Es war keine gute Idee, der alten Mrs. Bayfield den Spazierstock zu klauen, das wusste David von Anfang an. Aber er hat trotzdem mitgemacht. Und seitdem passiert ihm ein peinliches Missgeschick nach dem anderen. Zufall? Oder hat Mrs. Bayfield die Hände im Spiel? Ein bisschen unheimlich ist die alte Dame schon. Und es heißt, sie könne Leute verfluchen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Unerbittliche Macht der Schuld
Louis Sachar auf der Spur des Doppelgängers
Seit dem Ödipus des Sophokles sorgt Schuld für die tragische Spannung in Theater und Literatur. Sie zerreißt den, der sich verstrickt in die eigene Tat. Da sie von innen kommt, entkommt ihr niemand. Gegen sie ist jedes Ungeheuer aus Pappe, denn die Schuld ist härter und gefährlicher als jede äußere Gefahr - eine Wahrheit, die Hollywood längst vergessen hat. Im Gesicht der Schuld erblickt der von ihr Verfolgte sein eigenes Antlitz. Die Schuld ist der Doppelgänger, den niemand treffen möchte. Auch Ödipus ahnte das. Als er zu sehen begann, verlor er mehr als sein Augenlicht.
Im Original heißt Louis Sachars neues Buch "The Boy Who Lost His Face". Der Titel trifft die Sache genau, denn die Geschichte handelt von einem Jungen, der sein Gesicht verliert. Das klingt nach Moral, nach sozialer Ausgrenzung, nach Stigma, doch es ist nichts als unerbittliche narrative Spannung. Sie erwächst aus der Schuld. Mit der Macht der Furien ergreift diese David Ballinger, den Jungen und Helden des Buches. Sie straft ihn für den einen, schweren Fehler, den er begangen hat. Denn zusammen mit Roger und Scott und Randy überfällt er die alte Mrs. Bayfield - nur zum Spaß. Was wie ein böser Streich begann, erweist sich bald als grausame Attacke: Die Jungen dringen in Mrs. Bayfields Garten ein, kippen die Dame aus dem Schaukelstuhl, gießen ihr Limonade über das Gesicht und stehlen ihren Gehstock. Und David ist dabei: "Er wollte ihr helfen oder ihr doch wenigstens sagen, dass es ihm Leid tat, aber er tat es nicht. Stattdessen zeigte er ihr den Stinkefinger."
Wäre Louis Sachar ein Therapeut, er schriebe sicher über das schlechte Gewissen als moralische Triebkraft. Als Autor jedoch geht er weit darüber hinaus und verleiht der Schuld die irritierenden Züge eines Fluches: "Dein Doppelgänger wird deine Seele heimsuchen!" ruft die alte Dame David zu, als sie hilflos am Boden liegt. Dann läuft der Junge davon, zurück auf die andere Seite des Gartenzauns, zurück in den Alltag, der einmal ihm gehörte. Doch gegen Fluch und Furien hilft keine Flucht.
Schon in seinem vielbeachteten Jugendroman "Löcher" hatte Sachar seinen Sinn für erzählerische Prägnanz bewiesen: Auch dort lastete ein Fluch auf dem Helden, Stanley Yelnats. Und auch dort, in der Wüste des Green Lake, gab es kein Entrinnen, sondern nur den Weg hindurch, bevor endlich Gerechtigkeit waltete. In "Der Fluch des David Ballinger" nun führt dieser Weg durch eine andere, schlimmere Ödnis, durch die Niederungen des Scheiterns. David, der Mitläufer, verliert sein Gesicht, denn plötzlich geht alles schief: In einer unheimlichen Verdoppelung der Leiden der Mrs. Bayfield kippen Stühle, zerbricht Glas, rutschen Hosen, fließt Saft über Gesichter. Und David zahlt den Preis, der üblich ist unter Heranwachsenden: Die, denen er gleichen will, verspotten ihn und stoßen ihn aus. Es ist wie im wirklichen Leben.
