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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Die Lust der Knochensäcke auf Nähe
Margaret Atwoods "Der blinde Mörder" / Von Ingeborg Harms

Der blinde Mörder" ist ein Liebesroman, der nicht in einem Atemzug erzählt wird. Margaret Atwoods Buch sprüht aus makellos geschliffenen Facetten wie ein meisterhaft in Form gebrachtes Diadem. Die Handlung bewegt sich auf vier Ebenen. Sie besteht aus Zeitungsartikeln, in denen die offizielle Version der Vorgänge gespeichert ist, aus den Kapiteln des Buches "Der blinde Mörder", das eine junge Frau geschrieben hat, aus den Teilen einer Science-fiction-Story, die ihr Geliebter verfaßte, um sich finanziell über Wasser zu halten, und schließlich aus der Rahmenerzählung einer Vierundachtzigjährigen, die alle Elemente an den rechten Platz rückt. Es ist die Geschichte zweier Schwestern, Iris und Laura Chase, die in einem kleinen Küstenort bei Toronto als Kinder eines Knopffabrikanten aufwachsen.

Die Familie taucht in die Weltgeschichte ein, als der Vater mit einer Augenklappe und der illusionslosen Klarsicht eines Teiresias aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt. Seine Fronterfahrungen hindern ihn daran, die Arbeiterschaft in den Jahren der Depression kaltblütig zu entlassen. Der Profit geht zur Neige, das Geschäft kommt herunter, und als seine Ehefrau im Kindbett stirbt, bittet der gesundheitlich labile Fabrikherr seine ältere Tochter Iris um das Opfer einer Geldheirat, die auch Lauras Zukunft sichern soll.

Der Gatte ist denkbar schlecht gewählt: ein Aufsteiger, der skrupellos sein Ziel verfolgt und die junge Ehefrau als Eigentum betrachtet, das er und seine Schwester Winifred nach Belieben biegen und manipulieren. Während Iris sich in ihr Schicksal fügt, bleibt Laura allen Bestechungen und moralischen Verführungsversuchen gegenüber resistent. Bei einem öffentlichen Picknick lädt sie einen dubiosen jungen Mann zum familiären Dinner ein, der sich wenig später als landesweit gesuchter Radikaler entpuppt. Die Schwestern verstecken Alex Thomas auf dem Dachboden des väterlichen Hauses und verlieben sich beide in die abgerissene romantische Gestalt. Laura möchte seine Seele retten, Iris verfällt ihm sehr leiblich. Ohne voneinander zu wissen, treffen beide Schwestern den Untergetauchten auch weiterhin. Die nicht volljährige Laura wird indessen von ihrem Vormund, dem Gatten der Schwester, geschwängert. Sie bringt sich um, als sie von Alex' Liebesverhältnis zu Iris erfährt.

Atwoods Roman lebt aus der Spannung zwischen den zwei Schwestern. Laura ist auf kindliche Weise fanatisch, kompromißlos und mit dem Kassandrablick der Naiven bewaffnet. Iris kennt Lüge und Verstellung; sie arrangiert sich mit ihrer glücklosen Ehe durch das Verhältnis zum Vagabunden Alex, den sie in wechselnden, immer schäbiger werdenden Absteigen trifft - bis er selbst in den Zweiten Weltkrieg zieht und auf den Schlachtfeldern umkommt. Bis zum Ende des Buches erfährt der Leser nicht, welche der Schwestern den Roman im Roman, den "Blinden Mörder", geschrieben hat. Diese Unschärfe macht beide zu schillernden Figuren. Sie verleiht der nixenhaften Laura emotionale Tiefe und verhindert, daß man die greise Iris in ihren Selbstschmähungen ganz ernst nimmt. Denn das zentrale Ereignis der Lektüre ist die Gestaltwerdung dieser zum alten Eisen geworfenen Frau. Iris ist gehbehindert, herzschwach und sich selbst im mürben Knochensack eine Last. Immer wieder wird die rückblickende Erzählung durch den sehr gegenwärtigen Sarkasmus der erbarmungslosen Verfalls-Chronistin aufgehalten. Doch die Liebe muß bei Atwood durch diese Feuerprobe springen: "Romantik bedeutet, Dinge wegzulassen", heißt es einmal: "Wo das Leben grunzt und schnüffelt, seufzt die Romantik nur."

