In a revised edition of Morris' earlier work, which explored the realities behind the Palestinian exodus of 1948, fresh material considers battles, expulsions and atrocities that contributed to the disintegration of Palestinian communities. The story is harrowing. Refugees now number four million - their cause remains a major obstacle to peace.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2004Grobkörniges Bild
Der Wandel des israelischen Historikers Benny Morris
Ein Aufklärer wird zum Apologeten von Vertreibung und Kulturkampf. Das ist kurz gefasst der Fall des israelischen Historikers Benny Morris, dessen Buch über die Wurzeln des palästinensischen Flüchtlingsproblems bei seiner Erstveröffentlichung (1987) hohe Wellen schlug. Einst warfen ihm seine Gegner vor, über der akribischen Beschreibung der Sünden Israels die Verantwortung der arabischen Seite unterbelichtet zu lassen. Nun die radikale Wendung. Seit einiger Zeit macht Morris mit erschreckend einfachen Erklärungsmustern des Nahostkonflikts von sich reden.
Vorläufiger Höhepunkt: Ein Interview, das er Anfang des Jahres der Zeitung Haaretz gab, in dem sich der „neue” Benny Morris offenbarte, ohne doch den alten Gestus des gewissenhaften Historikers ganz aufzugeben. Noch immer weiß er akkurat die Anzahl der Toten aus den Massakern von Deir Yassin, Lod oder Dawayima zu nennen, doch ebenso fahrlässig und jedes Niveau unterschreitend verteidigt er Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 Palästinensern und bedauert, dass sie unvollendet geblieben sind: „Man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerbrechen.”
Mittlerweile ist die zweite Auflage seiner Flüchtlings-Studie erschienen, im Umfang um mehr als ein Drittel angewachsen. Erst jetzt zugänglich gewordene Dokumente ließen Morris das Thema noch einmal aufgreifen. Um Details ergänzt, beschreibt Morris die verschiedenen Phasen der Flucht nach der UN-Teilungsresolution (November 1947) und der sich daran anschließenden Kriegserklärung der arabischen Seite. Das große Bild ist das gleiche geblieben: Vertreibungen gab es in den ersten Monaten so gut wie nicht. Demoralisiert von der desaströsen wirtschaftlichen und politischen Lage und aus Angst vor den Angriffen der jüdischen Militärorganisation Haganah, war es zunächst die Ober- und Mittelschicht Palästinas, die floh. Das änderte sich erst im April 1948, als der Jishuv, die jüdische Gemeinschaft in Palästina, immer mehr um ihr Überleben kämpfen musste. Nun rückte der „Plan D” der Haganah in den Vordergrund, der die Vertreibung zwar nicht anordnete, aber als militärische Notwendigkeit ermöglichte.
Das Fazit von Morris nach Sichtung der neuen Dokumente: Es habe mehr Vertreibungen, Massaker und Vergewaltigungen durch die jüdische Seite gegeben als ursprünglich angenommen - aber auch mehr Anordnungen arabischer Führer an die Palästinenser, ihre Heimatorte zu verlassen. Hier ist Morris nach wie vor ganz der „objektiven Geschichte” verpflichtet, zu der er sich immer wieder bekannt hat. Die Gründe für seine Wandlung liegen woanders: in seinem Hang zu grobkörnigen Geschichtsdeutungen, der nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Camp David im Sommer 2000 zu neuer Blüte gelangt ist. Schon Mitte der neunziger Jahre übersahen viele Beobachter, dass er anders als viele Postzionisten die zionistischen „Sünden” nicht zur Delegitimierung des Staates Israel heranzog. Bereits damals bekannte er sich forsch zur Unvermeidlichkeit der Vertreibungen für die Entstehung des jüdischen Staates: „Es ist bedauerlich, dass dieser auf Kosten eines anderen Volkes gebaut wurde, aber das war eine Notwendigkeit der Realität.”
„Transfer” der Palästinenser
Paradoxerweise war es das Ungenügen an den holzschnittartigen Interpretationen der Gründergeneration, die Morris Forschung zur Flüchtlingsfrage und zum Nahostkonflikt anregte. Bis heute beschäftigt ihn die Frage, inwiefern der Vertreibungsgedanke im Zionismus verwurzelt ist. Das neue Kapitel zum Thema „Transfer” zeugt davon. Die Frage, die Morris dabei nach wie vor antreibt: Gab es einen Masterplan, der die Vertreibungen anleitete?