Und wie in der Wirklichkeit kommt auch hier keine Rettung von außen. Im Gegenteil: David erleidet das literarische Schicksal der Schuldigen. Er verheddert sich in den Fäden des bösen Fatums, in den Fallstricken der Schuld. Für die ethische und ästhetische Balance einer solchen, im besten Sinne moralischen Erzählung liegt die größte Gefahr in diesem Abstieg des Helden in die Folgen seiner Schuld. Ein Schritt zu weit, und alles wirkt überzogen, ein Schritt zu kurz, und nichts ist mehr glaubwürdig. Hier erweist sich Sachar als psychologisch subtiler Erzähler: Sorgfältig rekonstruiert er die inneren und die äußeren Welten des David Ballinger. Immer bleibt er dicht an seinem Protagonisten, spiegelt ihn aber zugleich in den Reaktionen der anderen Figuren. Das Schöne ist, daß auch diese durch und durch wirklich erscheinen. Die bemüht coolen Halbwüchsigen, der enttäuschte kleine Bruder, die sich häßlich wähnende Kameradin und der freundliche Aufschneider: keiner von ihnen ist ein Klischee, jedem gibt der Erzähler die Chance, ein eigenes Profil zu zeigen - im Guten wie im Schlechten.
Dieser liebenswürdige Umgang des Autors mit seinen Figuren wirkt nicht nur charmant, er ist auch der Hintergrund, vor dem ein ganz anderes Spannungselement in sein Recht tritt, die Liebe. David entdeckt Tori, und Tori entdeckt ihn. Aber von den ersten kurzen Blicken und scheuen Worten bis zur Ahnung eines ersten Kusses ist es ein weiter und schwerer Weg. Daß David ihn nur gehen kann, indem er seine Schuld durch Tapferkeit besiegt, liegt in der Logik der Geschichte. Bis zum Schluß hält Sachar diese beiden Bögen des Erzählens kunstvoll in einer elementaren Spannung aufeinander bezogen. Wie in einem guten Krimi wird der Kampf gegen die Schuld zum Kampf um die Liebe - bis hin zu einem klassischen Showdown. Was es aber mit dem Doppelgänger auf sich hat, weiß nur, wer das letzte, kurze Kapitel liest. In einer heiteren Wendung blickt dort das Buch über seinen eigenen Horizont und erfüllt jenes alte und einfache Gesetz der Komödie, daß dem Guten das Glück winkt. Und manchmal sogar ein Platz in der Geschichte.
HANS-JOACHIM NEUBAUER
Louis Sachar: "Der Fluch des David Ballinger". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Carl Hanser Verlag, München 2002. 183 S., geb., 12,90. Ab 11 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Louis Sachar auf der Spur des Doppelgängers
Seit dem Ödipus des Sophokles sorgt Schuld für die tragische Spannung in Theater und Literatur. Sie zerreißt den, der sich verstrickt in die eigene Tat. Da sie von innen kommt, entkommt ihr niemand. Gegen sie ist jedes Ungeheuer aus Pappe, denn die Schuld ist härter und gefährlicher als jede äußere Gefahr - eine Wahrheit, die Hollywood längst vergessen hat. Im Gesicht der Schuld erblickt der von ihr Verfolgte sein eigenes Antlitz. Die Schuld ist der Doppelgänger, den niemand treffen möchte. Auch Ödipus ahnte das. Als er zu sehen begann, verlor er mehr als sein Augenlicht.
Im Original heißt Louis Sachars neues Buch "The Boy Who Lost His Face". Der Titel trifft die Sache genau, denn die Geschichte handelt von einem Jungen, der sein Gesicht verliert. Das klingt nach Moral, nach sozialer Ausgrenzung, nach Stigma, doch es ist nichts als unerbittliche narrative Spannung. Sie erwächst aus der Schuld. Mit der Macht der Furien ergreift diese David Ballinger, den Jungen und Helden des Buches. Sie straft ihn für den einen, schweren Fehler, den er begangen hat. Denn zusammen mit Roger und Scott und Randy überfällt er die alte Mrs. Bayfield - nur zum Spaß. Was wie ein böser Streich begann, erweist sich bald als grausame Attacke: Die Jungen dringen in Mrs. Bayfields Garten ein, kippen die Dame aus dem Schaukelstuhl, gießen ihr Limonade über das Gesicht und stehlen ihren Gehstock. Und David ist dabei: "Er wollte ihr helfen oder ihr doch wenigstens sagen, dass es ihm Leid tat, aber er tat es nicht. Stattdessen zeigte er ihr den Stinkefinger."
