Produktdetails
- Verlag: Hodder & Stoughton; Sceptre
- Erscheinungstermin: September 2014
- Gewicht: 940g
- ISBN-13: 9780340921609
- ISBN-10: 0340921609
- Artikelnr.: 40786466
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2014Ein Gespenst stand nachts an seinem Bett
Meine Hauptfigur bin doch nicht ich, oder doch ein wenig? David Mitchell, der Autor des Welterfolgs "Cloud Atlas", stellt in Brooklyn seinen neuen Roman vor.
NEW YORK, Ende September
Spätestens seit "Cloud Atlas", dem Roman von 2004, der 2012 von den Geschwistern Wachowski und Tom Tykwer verfilmt wurde, gilt der 1969 in Lancashire geborene Schriftsteller David Mitchell, der heute nahe der Südspitze Irlands lebt, zumal der amerikanischen Literaturkritik als Wundermann. Und das Publikum liebt ihn. Ihm bleibt also das Schicksal seiner Figur Crispin Hershey erspart; Das vierte Kapitel von Mitchells neuem Roman "The Bone Clocks" schildert den Niedergang dieses weltberühmten Schriftstellers, dessen Name eine Collage ist: Den Vornamen hat ein englischer Nationalheiliger gestiftet, den Nachnamen ein amerikanischer Schokoladenkonzern. Crispin Hershey gehört zwar noch zum globalen Jetset des Literaturbetriebs, reist von Festival zu Festival in Kolumbien, Australien, China und Island. Aber seine Karriere befindet sich im Sinkflug, von Termin zu Termin werden die Schlangen bei den Signierstunden kürzer. Er verbraucht sozusagen noch die Bonusmeilen, die er mit "Desiccated Embryos" erwirtschaftet hat, einem Sensationserfolg, der aber sein einziger echter Erfolg blieb.
Für eine Unterschrift auf seinem jüngsten Opus "Echo Must Die" stellen sich beim Festival in Hay-on-Wye gerade einmal fünfzehn Bücherfreunde an. Es kann Hershey nicht trösten, dass sich der Titel prophetisch lesen lässt: Das Echo hat ausnahmsweise einen Umweg gemacht. Wohin sind seine Leser verschwunden? Sie stehen am Nachbartisch und warten auf Holly Sykes, die medial veranlagt ist und ein Erinnerungsbuch über die Stimmen aus dem Geisterreich geschrieben hat, die sie seit ihrer Jugend begleiten. Sie ist die Erzählerin von Mitchells erstem Kapitel.
Der Lindwurm, der sich nach David Mitchells Lesung in Brooklyn durch die Stuhlreihen der Aula eines katholischen Colleges schlängelt, kunstvoll gefaltet, damit vom Schwanzende aus der Kopf in Sichtweite bleibt, könnte einer Nachlasskiste J. R. R. Tolkiens entschlüpft sein oder einer Werkstatt für Spezialeffekte in Hollywood. Das Untier aus Menschenleibern ist so elastisch wie geduldig; für die Länge gibt es nur ein Attribut: episch! Von den vierhundert Zuhörern ist jeder zweite im Saal geblieben, um sich ein Exemplar von "The Bone Clocks" zueignen zu lassen. Mitchell bedankt sich, indem er den Namen des Widmungsträgers und die Signatur zu einer Schlangenlinie verbindet. So gewinnt ein Thema des Romans graphische Gestalt: die Seelenwanderung.
Einige Bewunderer haben ihre ganze Mitchell-Kollektion mitgebracht: gebundene Bände, keine Taschenbücher. Mitchell schreibt Schmöker für Wählerische. Scherzhaft bekennt er auf dem Podium, er beneide Autoren, die sich kurz fassen könnten, um ihre kompakten Erzählungen mit überschaubarem Personal. Ihm gelinge das ja auch, aber typischerweise sechsmal pro Roman. Ihm wird zugetraut, die Hochliteratur durch Bluttransfusionen aus populären Erzählgattungen wiederzubeleben. Für sein Publikum verkörpert Mitchell die Hoffnung, dass die Überwältigung durch disparateste Referenzen, wie sie für heutige ästhetische Bildungsbiographien charakteristisch ist, Formgebung nicht unmöglich macht.
