Ein Insider erklärt, warum all das, was Amerikas Bürger so sehr wollten - Kredite ohne Sicherheit, eigene Immobilien, schnelle Aktienprofite - erst möglich machte, was unmöglich schien. In dieser brillanten Analyse des Zusammenbruchs der amerikanischen Wirtschaft machen einige wichtige Menschen keine gute Figur. Und viele andere ein langes Gesicht...
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.07.2010Wenn keiner an die Krise glaubt, lohnt es erst recht, auf sie zu setzen
Dieses Buch wird man einmal zu den wichtigsten über die jüngste globale Finanzkrise zählen: Michael Lewis gibt Einblick in das Innenleben und den Arbeitsalltag der Banker und Investoren.
Michael Lewis erzählt in seinem neuen Buch von den Menschen, die früh erkannten, dass das Finanzsystem gefährdet ist - auch wenn sie das zuweilen gar nicht im Blick hatten. Charlie Ledley zum Beispiel. Sein erstes Semester am Amherst College lag gerade hinter ihm, da unterbrach er sein Studium, um als ehrenamtlicher Helfer den Präsidentschaftswahlkampf von Bill Clinton zu unterstützen. Mit der Börse, Finanzmärkten im Allgemeinen oder dem amerikanischen Hypothekenmarkt im Besonderen hatte er damals noch nichts zu tun. Auf dieses Terrain verschlug es ihn eher durch Zufall als durch Planung.
Mit einem Freund gründete Ledley eine kleine Anlagegesellschaft und interessierte sich vor allem für eines: Ereignisse, die von der erdrückenden Mehrheit aller Anleger, vulgo: dem "Markt", für so unwahrscheinlich gehalten werden, dass es vernachlässigbar wenig kostet, auf ihren Eintritt Geld zu setzen, um trotzdem einen satten Gewinn zu machen, wenn doch geschieht, womit zuvor niemand gerechnet hatte. Mit diesem Prinzip vor Augen - der amerikanische Risikoforscher Nicholas Nassim Taleb paraphrasierte es mit der Mahnung, dass mit der Entdeckung schwarzer Schwäne gerechnet werden muss - begann Ledley sich im Jahr 2006 für den amerikanischen Hypothekenmarkt zu interessieren.
In einer Präsentation las er, wie abenteuerlich viele Häuserkredite von amerikanischen Banken vergeben worden waren. Und wie die Kredite hernach von anderen, meist größeren Banken zu neuen Wertpapiergebilden zusammengebaut und weiterverkauft wurden. Die Börsenkurse an der Wall Street stiegen parallel dazu unbeirrt weiter, was so viel hieß wie: Der Markt glaubte, da werde schon nichts passieren. Ledley wählte ein anderes Szenarium. Er investierte in das Eintreten des großen Knalls, den Zusammenbruch. Nicht aus böser Absicht und natürlich auch nicht aufgrund einer seherischen Gabe, sondern schlicht und einfach, weil es sein Geschäftsmodell war, auf solche Szenarien zu setzen. So wurde Ledley zu einem derjenigen, die an der Krise verdienten, weil sie auf sie setzten.
Michael Lewis erzählt an Beispielen wie diesem, wie es zur bisher schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam - und davon, dass sich einige wenige durchaus gegen sie gewappnet hatten. Lewis liefert damit einen Einblick bis in den Lebensalltag, in die Mikroebene der ökonomischen Weltanschauung in einem Bereich, mit dem sich sogar - oder vor allem? - viele Wirtschaftswissenschaftler schwertun. Das gelingt ihm hervorragend. Weil er die Geschichten von Investoren, die Namen tragen wie Michael Burry oder Steve Eisman, nachvollziehbar nachzeichnet. Und weil er die Akteure überdies nicht auf das Handeln in einem speziellen Bereich des riesigen amerikanischen Finanzmarktes reduziert.
Lewis geht ein auf seine Protagonisten, schildert bisweilen Szenen ihrer Kindheit, zeigt, wie sie oftmals als Außenseiter aufwuchsen. Das Buch wirkt dadurch mitunter wie ein Roman, in dem durch die Interaktion der Helden mit ihrer Umwelt an vielen Stellen Porträtausschnitte der Gesellschaft entstehen, in der sie leben, und der Werte, die in ihr (nicht) gelten. Beinahe nebenbei erläutert Lewis die Konstruktion und Funktionsweise der im Nachhinein häufig wertlos gewordenen Wertpapiere und die Logik der Infrastruktur, auf der sie gehandelt worden waren.
