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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2000

Die himmlische
und die irdische Liebe
Margaret Atwoods großer Roman „Der blinde Mörder”
Der neue, ungewöhnlich rasch nach dem Erscheinen des Originals auch bei uns herausgekommene, von Brigitte Walitzek vorzüglich übersetzte Roman der Kanadierin Margaret Atwood ist trotz seines vielschichtigen Gehalts eine spannende Lektüre. Angelegt ist er als eine Art Wunder-Schachtel, in der immer neue kleinere, geheimnisvoll verpackte Schächtelchen und rätselhafte Hinweise zu weiterem Vordringen verlocken – bis man meint, der Sache auf den Grund gekommen zu sein, die Methode durchschaut zu haben, um dann zu entdecken, dass es gar keines Pudels eigentlichen Kern gibt, keine verborgene Schlüsselfigur, keinen überraschenden Eklat am Ende, dass wir ständig und mit verschiedenen Mitteln – Zeitungs-Meldungen aus dem Vermischten, Todesanzeigen von Personen, die wir noch gar nicht kennen, Passagen aus einem nachgelassenen Roman – auf dem Laufenden und in Spannung gehalten wurden, dass wir immer schon einiges wissen über die Figuren und Ereignisse, ehe diese wirklich auf- und eintreten und sich der endgültige Zusammenhang herstellt.
Vielleicht also ist das letzte Schächtelchen leer oder enthält nur wieder einen Hinweis auf die äußere Hülle der Wunderschachtel? Das Lesen entspräche dann ziemlich genau der Art, wie Margaret Atwood schreibt: Sie weiß, sagt sie einmal, wenn sie anfängt, schon einiges über ihre Figuren und deren Erfahrungen, „aber nicht zu viel, sonst wird es langweilig beim Schreiben”. Das Verfertigen von Vorstellungen beim Schreiben also. Und beim Lesen.
Das Buch präsentiert sich als Familien- und Gesellschaftsroman, aus dem Blickwinkel einer Generation, die gerade anfängt, historisch zu werden, das heißt, von der Bühne der Gegenwart abzutreten, und die vielleicht die letzte ist, die den Romanciers diesen bewährten Schauplatz anbietet. Die Ich-Erzählerin ist eine Frau von heute 83 Jahren, die aus zunächst nicht ganz ersichtlichen Gründen ihre täglichen Erfahrungen mit einem billigen Kugelschreiber in liniierte Schulhefte einträgt: Notizen über ihr Befinden, über Altersbeschwerden und Ärgernisse. Über das Unästhetische des Alterns, über emotionale Verluste. Unerbittlich und illusionslos, mit ungetrübter Geistesschärfe und oft makabrem Witz beobachtet und beschreibt sie sich selbst und ihr eingeschränktes menschliches Umfeld, driftet aus unscheinbarem und nicht erklärtem Anlass immer wieder in die Vergangenheit ab, fragt sich zwischenhinein: „Für wen schreibe ich das hier? Für mich selbst? Ich denke nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich diese Seiten später noch einmal lese. . . Vielleicht schreibe ich für niemanden. Vielleicht für die selbe Person, für die Kinder schreiben, wenn sie ihre Namen in den Schnee krakeln. ” Sie hält sich an die Spur, die ihr Kugelschreiber auf dem Papier hinterlässt wie an einen Ariadnefaden, dem auch der Leser begierig folgt.
