanischen Leben, die ein Gedächtnis besitzen.
Chad Harbach misst sich also an großen Vorbildern mit seinem Baseball-Roman, an dem er zehn Jahre geschrieben hat und für den er erst nach einigen Anläufen einen Agenten fand. Doch dann schlug die Stimmung plötzlich um, wurden 665 000 Dollar für das Debüt geboten. Seit seinem Erscheinen in den USA gilt „Die Kunst des Feldspiels“ als eines der besten Bücher des Jahres 2011 und war bei der Kritik und beim Publikum ein Überraschungserfolg. Aber auch hochmögende Schriftstellerkollegen lobten den Roman überschwänglich, der nun, versehen mit werbewirksamen Segenssprüchen von Jonathan Franzen und John Irving auf dem Umschlag, bei uns erscheint.
Man mag nur ungern den Kranz zerpflücken, den ihm die literarische Öffentlichkeit der USA geflochten hat, und trotzdem fällt es nicht ganz leicht, die transatlantische Begeisterung über diesen doch sehr behäbigen 600-Seiten-Roman im Retro-Look nachzuvollziehen. Gewiss ist die Unerschrockenheit zu bewundern, mit der Harbach das Baseball-Narrativ aufgreift, denn wer über Baseball schreibt, schreibt über das, was Amerika im Innersten zusammenhält. Das Baseballleder gleiche „Yin und Yang“, schreibt Harbach unumwunden, „zwei Stücke Unendlichkeit, zusammengenäht mit dem roten Garn der Liebe“. Doch die Schicksalsgemeinschaft, die ein Moment der Unaufmerksamkeit im Mikrokosmos des Campus verbindet, ist deutlich sichtbar mit dem Garn des Fleißes zusammengeflickt.
Als der tragische Unfall passiert, wird aus dem harten Baseball eine launische Roulette-Kugel, von einer Sekunde auf die nächste wendet sich das Glück. Die vorgezeichnete Lebensbahn von Henry Skrimshander, die gleich seinen präzisen Bällen wie an der Schnur gezogen ihr Ziel zu erreichen schien – erst der Sprung aus dem kleinbürgerlichen Mief an eine altehrwürdige Privatschule, dann die lukrativen Angebote der Talent-Scouts und Agenten aus dem ganzen Land, die ihm eine Bilderbuchkarriere prophezeien –, wird jäh unterbrochen. Henry fällt in eine Depression, er lässt sich gehen und den Dingen auch darin ihren Lauf, dass er fortan in der Badewanne stundenlang im eigenen Urin liegt. Er hat sich in Pellas WG eingenistet und findet in den Armen der Tochter von Rektor Affenlight ein wenig Trost-Sex, obwohl Pella mit Henrys Mentor und bestem Freund Mike zusammen ist, was die Rivalität zwischen den beiden zusätzlich befeuert.
Henry fühlt sich von Mike missbraucht, der ihn fördert und zugleich als sein Geschöpf betrachtet, während Henrys überragende Fähigkeiten Mike an seinem eigenen Talent zweifeln lassen. Dieser flüchtet sich in eine milde Alkohol- und Tablettenabhängigkeit, die er wiederum mit Pella teilt. Und auch sie muss sich von einem Pygmalion befreien. Aus der verfrühten Ehe mit einem Architekten von der Westküste entflieht sie nach Westish, um ihre abgebrochene Schullaufbahn wieder aufzunehmen und sich einstweilen im harten Frondienst der College-Küche zu läutern. Einerseits sieht sich ihr Dad, Guert Affenlight, nun unversehens auf seine Vaterrolle zurückgeworfen, andererseits hat er gerade zum zweiten Mal seine Jungfräulichkeit verloren. Mit über sechzig erlebt Guert sein Coming-out. Er hat sich in Owen, den Zimmergenossen von Henry verliebt, und findet, als Owen sich im Krankenhaus von seinen Verletzungen erholt, endlich den Mut zu sich selbst.