Die kanadische Autorin traut sich das Leben zu und siegt. Erst in der Prosa der langen Stunden des vergeblichen Wartens und der enttäuschten Hoffnungen gewinnt der romantische Kern eine Kraft, die es mit allen bösen Zufällen aufnimmt und trotzdem das Gewicht einer attischen Tragödie hat. Das Leben, schreibt die sterbende Iris in ihr Vermächtnis, "ist eine Tragödie, keineswegs nur ein einziger langer Schrei. Sie schließt alles ein, was zu ihr führte. Stunde um triviale Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr, und dann der plötzliche Moment: der Messerstich." Atwood traktiert ihre Leser mit der "dichten Beschreibung", wie die neuere Ethnologie sagt. Der Alltag im Harem einer verhätschelten Industriellengattin mit lustlosen Partys und Wohltätigkeitsfesten wird ebenso ausgebreitet wie die verstohlenen Exzesse in gemieteten Zimmern und die erstickten Treuebekundungen derer, die sich ihre Leidenschaft nicht leisten können. "Der blinde Mörder" ist die Summe einer über ihre Verhältnisse lebenden Existenz und das Bekenntnis zu diesem Überschuß, der im Leben keinen Platz hat. Geschichte, im Großen wie im Kleinen, als Wochenschau oder als Klatschspaltenbericht, ist bei Atwood vor allem eine Arena der Behinderungen. Die Männer ziehen in den Krieg wie die Frauen in die Ehe: idealistisch und naiv. Der Roman handelt von der Desillusion von weiblicher Trunksucht und männlichen Verstümmelungen. Iris' Gatte ist ein Kriegsgewinnler, der es erst mit Hitler und dann mit den Alliierten hält und das militärische Kalkül im Zivilleben einsetzt. Die Protagonistinnen retten sich in ein Doppelleben. Sie erfüllen ihre zugeteilten Rollen bei vollständiger innerer Abwesenheit. Ihre Distanz verleiht ihnen den Scharfblick eines höfischen Narren. Deshalb ist Atwoods Buch auch ein Brevier der Lebenskunst. Es weiß alles über die Bewahrung des Scheins, die Tricks und Listen, derer es bedarf, um den weichen Kern des Ichs zu schützen. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet der fantastische Groschenhefttext, den Alex sich für schnelles Geld ausdenkt, mehr Wahrheit enthält als alle Zeitungsmeldungen. Der Planet, auf dem die Geschichte spielt, hält sich an das Muster mesopotamischer Sklavenstaaten. Blut fließt in Strömen, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf und jeder sich selbst der nächste.

Erst in dieser grellen Allegorie auf eine nur dem Schein nach kultiviertere Welt beginnt die Liebe in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit zu strahlen: Ein durch filigrane Teppichknüpferei erblindeter und zum Mörder erzogener Sklavenjunge schreckt vor der Tat zurück, weil er sich in den Körper einer Tempeldienerin verliebt, der man die Zunge herausgeschnitten hat. "Der blinde Mörder" erzählt, was sie nicht mitteilen kann: Die stumme Innenseite einer vom Machtspruch regierten Geschichte. Für Iris ist nicht nur Justitia, sondern auch Eros blind: "unbeholfene blinde Götter mit spitzen Waffen". Doch weil Eros das Augenlicht fehlt, agiert er in einer Gegenwelt zu Korruption und Täuschung. Sein Medium und seine Waffe ist bei Atwood die stumme, blinde Schrift.

Iris stirbt, als sie zu Ende erzählt hat. Sie adressiert die Blätter an ihre Enkelin, die sich von der verkommenen Großmutter abgewendet hat. In der Vehemenz der Bestandsaufnahme verschmilzt der Faden des Blutes mit dem der Tinte. Denn der Nachwuchs der Erzählerin verdankt sich ihrem Seitensprung. In der Enkelin lebt die Spur der wahren Empfindung so wie in der Schrift fort. Zeugung und Zeugenschaft werden zu einem komplexen Kode verflochten, der an der Geschichte der Sieger, die das Blut zu meistern glauben, vorbeigeschmuggelt wird. Weil dem jungen Blut die Erfahrung fehlt, braucht es Testamente. An Lauras Buchstabengläubigkeit führt Atwood vor, wie das neue Leben sich durch schriftliche Quellen imprägniert. Sie legen im Individuum einen Mythenhohlraum an, in dem es seine wahre Geschichte schon findet, so daß es den rechten Augenblick traumwandlerisch erkennen kann: "Diese Dinge", heißt es von dem Moment, in dem Iris Ehebruch begeht, "ereignen sich in einem Augenblick, in einem Wimpernzucken. Das kann nur so sein, weil sie von uns bereits durchgespielt worden sind, immer und immer wieder, in Stille und Dunkelheit; in derartiger Stille, derartiger Dunkelheit, daß wir selbst nichts davon wissen. Blind, aber mit sicherem Schritt, treten wir vor wie in einen Tanz, den wir seit langem im Gedächtnis tragen."

Margaret Atwood: "Der blinde Mörder". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag, Berlin 2000. 691 S., geb., 48,- DM.

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