Produktdetails
- Verlag: Importtitel
- ISBN-13: 9780385720847
- Artikelnr.: 12910710
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2000Die himmlische
und die irdische Liebe
Margaret Atwoods großer Roman „Der blinde Mörder”
Der neue, ungewöhnlich rasch nach dem Erscheinen des Originals auch bei uns herausgekommene, von Brigitte Walitzek vorzüglich übersetzte Roman der Kanadierin Margaret Atwood ist trotz seines vielschichtigen Gehalts eine spannende Lektüre. Angelegt ist er als eine Art Wunder-Schachtel, in der immer neue kleinere, geheimnisvoll verpackte Schächtelchen und rätselhafte Hinweise zu weiterem Vordringen verlocken – bis man meint, der Sache auf den Grund gekommen zu sein, die Methode durchschaut zu haben, um dann zu entdecken, dass es gar keines Pudels eigentlichen Kern gibt, keine verborgene Schlüsselfigur, keinen überraschenden Eklat am Ende, dass wir ständig und mit verschiedenen Mitteln – Zeitungs-Meldungen aus dem Vermischten, Todesanzeigen von Personen, die wir noch gar nicht kennen, Passagen aus einem nachgelassenen Roman – auf dem Laufenden und in Spannung gehalten wurden, dass wir immer schon einiges wissen über die Figuren und Ereignisse, ehe diese wirklich auf- und eintreten und sich der endgültige Zusammenhang herstellt.
Vielleicht also ist das letzte Schächtelchen leer oder enthält nur wieder einen Hinweis auf die äußere Hülle der Wunderschachtel? Das Lesen entspräche dann ziemlich genau der Art, wie Margaret Atwood schreibt: Sie weiß, sagt sie einmal, wenn sie anfängt, schon einiges über ihre Figuren und deren Erfahrungen, „aber nicht zu viel, sonst wird es langweilig beim Schreiben”. Das Verfertigen von Vorstellungen beim Schreiben also. Und beim Lesen.
Das Buch präsentiert sich als Familien- und Gesellschaftsroman, aus dem Blickwinkel einer Generation, die gerade anfängt, historisch zu werden, das heißt, von der Bühne der Gegenwart abzutreten, und die vielleicht die letzte ist, die den Romanciers diesen bewährten Schauplatz anbietet. Die Ich-Erzählerin ist eine Frau von heute 83 Jahren, die aus zunächst nicht ganz ersichtlichen Gründen ihre täglichen Erfahrungen mit einem billigen Kugelschreiber in liniierte Schulhefte einträgt: Notizen über ihr Befinden, über Altersbeschwerden und Ärgernisse. Über das Unästhetische des Alterns, über emotionale Verluste. Unerbittlich und illusionslos, mit ungetrübter Geistesschärfe und oft makabrem Witz beobachtet und beschreibt sie sich selbst und ihr eingeschränktes menschliches Umfeld, driftet aus unscheinbarem und nicht erklärtem Anlass immer wieder in die Vergangenheit ab, fragt sich zwischenhinein: „Für wen schreibe ich das hier? Für mich selbst? Ich denke nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diese Seiten später noch einmal lese. . . Vielleicht schreibe ich für niemanden. Vielleicht für die selbe Person, für die Kinder schreiben, wenn sie ihre Namen in den Schnee krakeln. ” Sie hält sich an die Spur, die ihr Kugelschreiber auf dem Papier hinterlässt wie an einen Ariadnefaden, dem auch der Leser begierig folgt.