Lewis knüpft mit diesem Buch überzeugend an seinen im Jahr 1989 erschienenen Bestseller "Liar's Poker" an, in dem er seine Leser bereits an die Wall Street mitgenommen hatte - in den mitunter absurden Alltag einer amerikanischen Investmentbank. Sein Vorteil war und ist, dass er selbst als Anleihehändler für eine Bank arbeitete. Er weiß deshalb, wovon er schreibt. Dass er sich auch dieses Mal nicht mit der Anprangerung des "Systems" zufriedengibt, sondern konkrete Geschichten erzählt und seinen Figuren oft das Wort erteilt, ist essentiell. Es macht dieses Buch, das sicher einmal zu den wichtigsten über die jüngste Finanzkrise gezählt werden wird, lebendig, und es erleichtert den Einblick in das Innenleben und die Antriebe seiner Hauptdarsteller.
Ob es eine bürgergesellschaftliche Pflicht all der Ledleys, Eismans und Burrys gewesen wäre, ihre Meinung über die Wirtschaftswirklichkeit (auch) anders kundzutun als bloß über ihre entsprechende Geldanlage, das ist eine Frage, die dem Leser bleibt. Und es ist offen, ob sie sich mit Rückgriff auf ethische Prinzipien beantworten lässt oder ob ein solcher Anspruch schlicht und einfach an der Finanzmarktrealität scheitert. Lewis lässt die letztere Einschätzung ansatzweise durchschimmern. "Es ist wirklich schwer zu erkennen, wann man Glück hat und wann man wirklich clever ist", sagt Charlie Ledley mitten im Buch einmal über sich selbst und über sein Geschäft. Der Satz ist wichtig, auch wenn er wie eine Binsenweisheit klingt und beinahe kindlich anmutet. Von der mit ihr getroffenen Unterscheidung hängt tatsächlich eine Menge ab. Nicht zuletzt auch an den Finanzmärkten.
ALEXANDER ARMBRUSTER
Michael Lewis: "The Big Short". Inside the Doomsday Machine. Penguin Press, London 2010. 288 S., geb., 16,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dieses Buch wird man einmal zu den wichtigsten über die jüngste globale Finanzkrise zählen: Michael Lewis gibt Einblick in das Innenleben und den Arbeitsalltag der Banker und Investoren.
Michael Lewis erzählt in seinem neuen Buch von den Menschen, die früh erkannten, dass das Finanzsystem gefährdet ist - auch wenn sie das zuweilen gar nicht im Blick hatten. Charlie Ledley zum Beispiel. Sein erstes Semester am Amherst College lag gerade hinter ihm, da unterbrach er sein Studium, um als ehrenamtlicher Helfer den Präsidentschaftswahlkampf von Bill Clinton zu unterstützen. Mit der Börse, Finanzmärkten im Allgemeinen oder dem amerikanischen Hypothekenmarkt im Besonderen hatte er damals noch nichts zu tun. Auf dieses Terrain verschlug es ihn eher durch Zufall als durch Planung.
Mit einem Freund gründete Ledley eine kleine Anlagegesellschaft und interessierte sich vor allem für eines: Ereignisse, die von der erdrückenden Mehrheit aller Anleger, vulgo: dem "Markt", für so unwahrscheinlich gehalten werden, dass es vernachlässigbar wenig kostet, auf ihren Eintritt Geld zu setzen, um trotzdem einen satten Gewinn zu machen, wenn doch geschieht, womit zuvor niemand gerechnet hatte. Mit diesem Prinzip vor Augen - der amerikanische Risikoforscher Nicholas Nassim Taleb paraphrasierte es mit der Mahnung, dass mit der Entdeckung schwarzer Schwäne gerechnet werden muss - begann Ledley sich im Jahr 2006 für den amerikanischen Hypothekenmarkt zu interessieren.
In einer Präsentation las er, wie abenteuerlich viele Häuserkredite von amerikanischen Banken vergeben worden waren. Und wie die Kredite hernach von anderen, meist größeren Banken zu neuen Wertpapiergebilden zusammengebaut und weiterverkauft wurden. Die Börsenkurse an der Wall Street stiegen parallel dazu unbeirrt weiter, was so viel hieß wie: Der Markt glaubte, da werde schon nichts passieren. Ledley wählte ein anderes Szenarium. Er investierte in das Eintreten des großen Knalls, den Zusammenbruch. Nicht aus böser Absicht und natürlich auch nicht aufgrund einer seherischen Gabe, sondern schlicht und einfach, weil es sein Geschäftsmodell war, auf solche Szenarien zu setzen. So wurde Ledley zu einem derjenigen, die an der Krise verdienten, weil sie auf sie setzten.