Die Antwortet lautet Nein. Die zionistische Führung hatte es stets vermieden, Ausweisungen als Mittel zur Lösung der jüdisch-arabischen Probleme öffentlich zu befürworten. Doch als Moralist interessiert sich Morris weniger für die offizielle Linie. Ihm geht es um das „wahre” Denken der Zionisten; darum, dass Ben Gurion eigentlich „immer schon” ein Transfer-Anhänger gewesen sei, was er anhand von nicht öffentlichen Äußerungen zu beweisen sucht. Mit diesem unpolitischen Ansatz kommt er zu der Erkenntnis: Der Vertreibungsgedanke war lange vor 1948 präsent und ist letztlich in der Idee des Zionismus selbst angelegt. Eine recht pauschale These, die die viel diskutierte (und geschichtlich nicht ganz erfolglose) Koexistenz-Idee ebenso unterschlägt wie die sozialistisch unterlegte und von postzionistischen Kreisen als „kolonialistisch” bezeichnete Fortschritts-Ideologie, mit der die Zionisten den Arabern Palästinas Wohlstand bringen wollten.
Die Zeiten sind vorbei, da Morris selbst bewiesen hat, dass man für die moralische Komplexität historischer Zusammenhänge sensibel sein und trotzdem zu deutlichen politischen Wertungen kommen kann. Dafür muss man aber über ein tragfähiges normatives Koordinatensystem verfügen, und eben dieses scheint Morris abhanden gekommen zu sein. Nach wie vor spricht er in postzionistischer Manier vom „Krieg von 1948” und stellt damit die moralische Dignität der üblichen Bezeichnung „Unabhängigkeitskrieg” in Frage - obwohl er doch die Entstehungsbedingungen dieser Unabhängigkeit uneingeschränkt akzeptiert.
Das Phänomen Morris erzählt davon, wie schnell der Wille zur absoluten Wahrheit in moralische Hybris umschlagen kann und wie schnell in einer Person der Historiker mit dem Zeitgenossen in Konflikt gerät. Die „Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems” ficht das als solide und gut geschriebene Studie nicht an. Gleichwohl, die Wertung historischer Zusammenhänge sollte man künftig anderen überlassen.
JULIA BRAUCH
BENNY MORRIS: The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited. 2. Aufl., Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2004. 640 Seiten, 45,60 Euro.
„Es ist bedauerlich, dass der Staat Israel auf Kosten eines anderen Volkes gebaut wurde”, stellt lakonisch Benny Morris fest: Eine Palästinenserin auf den Trümmern ihres Hauses im Flüchtlingslager Dschenin.
Foto: AP
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Der Wandel des israelischen Historikers Benny Morris
Ein Aufklärer wird zum Apologeten von Vertreibung und Kulturkampf. Das ist kurz gefasst der Fall des israelischen Historikers Benny Morris, dessen Buch über die Wurzeln des palästinensischen Flüchtlingsproblems bei seiner Erstveröffentlichung (1987) hohe Wellen schlug. Einst warfen ihm seine Gegner vor, über der akribischen Beschreibung der Sünden Israels die Verantwortung der arabischen Seite unterbelichtet zu lassen. Nun die radikale Wendung. Seit einiger Zeit macht Morris mit erschreckend einfachen Erklärungsmustern des Nahostkonflikts von sich reden.
Vorläufiger Höhepunkt: Ein Interview, das er Anfang des Jahres der Zeitung Haaretz gab, in dem sich der „neue” Benny Morris offenbarte, ohne doch den alten Gestus des gewissenhaften Historikers ganz aufzugeben. Noch immer weiß er akkurat die Anzahl der Toten aus den Massakern von Deir Yassin, Lod oder Dawayima zu nennen, doch ebenso fahrlässig und jedes Niveau unterschreitend verteidigt er Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 Palästinensern und bedauert, dass sie unvollendet geblieben sind: „Man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerbrechen.”
Mittlerweile ist die zweite Auflage seiner Flüchtlings-Studie erschienen, im Umfang um mehr als ein Drittel angewachsen. Erst jetzt zugänglich gewordene Dokumente ließen Morris das Thema noch einmal aufgreifen. Um Details ergänzt, beschreibt Morris die verschiedenen Phasen der Flucht nach der UN-Teilungsresolution (November 1947) und der sich daran anschließenden Kriegserklärung der arabischen Seite. Das große Bild ist das gleiche geblieben: Vertreibungen gab es in den ersten Monaten so gut wie nicht. Demoralisiert von der desaströsen wirtschaftlichen und politischen Lage und aus Angst vor den Angriffen der jüdischen Militärorganisation Haganah, war es zunächst die Ober- und Mittelschicht Palästinas, die floh. Das änderte sich erst im April 1948, als der Jishuv, die jüdische Gemeinschaft in Palästina, immer mehr um ihr Überleben kämpfen musste. Nun rückte der „Plan D” der Haganah in den Vordergrund, der die Vertreibung zwar nicht anordnete, aber als militärische Notwendigkeit ermöglichte.