So entwickelt sich die Geschichte einer bürgerlichen Familie in einer kanadischen Provinzstadt – dem Hauptschauplatz des Romans – durch drei Generationen. Der Gründergroßvater Chase, der aus billigem Büffelhorn Knöpfe und aus Knöpfen Gold gemacht hat, ist ein rechtschaffener Mann. Der Großmutter, aus feinerem Holz geschnitzt, obliegt die gehobene Atmosphäre in der Jugendstilvilla „Avilion”, mit Anklängen an König-Artus-Mythen, Tassen aus handbemaltem Porzellan und Buntglasfenstern, auf denen Tristan und Isolde lieben und leiden. Die nächste Generation, drei Söhne, gerät in den Strudel des Ersten Weltkrieges (der Kanada als British Dominion nicht aussparte), zwei kommen darin um, der dritte kehrt, an Leib und Seele versehrt und verhärtet, aus dem erlebten Grauen zurück, übernimmt die Familienvaterrolle mehr schlecht als recht und die Leitung der Knopffabrik nach patriarchalischen Prinzipien, die angesichts der sozialen Notlage der Arbeiter nicht mehr ausreichen.
Zwei ungleiche Schwestern
Die beiden Töchter sind seit dem frühen Tod der Mutter nach einer Fehlgeburt der wackeren Reenie anvertraut: Haushälterin, Erzieherin, Ersatzmutter. Die puritanische Enge der Provinzgesellschaft, die prüde weibliche Rolle weitet sich in ihrer gut gemeinten Regie nicht, im Gegenteil. Die knappen wirtschaftlichen Verhältnisse schnüren die Familie noch mehr ein. Man beharrt auf Überliefertem. Man lernt nichts dazu. Laura, die Jüngere, ist auf ihrer eigenwilligen Suche nach Gott, sie will helfen und retten und auch sich opfern (was ihr schließlich gelingt); schon als Kind zeigt sie die rücksichtslose Konsequenz der unerschütterlich Überzeugten. Iris, die Ältere, bleibt dagegen lange blass und passiv. Sie beobachtet und nimmt hin, sie widersetzt sich auch nicht, als der kurz vor dem Ruin stehende Vater sie als Preis für die Rettung der Fabriken mit einem politisch ehrgeizigen und skrupellosen Geschäftsmann verehelicht. Ein übler Kuhhandel, den die mitgeheiratete Schwägerin, eine hyperaktive Schreckschraube, noch unerträglicher macht. Der bankrotte und längst dem Alkohol verfallene Vater überlebt das nicht. In der Ehe mit dem um einiges älteren Mann erscheint Iris als hübsches, kostspielig zum Vorzeigen aufgeputztes Sexobjekt, gerade noch jung genug für den Geschmack des Gatten, der sich dann an die Jüngere heranmacht. Das Verhältnis der Schwestern bleibt unausgesprochen. Erst in den Notizen, die sie als alte Frau schreibt, gewinnen Iris Substanz und Schärfe und ihr Leben eine oft quälende Deutlichkeit.
Es sind die dreißiger Jahre in Kanada. Margaret Atwood liefert ein dichtes, genau recherchiertes Zeitbild, ohne dass es aus dem Rahmen des Romans fällt: Kanada, der noch ursprünglichere, aber auch rückständige Nachbar der Vereinigten Staaten. Kanada nach dem Ersten Weltkrieg, der seinen erheblichen Tribut forderte, noch fest im Griff der großen Depression nach dem Börsenkrach von 1929: Arbeitslosigkeit, Proteste, Demonstrationen, Aufruhr, Aufstand der in elenden Verhältnissen lebenden Arbeiter gegen die Oberschicht, die Unternehmer, die – ausbeuterischen – Fabrikherren. Die Unruhe bricht sich zunächst an den Parkmauern um die bürgerliche Villa Chase, aber einmal schwappt sie doch hinüber und trägt den ahnungslosen Mädchen eine ungewöhnliche Figur zu, einen Mann nicht aus „ihren Kreisen”, mit dem sie ins Gespräch kommen. Es gibt ein Zufallsfoto von diesem „Picknick”, und auf diesem Foto lächelt eine sehr junge Frau, im Gras unter einem Baum sitzend, zu einem Mann hinauf, der einen hellen Hut trägt und die Hand wie zum Schutz gegen den Schuss aus der Kamera vor sein Gesicht hält. Der rechte Bildrand schneidet eine Hand am Handgelenk ab, sie gehört der Schwester des lächelnden Mädchens, der Anderen, die immer dabei ist. Der Mann, der wirklich existiert hat, ist ein als Waisenkind aufgewachsener begabter Bursche, ein engagierter Sozialist, ein Agitator für die gute Sache, der sich immer auf der Flucht befindet, sich mit kruden Serien für Billigmagazine über Wasser hält und enttäuscht feststellen muss, dass sie die Lieblingslektüre der Arbeiter sind, denen er Besseres zugedacht hat.