So entwickelt sich die Geschichte einer bürgerlichen Familie in einer kanadischen Provinzstadt – dem Hauptschauplatz des Romans – durch drei Generationen. Der Gründergroßvater Chase, der aus billigem Büffelhorn Knöpfe und aus Knöpfen Gold gemacht hat, ist ein rechtschaffener Mann. Der Großmutter, aus feinerem Holz geschnitzt, obliegt die gehobene Atmosphäre in der Jugendstilvilla „Avilion”, mit Anklängen an König-Artus-Mythen, Tassen aus handbemaltem Porzellan und Buntglasfenstern, auf denen Tristan und Isolde lieben und leiden. Die nächste Generation, drei Söhne, gerät in den Strudel des Ersten Weltkrieges (der Kanada als British Dominion nicht aussparte), zwei kommen darin um, der dritte kehrt, an Leib und Seele versehrt und verhärtet, aus dem erlebten Grauen zurück, übernimmt die Familienvaterrolle mehr schlecht als recht und die Leitung der Knopffabrik nach patriarchalischen Prinzipien, die angesichts der sozialen Notlage der Arbeiter nicht mehr ausreichen.
Zwei ungleiche Schwestern
Die beiden Töchter sind seit dem frühen Tod der Mutter nach einer Fehlgeburt der wackeren Reenie anvertraut: Haushälterin, Erzieherin, Ersatzmutter. Die puritanische Enge der Provinzgesellschaft, die prüde weibliche Rolle weitet sich in ihrer gut gemeinten Regie nicht, im Gegenteil. Die knappen wirtschaftlichen Verhältnisse schnüren die Familie noch mehr ein. Man beharrt auf Überliefertem. Man lernt nichts dazu. Laura, die Jüngere, ist auf ihrer eigenwilligen Suche nach Gott, sie will helfen und retten und auch sich opfern (was ihr schließlich gelingt); schon als Kind zeigt sie die rücksichtslose Konsequenz der unerschütterlich Überzeugten. Iris, die Ältere, bleibt dagegen lange blass und passiv. Sie beobachtet und nimmt hin, sie widersetzt sich auch nicht, als der kurz vor dem Ruin stehende Vater sie als Preis für die Rettung der Fabriken mit einem politisch ehrgeizigen und skrupellosen Geschäftsmann verehelicht. Ein übler Kuhhandel, den die mitgeheiratete Schwägerin, eine hyperaktive Schreckschraube, noch unerträglicher macht. Der bankrotte und längst dem Alkohol verfallene Vater überlebt das nicht. In der Ehe mit dem um einiges älteren Mann erscheint Iris als hübsches, kostspielig zum Vorzeigen aufgeputztes Sexobjekt, gerade noch jung genug für den Geschmack des Gatten, der sich dann an die Jüngere heranmacht. Das Verhältnis der Schwestern bleibt unausgesprochen. Erst in den Notizen, die sie als alte Frau schreibt, gewinnen Iris Substanz und Schärfe und ihr Leben eine oft quälende Deutlichkeit.
Es sind die dreißiger Jahre in Kanada. Margaret Atwood liefert ein dichtes, genau recherchiertes Zeitbild, ohne dass es aus dem Rahmen des Romans fällt: Kanada, der noch ursprünglichere, aber auch rückständige Nachbar der Vereinigten Staaten. Kanada nach dem Ersten Weltkrieg, der seinen erheblichen Tribut forderte, noch fest im Griff der großen Depression nach dem Börsenkrach von 1929: Arbeitslosigkeit, Proteste, Demonstrationen, Aufruhr, Aufstand der in elenden Verhältnissen lebenden Arbeiter gegen die Oberschicht, die Unternehmer, die – ausbeuterischen – Fabrikherren. Die Unruhe bricht sich zunächst an den Parkmauern um die bürgerliche Villa Chase, aber einmal schwappt sie doch hinüber und trägt den ahnungslosen Mädchen eine ungewöhnliche Figur zu, einen Mann nicht aus „ihren Kreisen”, mit dem sie ins Gespräch kommen. Es gibt ein Zufallsfoto von diesem „Picknick”, und auf diesem Foto lächelt eine sehr junge Frau, im Gras unter einem Baum sitzend, zu einem Mann hinauf, der einen hellen Hut trägt und die Hand wie zum Schutz gegen den Schuss aus der Kamera vor sein Gesicht hält. Der rechte Bildrand schneidet eine Hand am Handgelenk ab, sie gehört der Schwester des lächelnden Mädchens, der Anderen, die immer dabei ist. Der Mann, der wirklich existiert hat, ist ein als Waisenkind aufgewachsener begabter Bursche, ein engagierter Sozialist, ein Agitator für die gute Sache, der sich immer auf der Flucht befindet, sich mit kruden Serien für Billigmagazine über Wasser hält und enttäuscht feststellen muss, dass sie die Lieblingslektüre der Arbeiter sind, denen er Besseres zugedacht hat.