Das Fazit von Morris nach Sichtung der neuen Dokumente: Es habe mehr Vertreibungen, Massaker und Vergewaltigungen durch die jüdische Seite gegeben als ursprünglich angenommen - aber auch mehr Anordnungen arabischer Führer an die Palästinenser, ihre Heimatorte zu verlassen. Hier ist Morris nach wie vor ganz der „objektiven Geschichte” verpflichtet, zu der er sich immer wieder bekannt hat. Die Gründe für seine Wandlung liegen woanders: in seinem Hang zu grobkörnigen Geschichtsdeutungen, der nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Camp David im Sommer 2000 zu neuer Blüte gelangt ist. Schon Mitte der neunziger Jahre übersahen viele Beobachter, dass er anders als viele Postzionisten die zionistischen „Sünden” nicht zur Delegitimierung des Staates Israel heranzog. Bereits damals bekannte er sich forsch zur Unvermeidlichkeit der Vertreibungen für die Entstehung des jüdischen Staates: „Es ist bedauerlich, dass dieser auf Kosten eines anderen Volkes gebaut wurde, aber das war eine Notwendigkeit der Realität.”
„Transfer” der Palästinenser
Paradoxerweise war es das Ungenügen an den holzschnittartigen Interpretationen der Gründergeneration, die Morris Forschung zur Flüchtlingsfrage und zum Nahostkonflikt anregte. Bis heute beschäftigt ihn die Frage, inwiefern der Vertreibungsgedanke im Zionismus verwurzelt ist. Das neue Kapitel zum Thema „Transfer” zeugt davon. Die Frage, die Morris dabei nach wie vor antreibt: Gab es einen Masterplan, der die Vertreibungen anleitete?
Die Antwortet lautet Nein. Die zionistische Führung hatte es stets vermieden, Ausweisungen als Mittel zur Lösung der jüdisch-arabischen Probleme öffentlich zu befürworten. Doch als Moralist interessiert sich Morris weniger für die offizielle Linie. Ihm geht es um das „wahre” Denken der Zionisten; darum, dass Ben Gurion eigentlich „immer schon” ein Transfer-Anhänger gewesen sei, was er anhand von nicht öffentlichen Äußerungen zu beweisen sucht. Mit diesem unpolitischen Ansatz kommt er zu der Erkenntnis: Der Vertreibungsgedanke war lange vor 1948 präsent und ist letztlich in der Idee des Zionismus selbst angelegt. Eine recht pauschale These, die die viel diskutierte (und geschichtlich nicht ganz erfolglose) Koexistenz-Idee ebenso unterschlägt wie die sozialistisch unterlegte und von postzionistischen Kreisen als „kolonialistisch” bezeichnete Fortschritts-Ideologie, mit der die Zionisten den Arabern Palästinas Wohlstand bringen wollten.
Die Zeiten sind vorbei, da Morris selbst bewiesen hat, dass man für die moralische Komplexität historischer Zusammenhänge sensibel sein und trotzdem zu deutlichen politischen Wertungen kommen kann. Dafür muss man aber über ein tragfähiges normatives Koordinatensystem verfügen, und eben dieses scheint Morris abhanden gekommen zu sein. Nach wie vor spricht er in postzionistischer Manier vom „Krieg von 1948” und stellt damit die moralische Dignität der üblichen Bezeichnung „Unabhängigkeitskrieg” in Frage - obwohl er doch die Entstehungsbedingungen dieser Unabhängigkeit uneingeschränkt akzeptiert.
Das Phänomen Morris erzählt davon, wie schnell der Wille zur absoluten Wahrheit in moralische Hybris umschlagen kann und wie schnell in einer Person der Historiker mit dem Zeitgenossen in Konflikt gerät. Die „Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems” ficht das als solide und gut geschriebene Studie nicht an. Gleichwohl, die Wertung historischer Zusammenhänge sollte man künftig anderen überlassen.
JULIA BRAUCH
BENNY MORRIS: The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited. 2. Aufl., Cambridge University Press, Cambridge u. a. 2004. 640 Seiten, 45,60 Euro.
„Es ist bedauerlich, dass der Staat Israel auf Kosten eines anderen Volkes gebaut wurde”, stellt lakonisch Benny Morris fest: Eine Palästinenserin auf den Trümmern ihres Hauses im Flüchtlingslager Dschenin.
Foto: AP
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'The book is thorough, shocking, and based upon the highest standard of historical research.' Journal of Peace Research