Michael Lewis erzählt an Beispielen wie diesem, wie es zur bisher schlimmsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kam - und davon, dass sich einige wenige durchaus gegen sie gewappnet hatten. Lewis liefert damit einen Einblick bis in den Lebensalltag, in die Mikroebene der ökonomischen Weltanschauung in einem Bereich, mit dem sich sogar - oder vor allem? - viele Wirtschaftswissenschaftler schwertun. Das gelingt ihm hervorragend. Weil er die Geschichten von Investoren, die Namen tragen wie Michael Burry oder Steve Eisman, nachvollziehbar nachzeichnet. Und weil er die Akteure überdies nicht auf das Handeln in einem speziellen Bereich des riesigen amerikanischen Finanzmarktes reduziert.
Lewis geht ein auf seine Protagonisten, schildert bisweilen Szenen ihrer Kindheit, zeigt, wie sie oftmals als Außenseiter aufwuchsen. Das Buch wirkt dadurch mitunter wie ein Roman, in dem durch die Interaktion der Helden mit ihrer Umwelt an vielen Stellen Porträtausschnitte der Gesellschaft entstehen, in der sie leben, und der Werte, die in ihr (nicht) gelten. Beinahe nebenbei erläutert Lewis die Konstruktion und Funktionsweise der im Nachhinein häufig wertlos gewordenen Wertpapiere und die Logik der Infrastruktur, auf der sie gehandelt worden waren.
Lewis knüpft mit diesem Buch überzeugend an seinen im Jahr 1989 erschienenen Bestseller "Liar's Poker" an, in dem er seine Leser bereits an die Wall Street mitgenommen hatte - in den mitunter absurden Alltag einer amerikanischen Investmentbank. Sein Vorteil war und ist, dass er selbst als Anleihehändler für eine Bank arbeitete. Er weiß deshalb, wovon er schreibt. Dass er sich auch dieses Mal nicht mit der Anprangerung des "Systems" zufriedengibt, sondern konkrete Geschichten erzählt und seinen Figuren oft das Wort erteilt, ist essentiell. Es macht dieses Buch, das sicher einmal zu den wichtigsten über die jüngste Finanzkrise gezählt werden wird, lebendig, und es erleichtert den Einblick in das Innenleben und die Antriebe seiner Hauptdarsteller.
Ob es eine bürgergesellschaftliche Pflicht all der Ledleys, Eismans und Burrys gewesen wäre, ihre Meinung über die Wirtschaftswirklichkeit (auch) anders kundzutun als bloß über ihre entsprechende Geldanlage, das ist eine Frage, die dem Leser bleibt. Und es ist offen, ob sie sich mit Rückgriff auf ethische Prinzipien beantworten lässt oder ob ein solcher Anspruch schlicht und einfach an der Finanzmarktrealität scheitert. Lewis lässt die letztere Einschätzung ansatzweise durchschimmern. "Es ist wirklich schwer zu erkennen, wann man Glück hat und wann man wirklich clever ist", sagt Charlie Ledley mitten im Buch einmal über sich selbst und über sein Geschäft. Der Satz ist wichtig, auch wenn er wie eine Binsenweisheit klingt und beinahe kindlich anmutet. Von der mit ihr getroffenen Unterscheidung hängt tatsächlich eine Menge ab. Nicht zuletzt auch an den Finanzmärkten.
ALEXANDER ARMBRUSTER
Michael Lewis: "The Big Short". Inside the Doomsday Machine. Penguin Press, London 2010. 288 S., geb., 16,95 [Euro].
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.12.2010Die großen
Helden
Wenn es ein Buch gibt, das die Wall Street beschreibt, wie sie wirklich ist, dann ist es dieses: „The Big Short“ von Michael Lewis. Es handelt von Spekulanten, die die Finanzkrise kommen sahen – und das schamlos ausnutzten. Warum auch nicht? Sie wollten Geld verdienen. Und wurden zu Helden.
Da ist zum Beispiel Steve Eismann, ein ätzender, aber fleißiger Rüpel, der Anleihen bewertet, die durch Ramsch-Hypotheken gedeckt sind. Eismann macht sich die Mühe, das Kleingedruckte bei hoch komplexen Finanzprodukten zu lesen. Die heißen CDO – die drei Buchstaben werden schließlich zum traurigen Synonym für die Probleme am US-Immobilienmarkt. „Der ganze Sinn der CDO war es, die Risiken schlechter Hypothekenkredite zu waschen, die die Firmen nicht offen und direkt verkaufen konnten“, schreibt Lewis. Und was macht Eismann? Er analysiert die Ramschkredite, die hinter den CDO stehen und wettet gegen sie. Kein Wunder, dass er in der Krise so viel verdient, wie die meisten anderen verlieren.