Vielleicht war also das letzte Schächtelchen doch nicht leer? Vielleicht haben wir in dem Foto den Auslöser des verschlungenen Romangeschehens, und vielleicht läuft die Familiengeschichte darauf hinaus, dass zwei ungleiche Schwestern denselben Mann lieben: die eine, Laura, leidenschaftlich und „rein” (als sie erfährt, dass er tot ist, stürzt sie sich mit dem Auto der Schwester über eine Brücke in den Fluss – das steckt hinter der Zeitungsnotiz von 1945 am Anfang des Romans) – die andere, Iris, leidenschaftlich und „ehebrecherisch”, wild und unersättlich. Sie wird ein Kind von ihm haben, seinen Tod überleben und außer den Lebensnotizen der Alten, den Roman mit dem Titel Der blinde Mörder schreiben, den sie unter dem Namen der toten Schwester Laura erscheinen lässt. Passagen daraus unterbrechen immer wieder den Lebensbericht der alten Frau: wüste und grausame Fantasy-Fantasien, Liebesszenen in schäbigen Hotels, in den schmutzigen Betten „konspirativer Wohnungen” und in einer krasseren Sprache, als der, die sie in der Jugendstilvilla gelernt hat.
Die Unerreichbare
Für wen schreibt sie die Notizen wirklich? Im Laufe dieses Lebensberichts tritt immer häufiger ein zaghaft angesprochenes Du auf. Es ist Sabrina, Iris’ „sich zurzeit in Indien aufhaltende” Enkelin, wie eine Zeitung meldet, die Tochter ihrer in Drogen und Alkohol untergegangenen Tochter Aimée. Und was erwartet Iris von ihr? „Nicht Liebe, das wäre zu viel verlangt. Nicht Vergebung, da du nicht diejenige bist, die sie gewähren kann. Nur ein Zuhören, vielleicht, nur jemand, der mich sehen wird. . . Wenn du diese letzte Seite liest, wird das – falls überhaupt – der einzige Ort sein, wo ich bin. ” Sie hofft und weiß zugleich, dass sich solche Hoffnungen nie erfüllen. Im Lokalblatt vom 29. Mai 1999 findet sich ein Nachruf auf sie. Sabrina ist nicht gekommen. Die Notizen liegen im Schiffskoffer für sie bereit.
Margaret Atwood ist nichts Menschliches fremd. Sie ist nicht zimperlich. Sie fasst ohne zu zögern in den Schmutz, sie hat keine Berührungsangst – etwa vor dem vulgären Genre der Kolportage – sie bedient sich seiner. Sie beobachtet nicht, sie nimmt wahr – das ist nicht das gleiche. Und ihr Wahrnehmungsvermögen ist phänomenal. Sie muss Panoramaaugen haben, wie gewisse Insekten. Ihr Gehör lässt sich nicht täuschen, überhört nichts. Geruch und Geschmack, die primitivsten der Sinne, bringen ihr Ungeahntes – auch Ekles und Grausiges – ein. Und sie bringt es zur Sprache, in eine Sprache die zupackt, sich ironisch distanziert und die Dichte des Gedichts zulässt. „Das Foto spricht von Glück, die Geschichte nicht. Glück ist ein von Glas umschlossener Garten: es gibt keinen Weg hinein oder hinaus. Im Paradies gibt es keine Geschichten, weil es keine Reisen gibt. Verlust und Bedauern, Unglück und Sehnsucht – sie treiben die Geschichte voran, auf ihrem gewundenen Weg. ”
KYRA STROMBERG
MARGARET ATWOOD: Der blinde Mörder. Roman. Deutsch von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag 2000, 694 S. , 48 Mark.
Margaret Atwood erzählt von drei Generationen einer bürgerlichen Familie in Kanada.