Vielleicht war also das letzte Schächtelchen doch nicht leer? Vielleicht haben wir in dem Foto den Auslöser des verschlungenen Romangeschehens, und vielleicht läuft die Familiengeschichte darauf hinaus, dass zwei ungleiche Schwestern denselben Mann lieben: die eine, Laura, leidenschaftlich und „rein” (als sie erfährt, dass er tot ist, stürzt sie sich mit dem Auto der Schwester über eine Brücke in den Fluss – das steckt hinter der Zeitungsnotiz von 1945 am Anfang des Romans) – die andere, Iris, leidenschaftlich und „ehebrecherisch”, wild und unersättlich. Sie wird ein Kind von ihm haben, seinen Tod überleben und außer den Lebensnotizen der Alten, den Roman mit dem Titel Der blinde Mörder schreiben, den sie unter dem Namen der toten Schwester Laura erscheinen lässt. Passagen daraus unterbrechen immer wieder den Lebensbericht der alten Frau: wüste und grausame Fantasy-Fantasien, Liebesszenen in schäbigen Hotels, in den schmutzigen Betten „konspirativer Wohnungen” und in einer krasseren Sprache, als der, die sie in der Jugendstilvilla gelernt hat.
Die Unerreichbare
Für wen schreibt sie die Notizen wirklich? Im Laufe dieses Lebensberichts tritt immer häufiger ein zaghaft angesprochenes Du auf. Es ist Sabrina, Iris’ „sich zurzeit in Indien aufhaltende” Enkelin, wie eine Zeitung meldet, die Tochter ihrer in Drogen und Alkohol untergegangenen Tochter Aimée. Und was erwartet Iris von ihr? „Nicht Liebe, das wäre zu viel verlangt. Nicht Vergebung, da du nicht diejenige bist, die sie gewähren kann. Nur ein Zuhören, vielleicht, nur jemand, der mich sehen wird. . . Wenn du diese letzte Seite liest, wird das – falls überhaupt – der einzige Ort sein, wo ich bin. ” Sie hofft und weiß zugleich, dass sich solche Hoffnungen nie erfüllen. Im Lokalblatt vom 29. Mai 1999 findet sich ein Nachruf auf sie. Sabrina ist nicht gekommen. Die Notizen liegen im Schiffskoffer für sie bereit.
Margaret Atwood ist nichts Menschliches fremd. Sie ist nicht zimperlich. Sie fasst ohne zu zögern in den Schmutz, sie hat keine Berührungsangst – etwa vor dem vulgären Genre der Kolportage – sie bedient sich seiner. Sie beobachtet nicht, sie nimmt wahr – das ist nicht das gleiche. Und ihr Wahrnehmungsvermögen ist phänomenal. Sie muss Panoramaaugen haben, wie gewisse Insekten. Ihr Gehör lässt sich nicht täuschen, überhört nichts. Geruch und Geschmack, die primitivsten der Sinne, bringen ihr Ungeahntes – auch Ekles und Grausiges – ein. Und sie bringt es zur Sprache, in eine Sprache die zupackt, sich ironisch distanziert und die Dichte des Gedichts zulässt. „Das Foto spricht von Glück, die Geschichte nicht. Glück ist ein von Glas umschlossener Garten: es gibt keinen Weg hinein oder hinaus. Im Paradies gibt es keine Geschichten, weil es keine Reisen gibt. Verlust und Bedauern, Unglück und Sehnsucht – sie treiben die Geschichte voran, auf ihrem gewundenen Weg. ”
KYRA STROMBERG
MARGARET ATWOOD: Der blinde Mörder. Roman. Deutsch von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag 2000, 694 S. , 48 Mark.
Margaret Atwood erzählt von drei Generationen einer bürgerlichen Familie in Kanada.
Foto: Isolde Ohlbaum
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Die Lust der Knochensäcke auf Nähe
Margaret Atwoods "Der blinde Mörder" / Von Ingeborg Harms