Wäre Louis Sachar ein Therapeut, er schriebe sicher über das schlechte Gewissen als moralische Triebkraft. Als Autor jedoch geht er weit darüber hinaus und verleiht der Schuld die irritierenden Züge eines Fluches: "Dein Doppelgänger wird deine Seele heimsuchen!" ruft die alte Dame David zu, als sie hilflos am Boden liegt. Dann läuft der Junge davon, zurück auf die andere Seite des Gartenzauns, zurück in den Alltag, der einmal ihm gehörte. Doch gegen Fluch und Furien hilft keine Flucht.
Schon in seinem vielbeachteten Jugendroman "Löcher" hatte Sachar seinen Sinn für erzählerische Prägnanz bewiesen: Auch dort lastete ein Fluch auf dem Helden, Stanley Yelnats. Und auch dort, in der Wüste des Green Lake, gab es kein Entrinnen, sondern nur den Weg hindurch, bevor endlich Gerechtigkeit waltete. In "Der Fluch des David Ballinger" nun führt dieser Weg durch eine andere, schlimmere Ödnis, durch die Niederungen des Scheiterns. David, der Mitläufer, verliert sein Gesicht, denn plötzlich geht alles schief: In einer unheimlichen Verdoppelung der Leiden der Mrs. Bayfield kippen Stühle, zerbricht Glas, rutschen Hosen, fließt Saft über Gesichter. Und David zahlt den Preis, der üblich ist unter Heranwachsenden: Die, denen er gleichen will, verspotten ihn und stoßen ihn aus. Es ist wie im wirklichen Leben.
Und wie in der Wirklichkeit kommt auch hier keine Rettung von außen. Im Gegenteil: David erleidet das literarische Schicksal der Schuldigen. Er verheddert sich in den Fäden des bösen Fatums, in den Fallstricken der Schuld. Für die ethische und ästhetische Balance einer solchen, im besten Sinne moralischen Erzählung liegt die größte Gefahr in diesem Abstieg des Helden in die Folgen seiner Schuld. Ein Schritt zu weit, und alles wirkt überzogen, ein Schritt zu kurz, und nichts ist mehr glaubwürdig. Hier erweist sich Sachar als psychologisch subtiler Erzähler: Sorgfältig rekonstruiert er die inneren und die äußeren Welten des David Ballinger. Immer bleibt er dicht an seinem Protagonisten, spiegelt ihn aber zugleich in den Reaktionen der anderen Figuren. Das Schöne ist, daß auch diese durch und durch wirklich erscheinen. Die bemüht coolen Halbwüchsigen, der enttäuschte kleine Bruder, die sich häßlich wähnende Kameradin und der freundliche Aufschneider: keiner von ihnen ist ein Klischee, jedem gibt der Erzähler die Chance, ein eigenes Profil zu zeigen - im Guten wie im Schlechten.
Dieser liebenswürdige Umgang des Autors mit seinen Figuren wirkt nicht nur charmant, er ist auch der Hintergrund, vor dem ein ganz anderes Spannungselement in sein Recht tritt, die Liebe. David entdeckt Tori, und Tori entdeckt ihn. Aber von den ersten kurzen Blicken und scheuen Worten bis zur Ahnung eines ersten Kusses ist es ein weiter und schwerer Weg. Daß David ihn nur gehen kann, indem er seine Schuld durch Tapferkeit besiegt, liegt in der Logik der Geschichte. Bis zum Schluß hält Sachar diese beiden Bögen des Erzählens kunstvoll in einer elementaren Spannung aufeinander bezogen. Wie in einem guten Krimi wird der Kampf gegen die Schuld zum Kampf um die Liebe - bis hin zu einem klassischen Showdown. Was es aber mit dem Doppelgänger auf sich hat, weiß nur, wer das letzte, kurze Kapitel liest. In einer heiteren Wendung blickt dort das Buch über seinen eigenen Horizont und erfüllt jenes alte und einfache Gesetz der Komödie, daß dem Guten das Glück winkt. Und manchmal sogar ein Platz in der Geschichte.
HANS-JOACHIM NEUBAUER
Louis Sachar: "Der Fluch des David Ballinger". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Birgitt Kollmann. Carl Hanser Verlag, München 2002. 183 S., geb., 12,90
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