Foto: Isolde Ohlbaum
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
und die irdische Liebe
Margaret Atwoods großer Roman „Der blinde Mörder”
Der neue, ungewöhnlich rasch nach dem Erscheinen des Originals auch bei uns herausgekommene, von Brigitte Walitzek vorzüglich übersetzte Roman der Kanadierin Margaret Atwood ist trotz seines vielschichtigen Gehalts eine spannende Lektüre. Angelegt ist er als eine Art Wunder-Schachtel, in der immer neue kleinere, geheimnisvoll verpackte Schächtelchen und rätselhafte Hinweise zu weiterem Vordringen verlocken – bis man meint, der Sache auf den Grund gekommen zu sein, die Methode durchschaut zu haben, um dann zu entdecken, dass es gar keines Pudels eigentlichen Kern gibt, keine verborgene Schlüsselfigur, keinen überraschenden Eklat am Ende, dass wir ständig und mit verschiedenen Mitteln – Zeitungs-Meldungen aus dem Vermischten, Todesanzeigen von Personen, die wir noch gar nicht kennen, Passagen aus einem nachgelassenen Roman – auf dem Laufenden und in Spannung gehalten wurden, dass wir immer schon einiges wissen über die Figuren und Ereignisse, ehe diese wirklich auf- und eintreten und sich der endgültige Zusammenhang herstellt.
Vielleicht also ist das letzte Schächtelchen leer oder enthält nur wieder einen Hinweis auf die äußere Hülle der Wunderschachtel? Das Lesen entspräche dann ziemlich genau der Art, wie Margaret Atwood schreibt: Sie weiß, sagt sie einmal, wenn sie anfängt, schon einiges über ihre Figuren und deren Erfahrungen, „aber nicht zu viel, sonst wird es langweilig beim Schreiben”. Das Verfertigen von Vorstellungen beim Schreiben also. Und beim Lesen.
Das Buch präsentiert sich als Familien- und Gesellschaftsroman, aus dem Blickwinkel einer Generation, die gerade anfängt, historisch zu werden, das heißt, von der Bühne der Gegenwart abzutreten, und die vielleicht die letzte ist, die den Romanciers diesen bewährten Schauplatz anbietet. Die Ich-Erzählerin ist eine Frau von heute 83 Jahren, die aus zunächst nicht ganz ersichtlichen Gründen ihre täglichen Erfahrungen mit einem billigen Kugelschreiber in liniierte Schulhefte einträgt: Notizen über ihr Befinden, über Altersbeschwerden und Ärgernisse. Über das Unästhetische des Alterns, über emotionale Verluste. Unerbittlich und illusionslos, mit ungetrübter Geistesschärfe und oft makabrem Witz beobachtet und beschreibt sie sich selbst und ihr eingeschränktes menschliches Umfeld, driftet aus unscheinbarem und nicht erklärtem Anlass immer wieder in die Vergangenheit ab, fragt sich zwischenhinein: „Für wen schreibe ich das hier? Für mich selbst? Ich denke nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diese Seiten später noch einmal lese. . . Vielleicht schreibe ich für niemanden. Vielleicht für die selbe Person, für die Kinder schreiben, wenn sie ihre Namen in den Schnee krakeln. ” Sie hält sich an die Spur, die ihr Kugelschreiber auf dem Papier hinterlässt wie an einen Ariadnefaden, dem auch der Leser begierig folgt.
So entwickelt sich die Geschichte einer bürgerlichen Familie in einer kanadischen Provinzstadt – dem Hauptschauplatz des Romans – durch drei Generationen. Der Gründergroßvater Chase, der aus billigem Büffelhorn Knöpfe und aus Knöpfen Gold gemacht hat, ist ein rechtschaffener Mann. Der Großmutter, aus feinerem Holz geschnitzt, obliegt die gehobene Atmosphäre in der Jugendstilvilla „Avilion”, mit Anklängen an König-Artus-Mythen, Tassen aus handbemaltem Porzellan und Buntglasfenstern, auf denen Tristan und Isolde lieben und leiden. Die nächste Generation, drei Söhne, gerät in den Strudel des Ersten Weltkrieges (der Kanada als British Dominion nicht aussparte), zwei kommen darin um, der dritte kehrt, an Leib und Seele versehrt und verhärtet, aus dem erlebten Grauen zurück, übernimmt die Familienvaterrolle mehr schlecht als recht und die Leitung der Knopffabrik nach patriarchalischen Prinzipien, die angesichts der sozialen Notlage der Arbeiter nicht mehr ausreichen.