Der blinde Mörder" ist ein Liebesroman, der nicht in einem Atemzug erzählt wird. Margaret Atwoods Buch sprüht aus makellos geschliffenen Facetten wie ein meisterhaft in Form gebrachtes Diadem. Die Handlung bewegt sich auf vier Ebenen. Sie besteht aus Zeitungsartikeln, in denen die offizielle Version der Vorgänge gespeichert ist, aus den Kapiteln des Buches "Der blinde Mörder", das eine junge Frau geschrieben hat, aus den Teilen einer Science-fiction-Story, die ihr Geliebter verfaßte, um sich finanziell über Wasser zu halten, und schließlich aus der Rahmenerzählung einer Vierundachtzigjährigen, die alle Elemente an den rechten Platz rückt. Es ist die Geschichte zweier Schwestern, Iris und Laura Chase, die in einem kleinen Küstenort bei Toronto als Kinder eines Knopffabrikanten aufwachsen.

Die Familie taucht in die Weltgeschichte ein, als der Vater mit einer Augenklappe und der illusionslosen Klarsicht eines Teiresias aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt. Seine Fronterfahrungen hindern ihn daran, die Arbeiterschaft in den Jahren der Depression kaltblütig zu entlassen. Der Profit geht zur Neige, das Geschäft kommt herunter, und als seine Ehefrau im Kindbett stirbt, bittet der gesundheitlich labile Fabrikherr seine ältere Tochter Iris um das Opfer einer Geldheirat, die auch Lauras Zukunft sichern soll.

Der Gatte ist denkbar schlecht gewählt: ein Aufsteiger, der skrupellos sein Ziel verfolgt und die junge Ehefrau als Eigentum betrachtet, das er und seine Schwester Winifred nach Belieben biegen und manipulieren. Während Iris sich in ihr Schicksal fügt, bleibt Laura allen Bestechungen und moralischen Verführungsversuchen gegenüber resistent. Bei einem öffentlichen Picknick lädt sie einen dubiosen jungen Mann zum familiären Dinner ein, der sich wenig später als landesweit gesuchter Radikaler entpuppt. Die Schwestern verstecken Alex Thomas auf dem Dachboden des väterlichen Hauses und verlieben sich beide in die abgerissene romantische Gestalt. Laura möchte seine Seele retten, Iris verfällt ihm sehr leiblich. Ohne voneinander zu wissen, treffen beide Schwestern den Untergetauchten auch weiterhin. Die nicht volljährige Laura wird indessen von ihrem Vormund, dem Gatten der Schwester, geschwängert. Sie bringt sich um, als sie von Alex' Liebesverhältnis zu Iris erfährt.

Atwoods Roman lebt aus der Spannung zwischen den zwei Schwestern. Laura ist auf kindliche Weise fanatisch, kompromißlos und mit dem Kassandrablick der Naiven bewaffnet. Iris kennt Lüge und Verstellung; sie arrangiert sich mit ihrer glücklosen Ehe durch das Verhältnis zum Vagabunden Alex, den sie in wechselnden, immer schäbiger werdenden Absteigen trifft - bis er selbst in den Zweiten Weltkrieg zieht und auf den Schlachtfeldern umkommt. Bis zum Ende des Buches erfährt der Leser nicht, welche der Schwestern den Roman im Roman, den "Blinden Mörder", geschrieben hat. Diese Unschärfe macht beide zu schillernden Figuren. Sie verleiht der nixenhaften Laura emotionale Tiefe und verhindert, daß man die greise Iris in ihren Selbstschmähungen ganz ernst nimmt. Denn das zentrale Ereignis der Lektüre ist die Gestaltwerdung dieser zum alten Eisen geworfenen Frau. Iris ist gehbehindert, herzschwach und sich selbst im mürben Knochensack eine Last. Immer wieder wird die rückblickende Erzählung durch den sehr gegenwärtigen Sarkasmus der erbarmungslosen Verfalls-Chronistin aufgehalten. Doch die Liebe muß bei Atwood durch diese Feuerprobe springen: "Romantik bedeutet, Dinge wegzulassen", heißt es einmal: "Wo das Leben grunzt und schnüffelt, seufzt die Romantik nur."

