Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2011Das Partisanentum
wider sich selbst
Abscheuliche Kerle holt der Teufel: Ivo Andric’ großer Roman
„Die Brücke über die Drina“ Von Thomas Steinfeld
Die Brücke über die Drina ist fast zweihundert Meter lang und gut sechs Meter breit. In elf Bögen überspannt sie den Fluss. Zwei Balkons in der Mitte schufen Platz für Grenzposten, für einen Kaffeeausschenker wie für nächtlich singende Burschen, und jedem Pfeiler ist ein Bug vorgemauert, damit der Bauer starken vertikalen Kräften, der Strömung, widersteht. Das lässt sich auch allegorisch verstehen: „Wenn man sagt ,verbindet‘“, schreibt Ivo Andric in seinem Roman über diese Brücke, „dann ist das schlechterdings dasselbe, als sagte man: Die Sonne geht morgens auf, damit wir Menschen uns umsehen und die notwendigen Arbeiten verrichten können, und sie geht abends unter, damit wir schlafen und uns von den Mühen des Tages ausruhen können. Denn diese große, steinerne Brücke, dieses wertvolle Bauwerk einzigartiger Schönheit, . . . ist der einzige dauerhafte und sichere Übergang am ganzen oberen und mittleren Lauf der Drina und die unentbehrliche Spange auf dem Weg, der Bosnien mit Serbien und, über Serbien hinaus, auch mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul verbindet.“ In der Nachbarschaft dieser Brücke verbrachte Ivo Andric, 1892 als Kind einer kroatischen Familie in Travnik, zweihundert Kilometer weiter nordöstlich, geboren, nur seine frühe Schulzeit. Gelebt hat er dann woanders, in späteren Jahren vor allem in Belgrad.
Die „Brücke über die Drina“ ist ein altes Buch. Zuerst im Jahr 1945 veröffentlicht und 1953 ins Deutsche übersetzt, trug es seinem Autor 1961 den Nobelpreis für Literatur ein. Es ist seitdem auch auf Deutsch immer in mehreren Ausgaben zugänglich gewesen. Wenn es indessen jetzt noch einmal veröffentlicht worden ist, gebunden und mit einem lehrreichen Nachwort von Karl-Markus Gauß versehen, dann liegt das nicht nur daran, dass solche Bücher ein langes und vielfältiges Leben haben müssen, oder daran, dass Serbien in diesem Jahr das Gastland der Leipziger Buchmesse ist.
Es gibt einen besseren Grund, und er erschließt sich erst, wenn man tief in dieses Werk hineingelesen hat: Die Welt, von der dieses Buch handelt, ist in den vergangenen Jahren auf bemerkenswerte Weise geschrumpft, sie ist nicht verschwunden, sondern klein geworden, und nicht nur klein, sondern auch einsam. Aus diesem Schrumpfen ins Unbedeutende, ja ins schon Abseitige entsteht ein eigener Reiz, eine heroische Verlorenheit, nicht unähnlich dem schwankenden, verbeulten Pathos, das der ebenfalls aus Bosnien stammende kroatische Serbe Goran Bregovic heute seinen Kompositionen für balkanische Blaskapellen und trunkene Chöre verleiht.
Denn den Staat Jugoslawien, dem Ivo Andric diente und dienen wollte, zuerst dem Jugoslawien des Königs und dann dem der Sozialistischen Republik, gibt es nicht mehr. Serbien, die politische Instanz, die bis zuletzt an der Idee einer zentralistisch verfassten, sich über mehrere Ethnien erstreckenden Macht festhielt und darüber nicht nur zu aller Welt Feind, sondern zu einer Filiale des Bösen wurde, hat sich in einen kleinen Staat verwandelt, der sich, Schritt für Schritt, der Europäischen Union nähert. Was immer dagegen der Roman von der „Brücke über die Drina“ in den vergangenen Jahrzehnten Anlass zu beschwören gab: die (mehr oder minder) friedliche Begegnung von christlichem Abendland und islamischem Orient, Habsburger und Osmanischem Reich, von Aufstieg und Niedergang Österreich-Ungarns, auch die Hoffnung auf einen „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, für den der Vielvölkerstaat Jugoslawien mit seinen Arbeiterräten stand, ja schließlich auch die Idee von „Mitteleuropa“ und einer den halben Kontinent übergreifenden Ökumene der Dichter und Gelehrten – das alles ist, sagen wir: einer bestenfalls realistischen Betrachtung politischer, kultureller und ethnischer „Verbindungen“ gewichen. Aber die Sonne geht auf, und sie geht unter. Zurück also bleibt: die Brücke.