Zwei ungleiche Schwestern
Die beiden Töchter sind seit dem frühen Tod der Mutter nach einer Fehlgeburt der wackeren Reenie anvertraut: Haushälterin, Erzieherin, Ersatzmutter. Die puritanische Enge der Provinzgesellschaft, die prüde weibliche Rolle weitet sich in ihrer gut gemeinten Regie nicht, im Gegenteil. Die knappen wirtschaftlichen Verhältnisse schnüren die Familie noch mehr ein. Man beharrt auf Überliefertem. Man lernt nichts dazu. Laura, die Jüngere, ist auf ihrer eigenwilligen Suche nach Gott, sie will helfen und retten und auch sich opfern (was ihr schließlich gelingt); schon als Kind zeigt sie die rücksichtslose Konsequenz der unerschütterlich Überzeugten. Iris, die Ältere, bleibt dagegen lange blass und passiv. Sie beobachtet und nimmt hin, sie widersetzt sich auch nicht, als der kurz vor dem Ruin stehende Vater sie als Preis für die Rettung der Fabriken mit einem politisch ehrgeizigen und skrupellosen Geschäftsmann verehelicht. Ein übler Kuhhandel, den die mitgeheiratete Schwägerin, eine hyperaktive Schreckschraube, noch unerträglicher macht. Der bankrotte und längst dem Alkohol verfallene Vater überlebt das nicht. In der Ehe mit dem um einiges älteren Mann erscheint Iris als hübsches, kostspielig zum Vorzeigen aufgeputztes Sexobjekt, gerade noch jung genug für den Geschmack des Gatten, der sich dann an die Jüngere heranmacht. Das Verhältnis der Schwestern bleibt unausgesprochen. Erst in den Notizen, die sie als alte Frau schreibt, gewinnen Iris Substanz und Schärfe und ihr Leben eine oft quälende Deutlichkeit.
Es sind die dreißiger Jahre in Kanada. Margaret Atwood liefert ein dichtes, genau recherchiertes Zeitbild, ohne dass es aus dem Rahmen des Romans fällt: Kanada, der noch ursprünglichere, aber auch rückständige Nachbar der Vereinigten Staaten. Kanada nach dem Ersten Weltkrieg, der seinen erheblichen Tribut forderte, noch fest im Griff der großen Depression nach dem Börsenkrach von 1929: Arbeitslosigkeit, Proteste, Demonstrationen, Aufruhr, Aufstand der in elenden Verhältnissen lebenden Arbeiter gegen die Oberschicht, die Unternehmer, die – ausbeuterischen – Fabrikherren. Die Unruhe bricht sich zunächst an den Parkmauern um die bürgerliche Villa Chase, aber einmal schwappt sie doch hinüber und trägt den ahnungslosen Mädchen eine ungewöhnliche Figur zu, einen Mann nicht aus „ihren Kreisen”, mit dem sie ins Gespräch kommen. Es gibt ein Zufallsfoto von diesem „Picknick”, und auf diesem Foto lächelt eine sehr junge Frau, im Gras unter einem Baum sitzend, zu einem Mann hinauf, der einen hellen Hut trägt und die Hand wie zum Schutz gegen den Schuss aus der Kamera vor sein Gesicht hält. Der rechte Bildrand schneidet eine Hand am Handgelenk ab, sie gehört der Schwester des lächelnden Mädchens, der Anderen, die immer dabei ist. Der Mann, der wirklich existiert hat, ist ein als Waisenkind aufgewachsener begabter Bursche, ein engagierter Sozialist, ein Agitator für die gute Sache, der sich immer auf der Flucht befindet, sich mit kruden Serien für Billigmagazine über Wasser hält und enttäuscht feststellen muss, dass sie die Lieblingslektüre der Arbeiter sind, denen er Besseres zugedacht hat.