Affenlight ist mit Abstand der interessanteste, vielschichtigste Charakter des Romans mit seinem Witz, seiner Eleganz und seiner Liebe zu Dichtern wie Emerson und Whitman. Seine kleinen Extravaganzen – die teuren Krawatten, der weiße Audi, die heimlich gerauchten Parliaments-Zigaretten – verleihen diesem modernen Ahab Plastizität, einem Mann, harpuniert von der Liebe, die als Stachel in seinemFleisch steckt. Der in sich verkapselte Baseball-Autist Henry, der sich außerhalb des Spielfelds nicht äußern und nicht entäußern kann – klassische Helden waren noch stets schweigsam – lädt dagegen wenig zur Identifikation ein. Als Affenlights Homosexualität jedoch schließlich bei der College-Administration ruchbar wird, nimmt der Roman eine Wendung, über die man sehr geteilter Meinung sein kann.
Einerseits mag man sagen, es sei großherzig von dem Autor, dass er seiner Figur die Pein einer offiziellen Untersuchung ebenso erspart wie die zweifelhafte Aussicht, sich als romantischer Narr auf den Spuren von Thomas Manns Aschenbach allnächtlich in die Studentenbude seines jungen Geliebten zu stehlen. Andererseits kann man es auch als Feigheit vor dem Freund betrachten, wenn Harbach sich damit abfindet, dass Westish zwar eine liberal arts school sei, wie es heißt, aber so liberal nun auch wieder nicht, die Gesellschaft also noch nicht reif sei für offen gelebte Homosexualität. Einen Roman jedenfalls, der glaubt, seinen Lesern explizit erklären zu müssen, „dass Schwulsein keine Krankheit ist“, möchte man heute eigentlich nicht mehr lesen.
Natürlich ist „Die Kunst des Feldspiels“ eine Initiationsgeschichte, sie erzählt vom Erwachsenwerden und davon, wie man lernt, das Leben zu meistern. Leider beschränkt sich die Weisheit auf so banale Sätze wie: „Tja, Gefühle sind nun mal nicht rational“, wenn sie ihre Maximen nicht gleich aus dem überreichen Fundus der Baseball-Esoterik schöpft: „Spielen bedeutet Scheitern (. . .), niemand ist unfehlbar“. Hausbacken sind die Rezepte der Lebenshilfe: Pella erinnert sich ihrer quasi-natürlichen Rolle als Haus- und Kümmerfrau, indem sie in der Küche eine neue Erfüllung findet und den angeschlagenen Baseball-Kriegern die heilenden Kräfte ihrer Weiblichkeit zur Verfügung stellt. Und die jungen Männer tragen ihre Probleme ohnehin auf dem Baseball-Platz aus – wo auch sonst? „Vermutlich war es, wie die meisten Dinge im Leben, eine Frage der Beinarbeit“, lautet die passende Einsicht zur Krisenbewältigung.
All das wird in wahrhaft epischer Breite erzählt, kunstvoll gedrechselt und durchtränkt von einer nicht so sehr süffigen als nerdhaft klemmigen Menschelei, und ist gespickt mit literarischen Verweisen. Harbachs Wille zur Gediegenheit treibt überdies einige bürokratische Blüten, wenn er etwa eine kaputte Straße zum „nachlässig instand gehaltenen Highway“ veramtssprachlicht oder Pella in eine Gedankenblase schreibt: „ . . . und tatsächlich verspürte sie ein starkes Verlangen danach, das Geschirr abzuwaschen“. Literatur klingt anders. Und den Detail-Fimmel, ein Dogma der amerikanischen Literatur, treibt er manchmal bis zur Grenze des Nichtssagenden. Was zum Beispiel soll man sich unter dem „ursprünglichen Limabohnen-Ton“ einer Küchenspüle vorstellen? Und bei wie vielen Leser regt sich spontan freudiges Wiedererkennen, wenn es über ein Paar Frauenbeine heißt, dass sie an „hochglanzpolierte Brancusi-Vögel“ erinnern?