Mit ihrer Überfülle von Anspielungen (ein Pub in "The Bone Clocks" heißt "The Captain Marlow") lassen sich Mitchells Montageromane als professionelle Variante der Fan-Fiktion betrachten. In Brooklyn ist Mitchell unter Kollegen. Fast jeder, der eine Frage an ihn hat, stellt sich als Schriftsteller vor. Was sei zuerst da, wenn er schreibe, die Form oder der Inhalt? Mitchell zählt fünf Elemente des Romans auf: Handlung, Figuren, Stil, Gedanke und Struktur. Beim Schreiben müssten diese fünf Größen im gleichen Tempo vorankommen, wie Karussellpferde. Gelegentlich galoppiere ihm die Hauptfigur davon, dann gebe er zum Ausgleich der Struktur oder dem Gedanken die Sporen.
Lobende Bemerkungen quittiert Mitchell mit launiger Ironie. Größer kann der Kontrast nicht sein zu Crispin Hershey, der die frühe Kritikerformel vom enfant sauvage der britischen Literatur mit permanenter Unhöflichkeit beglaubigen muss. "Desiccated Embryos": Hersheys einsamer Nummer-eins-Hit klingt wie ein diabolisches Echo von "Dead Babies", dem Titel des zweiten Romans von Martin Amis. Und tatsächlich sieht Crispin Hershey Martin Amis verteufelt ähnlich, wenn er in den Spiegel blickt. Dann sieht ihn nämlich sein Vater an, ein berühmter Filmemacher - so wie Amis junior sein Leben lang gemessen wird an Amis senior, dem Schriftsteller Kingsley Amis, den Mitchell gleich auf der ersten Seite des Hershey-Kapitels zitiert. Die authentische Amis-Maxime, eine schlechte Kritik dürfe einem das Frühstück verderben, aber nicht das Mittagessen, beherzigt Hershey zu seinem Unglück nicht. Es rächt sich, dass er sich an Richard Cheeseman rächt, der "Echo Must Die" in der "Piccadilly Review" verreißt.
Auch über "The Bone Clocks" hat ein einflussreicher Rezensent den Daumen gesenkt: James Wood vom "New Yorker". Aber Wood hat mit seinem Urteil, die realistischen Teilromane passten nicht mit der Fantasy-Hintergrundhandlung eines welthistorischen Kampfes zweier Geheimbünde von Unsterblichen zusammen, nur die eigene Phantasielosigkeit demonstriert. Außerdem findet sich dieses Argument schon in Mitchells Roman: in Cheesemans Rezension von "Echo Must Die".
Mitchell nennt "The Bone Clocks" seinen Midlifecrisis-Roman. Als ihn eines Tages aus dem Spiegel sein Vater anblickte, kam er auf die Idee, dass das Geschäftsmodell eines Vertrags über das ewige Leben der Stoff sein könnte für einen Faustroman unserer Zeit. Die Knochenuhren: So sehen die Unsterblichen die Sterblichen. Wir ticken, bis wir den Geist aufgeben.
Je weiter Mitchells Werk voranschreitet, desto mehr Figuren aus den älteren Büchern kehren in den neuen wieder. Er gibt an, dass Leser ihn auf diese Eigenart seiner Romanwelt erst aufmerksam machen mussten. Mittlerweile sieht er sich als den Kartographen seines eigenen Mittelerde. Man müsse aber nicht alle seine Bücher vor "The Bone Clocks" lesen, versichert er einer Fragestellerin. "Lesen Sie lieber Conrad und DeLillo."
Das Motiv der Wiedergeburt steht für den von politischen Gedanken, dass die Weltgeschichte einen Zusammenhang bildet und Handlungen Folgen haben. Aber das Phantastische ist nicht pure Allegorie, sondern knüpft an Erfahrungen an. In Brooklyn erzählt Mitchell etwas, das er noch nie erzählt hat: Als er in einem Vorort von Hiroshima lebte, stand eines Nachts ein Geist an seinem Bett.
Crispin Hershey nimmt eine Professur für Kreatives Schreiben an, um den Vorschuss für seinen ungeschriebenen Roman zurückzahlen zu können. Seinen Schülern bringt er bei, sich von den Figuren ihrer Bücher Briefe schreiben zu lassen, damit sie in die Stimmen hineinfinden. Dieses spiritistische Verfahren hat Hershey bei Mitchell geklaut. Oder umgekehrt. Sechs Briefe von Holly Sykes brauchte Mitchell, um "The Bone Clocks" schreiben zu können, so viele, wie der Roman Kapitel hat.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Meine Hauptfigur bin doch nicht ich, oder doch ein wenig? David Mitchell, der Autor des Welterfolgs "Cloud Atlas", stellt in Brooklyn seinen neuen Roman vor.