Vielleicht war also das letzte Schächtelchen doch nicht leer? Vielleicht haben wir in dem Foto den Auslöser des verschlungenen Romangeschehens, und vielleicht läuft die Familiengeschichte darauf hinaus, dass zwei ungleiche Schwestern denselben Mann lieben: die eine, Laura, leidenschaftlich und „rein” (als sie erfährt, dass er tot ist, stürzt sie sich mit dem Auto der Schwester über eine Brücke in den Fluss – das steckt hinter der Zeitungsnotiz von 1945 am Anfang des Romans) – die andere, Iris, leidenschaftlich und „ehebrecherisch”, wild und unersättlich. Sie wird ein Kind von ihm haben, seinen Tod überleben und außer den Lebensnotizen der Alten, den Roman mit dem Titel Der blinde Mörder schreiben, den sie unter dem Namen der toten Schwester Laura erscheinen lässt. Passagen daraus unterbrechen immer wieder den Lebensbericht der alten Frau: wüste und grausame Fantasy-Fantasien, Liebesszenen in schäbigen Hotels, in den schmutzigen Betten „konspirativer Wohnungen” und in einer krasseren Sprache, als der, die sie in der Jugendstilvilla gelernt hat.
Die Unerreichbare
Für wen schreibt sie die Notizen wirklich? Im Laufe dieses Lebensberichts tritt immer häufiger ein zaghaft angesprochenes Du auf. Es ist Sabrina, Iris’ „sich zurzeit in Indien aufhaltende” Enkelin, wie eine Zeitung meldet, die Tochter ihrer in Drogen und Alkohol untergegangenen Tochter Aimée. Und was erwartet Iris von ihr? „Nicht Liebe, das wäre zu viel verlangt. Nicht Vergebung, da du nicht diejenige bist, die sie gewähren kann. Nur ein Zuhören, vielleicht, nur jemand, der mich sehen wird. . . Wenn du diese letzte Seite liest, wird das – falls überhaupt – der einzige Ort sein, wo ich bin. ” Sie hofft und weiß zugleich, dass sich solche Hoffnungen nie erfüllen. Im Lokalblatt vom 29. Mai 1999 findet sich ein Nachruf auf sie. Sabrina ist nicht gekommen. Die Notizen liegen im Schiffskoffer für sie bereit.
Margaret Atwood ist nichts Menschliches fremd. Sie ist nicht zimperlich. Sie fasst ohne zu zögern in den Schmutz, sie hat keine Berührungsangst – etwa vor dem vulgären Genre der Kolportage – sie bedient sich seiner. Sie beobachtet nicht, sie nimmt wahr – das ist nicht das gleiche. Und ihr Wahrnehmungsvermögen ist phänomenal. Sie muss Panoramaaugen haben, wie gewisse Insekten. Ihr Gehör lässt sich nicht täuschen, überhört nichts. Geruch und Geschmack, die primitivsten der Sinne, bringen ihr Ungeahntes – auch Ekles und Grausiges – ein. Und sie bringt es zur Sprache, in eine Sprache die zupackt, sich ironisch distanziert und die Dichte des Gedichts zulässt. „Das Foto spricht von Glück, die Geschichte nicht. Glück ist ein von Glas umschlossener Garten: es gibt keinen Weg hinein oder hinaus. Im Paradies gibt es keine Geschichten, weil es keine Reisen gibt. Verlust und Bedauern, Unglück und Sehnsucht – sie treiben die Geschichte voran, auf ihrem gewundenen Weg. ”
KYRA STROMBERG
MARGARET ATWOOD: Der blinde Mörder. Roman. Deutsch von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag 2000, 694 S. , 48 Mark.
Margaret Atwood erzählt von drei Generationen einer bürgerlichen Familie in Kanada.
Foto: Isolde Ohlbaum
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