Auch die deutsche Übersetzung von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass schwelgt teilweise so sehr im Vintage-Rausch, dass sie sich von der Metaphorik über die Grenzen der Logik hinwegtragen lässt. Eine Formulierung wie „Pella spürte ein Flimmern trauriger Zwangsläufigkeit wie stets am Ende einer Reise“, kann man auch als Übersetzungsleistung nicht von Herzen geglückt nennen. Ebenso wenig funktionieren im Deutschen solche Bindestrichungetüme wie der „verzweifelte Verzieht-euch-endlich-Blick“ oder die „Ich-bin-so-mit-Schreiben-beschäftigt-dass-ich-nicht-mal-zum-Rasieren-komme-Kiste“.
Chad Harbach beschwört in „Die Kunst des Feldspiels“ noch einmal das gute Amerika, erinnert an die Kardinaltugenden, die das Land groß gemacht haben: Toleranz, gepaart mit Traditionsbewusstsein, Kampfesgeist, humanisiert durch Achtsamkeit – lobenswerte Eigenschaften eines Volks von Individualisten, die zugleich teamfähig sind, solidarisch und nicht unterzukriegen. Lägen die Anfänge dieses Romanprojekts nicht mehr als zehn Jahre zurück, man wäre geneigt, dieses amerikanische Idyll als eskapistische Reaktion auf die Krise zu verbuchen.
Doch zwischen dem Entwurf des Buches und seiner Veröffentlichung hat sich Amerika verändert: Es hat zwei Amtszeiten von George W. Bush hinter sich, 9/11, den Irak-Krieg und den wirtschaftlichen und ideellen Niedergang. Und so hat man eher den Eindruck, dass die Leser, die das Buch feiern, sich sentimentalisch an der verlorenen Unschuld erbauen, für die Baseball eine Metapher ist.
Hinzu kommt, dass der Ruf nach der „great american novel“ zum Breitensport der Literaturszene in den USA gehört und unterschiedliche Ansätze mit der Inbrunst eines Glaubenskriegs gegeneinander ausgespielt werden: Hier der Avantgardismus eines David Foster Wallace, dort die altmeisterliche Manier von Jonathan Franzen. Vor diesem Hintergrund nimmt sich Chad Harbach aus wie ein willkommenes Alibi für die angeblich überdauernden Kräfte des realistischen Erzählens, dessen Gesetze manchem so ehern dünken wie die Baseball-Regeln. Doch wirkt bei der Lektüre das literarische Hartholz des Sportler-Epos eher wie ein rettender Strohhalm der Selbstvergewisserung in verwirrender Zeit. Irgendwie muss Chad Harbach geahnt haben, dass nostalgisches Wunschdenken ihm beim Schreiben die Hand führte, denn im Roman definiert er die Postmoderne einmal als „eine Ära, in der selbst Sportler nur noch von Seelenqualen heimgesuchte Modernisten waren“.
Baseball ist kein Spiel,
es ist eine Ersatzreligion
Muss man heute noch erklären,
dass Schwule nicht krank sind?
In der Krise kommt das Buch
dem Kuschelbedürfnis entgegen
Chad Harbach, geboren 1975, wuchs in Wisconsin auf und lebt heute in Virginia. Er ist Redakteur der literarischen Zeitschrift n+1, die er gemeinsam mit Keith Gessen, Mark Greif und Benjamin Kunkel gegründet hat.
Foto: Beowulf Sheehan
Wie die Prinzipien von Yin und Yang greifen die Lederflecken des Balls ineinander: So hat das gewiss auch Billy Loes empfunden, der in den fünfziger Jahren für die Brooklyn Dodgers pitchte.
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Chad Harbach: Die Kunst des Feldspiels. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner und Johann Christoph Maass. DuMont Buchverlag, Köln 2012.
576 Seiten, 22,90 Euro.
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