NEW YORK, Ende September
Spätestens seit "Cloud Atlas", dem Roman von 2004, der 2012 von den Geschwistern Wachowski und Tom Tykwer verfilmt wurde, gilt der 1969 in Lancashire geborene Schriftsteller David Mitchell, der heute nahe der Südspitze Irlands lebt, zumal der amerikanischen Literaturkritik als Wundermann. Und das Publikum liebt ihn. Ihm bleibt also das Schicksal seiner Figur Crispin Hershey erspart; Das vierte Kapitel von Mitchells neuem Roman "The Bone Clocks" schildert den Niedergang dieses weltberühmten Schriftstellers, dessen Name eine Collage ist: Den Vornamen hat ein englischer Nationalheiliger gestiftet, den Nachnamen ein amerikanischer Schokoladenkonzern. Crispin Hershey gehört zwar noch zum globalen Jetset des Literaturbetriebs, reist von Festival zu Festival in Kolumbien, Australien, China und Island. Aber seine Karriere befindet sich im Sinkflug, von Termin zu Termin werden die Schlangen bei den Signierstunden kürzer. Er verbraucht sozusagen noch die Bonusmeilen, die er mit "Desiccated Embryos" erwirtschaftet hat, einem Sensationserfolg, der aber sein einziger echter Erfolg blieb.
Für eine Unterschrift auf seinem jüngsten Opus "Echo Must Die" stellen sich beim Festival in Hay-on-Wye gerade einmal fünfzehn Bücherfreunde an. Es kann Hershey nicht trösten, dass sich der Titel prophetisch lesen lässt: Das Echo hat ausnahmsweise einen Umweg gemacht. Wohin sind seine Leser verschwunden? Sie stehen am Nachbartisch und warten auf Holly Sykes, die medial veranlagt ist und ein Erinnerungsbuch über die Stimmen aus dem Geisterreich geschrieben hat, die sie seit ihrer Jugend begleiten. Sie ist die Erzählerin von Mitchells erstem Kapitel.
Der Lindwurm, der sich nach David Mitchells Lesung in Brooklyn durch die Stuhlreihen der Aula eines katholischen Colleges schlängelt, kunstvoll gefaltet, damit vom Schwanzende aus der Kopf in Sichtweite bleibt, könnte einer Nachlasskiste J. R. R. Tolkiens entschlüpft sein oder einer Werkstatt für Spezialeffekte in Hollywood. Das Untier aus Menschenleibern ist so elastisch wie geduldig; für die Länge gibt es nur ein Attribut: episch! Von den vierhundert Zuhörern ist jeder zweite im Saal geblieben, um sich ein Exemplar von "The Bone Clocks" zueignen zu lassen. Mitchell bedankt sich, indem er den Namen des Widmungsträgers und die Signatur zu einer Schlangenlinie verbindet. So gewinnt ein Thema des Romans graphische Gestalt: die Seelenwanderung.
Einige Bewunderer haben ihre ganze Mitchell-Kollektion mitgebracht: gebundene Bände, keine Taschenbücher. Mitchell schreibt Schmöker für Wählerische. Scherzhaft bekennt er auf dem Podium, er beneide Autoren, die sich kurz fassen könnten, um ihre kompakten Erzählungen mit überschaubarem Personal. Ihm gelinge das ja auch, aber typischerweise sechsmal pro Roman. Ihm wird zugetraut, die Hochliteratur durch Bluttransfusionen aus populären Erzählgattungen wiederzubeleben. Für sein Publikum verkörpert Mitchell die Hoffnung, dass die Überwältigung durch disparateste Referenzen, wie sie für heutige ästhetische Bildungsbiographien charakteristisch ist, Formgebung nicht unmöglich macht.