Die kanadische Autorin traut sich das Leben zu und siegt. Erst in der Prosa der langen Stunden des vergeblichen Wartens und der enttäuschten Hoffnungen gewinnt der romantische Kern eine Kraft, die es mit allen bösen Zufällen aufnimmt und trotzdem das Gewicht einer attischen Tragödie hat. Das Leben, schreibt die sterbende Iris in ihr Vermächtnis, "ist eine Tragödie, keineswegs nur ein einziger langer Schrei. Sie schließt alles ein, was zu ihr führte. Stunde um triviale Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr, und dann der plötzliche Moment: der Messerstich." Atwood traktiert ihre Leser mit der "dichten Beschreibung", wie die neuere Ethnologie sagt. Der Alltag im Harem einer verhätschelten Industriellengattin mit lustlosen Partys und Wohltätigkeitsfesten wird ebenso ausgebreitet wie die verstohlenen Exzesse in gemieteten Zimmern und die erstickten Treuebekundungen derer, die sich ihre Leidenschaft nicht leisten können. "Der blinde Mörder" ist die Summe einer über ihre Verhältnisse lebenden Existenz und das Bekenntnis zu diesem Überschuß, der im Leben keinen Platz hat. Geschichte, im Großen wie im Kleinen, als Wochenschau oder als Klatschspaltenbericht, ist bei Atwood vor allem eine Arena der Behinderungen. Die Männer ziehen in den Krieg wie die Frauen in die Ehe: idealistisch und naiv. Der Roman handelt von der Desillusion von weiblicher Trunksucht und männlichen Verstümmelungen. Iris' Gatte ist ein Kriegsgewinnler, der es erst mit Hitler und dann mit den Alliierten hält und das militärische Kalkül im Zivilleben einsetzt. Die Protagonistinnen retten sich in ein Doppelleben. Sie erfüllen ihre zugeteilten Rollen bei vollständiger innerer Abwesenheit. Ihre Distanz verleiht ihnen den Scharfblick eines höfischen Narren. Deshalb ist Atwoods Buch auch ein Brevier der Lebenskunst. Es weiß alles über die Bewahrung des Scheins, die Tricks und Listen, derer es bedarf, um den weichen Kern des Ichs zu schützen. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet der fantastische Groschenhefttext, den Alex sich für schnelles Geld ausdenkt, mehr Wahrheit enthält als alle Zeitungsmeldungen. Der Planet, auf dem die Geschichte spielt, hält sich an das Muster mesopotamischer Sklavenstaaten. Blut fließt in Strömen, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf und jeder sich selbst der nächste.

Erst in dieser grellen Allegorie auf eine nur dem Schein nach kultiviertere Welt beginnt die Liebe in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit zu strahlen: Ein durch filigrane Teppichknüpferei erblindeter und zum Mörder erzogener Sklavenjunge schreckt vor der Tat zurück, weil er sich in den Körper einer Tempeldienerin verliebt, der man die Zunge herausgeschnitten hat. "Der blinde Mörder" erzählt, was sie nicht mitteilen kann: Die stumme Innenseite einer vom Machtspruch regierten Geschichte. Für Iris ist nicht nur Justitia, sondern auch Eros blind: "unbeholfene blinde Götter mit spitzen Waffen". Doch weil Eros das Augenlicht fehlt, agiert er in einer Gegenwelt zu Korruption und Täuschung. Sein Medium und seine Waffe ist bei Atwood die stumme, blinde Schrift.

Iris stirbt, als sie zu Ende erzählt hat. Sie adressiert die Blätter an ihre Enkelin, die sich von der verkommenen Großmutter abgewendet hat. In der Vehemenz der Bestandsaufnahme verschmilzt der Faden des Blutes mit dem der Tinte. Denn der Nachwuchs der Erzählerin verdankt sich ihrem Seitensprung. In der Enkelin lebt die Spur der wahren Empfindung so wie in der Schrift fort. Zeugung und Zeugenschaft werden zu einem komplexen Kode verflochten, der an der Geschichte der Sieger, die das Blut zu meistern glauben, vorbeigeschmuggelt wird. Weil dem jungen Blut die Erfahrung fehlt, braucht es Testamente. An Lauras Buchstabengläubigkeit führt Atwood vor, wie das neue Leben sich durch schriftliche Quellen imprägniert. Sie legen im Individuum einen Mythenhohlraum an, in dem es seine wahre Geschichte schon findet, so daß es den rechten Augenblick traumwandlerisch erkennen kann: "Diese Dinge", heißt es von dem Moment, in dem Iris Ehebruch begeht, "ereignen sich in einem Augenblick, in einem Wimpernzucken. Das kann nur so sein, weil sie von uns bereits durchgespielt worden sind, immer und immer wieder, in Stille und Dunkelheit; in derartiger Stille, derartiger Dunkelheit, daß wir selbst nichts davon wissen. Blind, aber mit sicherem Schritt, treten wir vor wie in einen Tanz, den wir seit langem im Gedächtnis tragen."

Margaret Atwood: "Der blinde Mörder". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag, Berlin 2000. 691 S., geb., 48,- DM.

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