Jetzt kann man natürlich fragen, ob Lewis sich das Ganze ausgedacht hat oder ob es tatsächlich so war. Es war so. Der Finanzjournalist Lewis hat selbst erlebt, worüber er schreibt. Er ging nach dem Studium zu Salomon Brothers, jener Investmentbank, die sich in den achtziger Jahren den Ruf erwarb, besonders aggressiv und rücksichtslos zu agieren. Drei Jahre arbeitete Lewis dort. Dann kündigte er und schrieb sein erstes Buch: „Liar’s Poker“ (Deutsch: „Wall-Street-Poker“).
Seither sind die Spekulanten sein Thema, die wie Stars durch die Handelsräume dieser Welt ziehen. „The Big Short“ zeichnet ihr Handwerk nach. „To short“ bedeutet, auf den sinkenden Kurs eines Wertpapiers zu setzen. Eine Aktie lässt sich shorten, indem man sie „leer“ verkauft: Der Spekulant leiht sich das Papier und verkauft es zum gegenwärtigen Kurs in der Hoffnung, dass er es zu einem späteren Zeitpunkt zurückgeben kann. Eine Anleihe shortet man, wenn man darauf wettet, dass der Emittent pleitegeht. Und dazu braucht man ein Instrument mit drei Buchstaben: CDS. Genau damit beginnt die Geschichte des Big Short – und das Verständnis für das, was wir Finanzkrise nennen.
Alexander Mühlauer
Michael Lewis: The Big Short, Campus, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Helden
Wenn es ein Buch gibt, das die Wall Street beschreibt, wie sie wirklich ist, dann ist es dieses: „The Big Short“ von Michael Lewis. Es handelt von Spekulanten, die die Finanzkrise kommen sahen – und das schamlos ausnutzten. Warum auch nicht? Sie wollten Geld verdienen. Und wurden zu Helden.
Da ist zum Beispiel Steve Eismann, ein ätzender, aber fleißiger Rüpel, der Anleihen bewertet, die durch Ramsch-Hypotheken gedeckt sind. Eismann macht sich die Mühe, das Kleingedruckte bei hoch komplexen Finanzprodukten zu lesen. Die heißen CDO – die drei Buchstaben werden schließlich zum traurigen Synonym für die Probleme am US-Immobilienmarkt. „Der ganze Sinn der CDO war es, die Risiken schlechter Hypothekenkredite zu waschen, die die Firmen nicht offen und direkt verkaufen konnten“, schreibt Lewis. Und was macht Eismann? Er analysiert die Ramschkredite, die hinter den CDO stehen und wettet gegen sie. Kein Wunder, dass er in der Krise so viel verdient, wie die meisten anderen verlieren.
Jetzt kann man natürlich fragen, ob Lewis sich das Ganze ausgedacht hat oder ob es tatsächlich so war. Es war so. Der Finanzjournalist Lewis hat selbst erlebt, worüber er schreibt. Er ging nach dem Studium zu Salomon Brothers, jener Investmentbank, die sich in den achtziger Jahren den Ruf erwarb, besonders aggressiv und rücksichtslos zu agieren. Drei Jahre arbeitete Lewis dort. Dann kündigte er und schrieb sein erstes Buch: „Liar’s Poker“ (Deutsch: „Wall-Street-Poker“).
Seither sind die Spekulanten sein Thema, die wie Stars durch die Handelsräume dieser Welt ziehen. „The Big Short“ zeichnet ihr Handwerk nach. „To short“ bedeutet, auf den sinkenden Kurs eines Wertpapiers zu setzen. Eine Aktie lässt sich shorten, indem man sie „leer“ verkauft: Der Spekulant leiht sich das Papier und verkauft es zum gegenwärtigen Kurs in der Hoffnung, dass er es zu einem späteren Zeitpunkt zurückgeben kann. Eine Anleihe shortet man, wenn man darauf wettet, dass der Emittent pleitegeht. Und dazu braucht man ein Instrument mit drei Buchstaben: CDS. Genau damit beginnt die Geschichte des Big Short – und das Verständnis für das, was wir Finanzkrise nennen.
Alexander Mühlauer
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