Mit ihrer Überfülle von Anspielungen (ein Pub in "The Bone Clocks" heißt "The Captain Marlow") lassen sich Mitchells Montageromane als professionelle Variante der Fan-Fiktion betrachten. In Brooklyn ist Mitchell unter Kollegen. Fast jeder, der eine Frage an ihn hat, stellt sich als Schriftsteller vor. Was sei zuerst da, wenn er schreibe, die Form oder der Inhalt? Mitchell zählt fünf Elemente des Romans auf: Handlung, Figuren, Stil, Gedanke und Struktur. Beim Schreiben müssten diese fünf Größen im gleichen Tempo vorankommen, wie Karussellpferde. Gelegentlich galoppiere ihm die Hauptfigur davon, dann gebe er zum Ausgleich der Struktur oder dem Gedanken die Sporen.
Lobende Bemerkungen quittiert Mitchell mit launiger Ironie. Größer kann der Kontrast nicht sein zu Crispin Hershey, der die frühe Kritikerformel vom enfant sauvage der britischen Literatur mit permanenter Unhöflichkeit beglaubigen muss. "Desiccated Embryos": Hersheys einsamer Nummer-eins-Hit klingt wie ein diabolisches Echo von "Dead Babies", dem Titel des zweiten Romans von Martin Amis. Und tatsächlich sieht Crispin Hershey Martin Amis verteufelt ähnlich, wenn er in den Spiegel blickt. Dann sieht ihn nämlich sein Vater an, ein berühmter Filmemacher - so wie Amis junior sein Leben lang gemessen wird an Amis senior, dem Schriftsteller Kingsley Amis, den Mitchell gleich auf der ersten Seite des Hershey-Kapitels zitiert. Die authentische Amis-Maxime, eine schlechte Kritik dürfe einem das Frühstück verderben, aber nicht das Mittagessen, beherzigt Hershey zu seinem Unglück nicht. Es rächt sich, dass er sich an Richard Cheeseman rächt, der "Echo Must Die" in der "Piccadilly Review" verreißt.
Auch über "The Bone Clocks" hat ein einflussreicher Rezensent den Daumen gesenkt: James Wood vom "New Yorker". Aber Wood hat mit seinem Urteil, die realistischen Teilromane passten nicht mit der Fantasy-Hintergrundhandlung eines welthistorischen Kampfes zweier Geheimbünde von Unsterblichen zusammen, nur die eigene Phantasielosigkeit demonstriert. Außerdem findet sich dieses Argument schon in Mitchells Roman: in Cheesemans Rezension von "Echo Must Die".
Mitchell nennt "The Bone Clocks" seinen Midlifecrisis-Roman. Als ihn eines Tages aus dem Spiegel sein Vater anblickte, kam er auf die Idee, dass das Geschäftsmodell eines Vertrags über das ewige Leben der Stoff sein könnte für einen Faustroman unserer Zeit. Die Knochenuhren: So sehen die Unsterblichen die Sterblichen. Wir ticken, bis wir den Geist aufgeben.
Je weiter Mitchells Werk voranschreitet, desto mehr Figuren aus den älteren Büchern kehren in den neuen wieder. Er gibt an, dass Leser ihn auf diese Eigenart seiner Romanwelt erst aufmerksam machen mussten. Mittlerweile sieht er sich als den Kartographen seines eigenen Mittelerde. Man müsse aber nicht alle seine Bücher vor "The Bone Clocks" lesen, versichert er einer Fragestellerin. "Lesen Sie lieber Conrad und DeLillo."
Das Motiv der Wiedergeburt steht für den von politischen Gedanken, dass die Weltgeschichte einen Zusammenhang bildet und Handlungen Folgen haben. Aber das Phantastische ist nicht pure Allegorie, sondern knüpft an Erfahrungen an. In Brooklyn erzählt Mitchell etwas, das er noch nie erzählt hat: Als er in einem Vorort von Hiroshima lebte, stand eines Nachts ein Geist an seinem Bett.
Crispin Hershey nimmt eine Professur für Kreatives Schreiben an, um den Vorschuss für seinen ungeschriebenen Roman zurückzahlen zu können. Seinen Schülern bringt er bei, sich von den Figuren ihrer Bücher Briefe schreiben zu lassen, damit sie in die Stimmen hineinfinden. Dieses spiritistische Verfahren hat Hershey bei Mitchell geklaut. Oder umgekehrt. Sechs Briefe von Holly Sykes brauchte Mitchell, um "The Bone Clocks" schreiben zu können, so viele, wie der Roman Kapitel hat.
PATRICK BAHNERS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main