Es ist die gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtete Brücke, deren Bau, in der Revolte Einzelner gegen die (urbane) türkische Herrschaft, ein Bauer zu verhindern sucht, indem er nachts niederreißt, was tagsüber geschaffen wurde – wofür er gepfählt wird. Es ist die Brücke, an die der starrköpfige Alihoza genagelt wird, mit seinem Ohr, als die Österreicher im Jahr 1878 Višegrad erobern und er sich dem bewaffneten Widerstand widersetzt. Und es ist die Brücke, auf der ein Wachhabender, ein junger russischer Soldat, sich so sehr in ein muslimisches Mädchen verliebt, dass er nicht bemerkt, wie sie einen Gesetzlosen nach Bosnien eskortiert – was ihn das Leben kostet, weil er die Schande einer dienstlichen Verfehlung nicht erträgt.
Um die hundert Menschen führt Ivo Andric über die Brücke, Muslime und Orthodoxe, Juden, Katholiken und Ungläubige aller Art, alte und junge Menschen, Männer und Frauen, Bauern, Händler und Soldaten. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, wenn der Autor ihnen erlaubt, sich aus der Gruppe zu lösen und ihr Gesicht zu zeigen, stehen sie alle für sich selbst, und die Besten von ihnen, die I nteressantesten, tun es mit dem zerbeultem Pathos eines Einzelnen in unsicherer Partei: „Ein abscheulicher Kerl, hol’s der Teufel“, wobei sich, je machtloser die Menschen sind, die da aufeinander schimpfen (oder sich auf diese Weise Komplimente geben), ins Pathos auch der Ausdruck der Hilflosigkeit mischt – denn wer nimmt schon Rücksicht auf das einfache Volk, wenn die Heere über die Brücke ziehen? Und geht mit der technischen Moderne, die mit dem Sieg Österreichs nach 1878 in diesem Grenzland einzieht, mit der Eisenbahn, den Hotels und Handwerkern, nicht auch etwas Angenehmes verloren, nämlich die Weltvergessenheit einer alt gewordenen muslimischen Toleranz?
Gewiss, es verbirgt sich ein Nationalroman in diesem Buch. Und Karl-Markus Gauß hat recht, wenn er in seinem Nachwort schreibt, Ivo Andric bewerte alle historischen Ereignisse, die er in seinem Werk beschreibt, danach, was sie für einen jugoslawischen Staat bedeuteten. Diesen aber gab es nicht zur Zeit der Niederschrift, er ist allenfalls Hoffnung, Traum von einem Zustand der Versöhnung und insofern aller Geographie, aller Politik entzogen. Tatsächlich verhindert der Autor den Nationalroman im selben Augenblick, in dem er Gestalt annehmen könnte. Denn so viele Wanderungen, historische, soziale, kulturelle, ethnische hält keine Nation aus. Buchstäblich.
Im Frühjahr 1941 musste Ivo Andric, der Botschafter des Königreichs Jugoslawien in Berlin, dem Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt beiwohnen, dem kurz darauf die Eroberung seines Landes durch die Wehrmacht folgte. Seinen Roman „Die Brücke über die Drina“ schrieb er, neben zwei weiteren Büchern, in den folgenden Jahren, zurückgezogen in Belgrad lebend. „Wie oft in der menschlichen Geschichte“, heißt es im Roman über den Beginn des Ersten Weltkriegs, „waren Gewalt und Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden.“ Doch Vorsicht, das ist kein pazifistisches Programm, sondern folgt demselben Gedanken wie die Schilderung der Menschen auf der Brücke. Ivo Andric war kein Partisan, und es ist unsicher, ob er mit den Partisanen sympathisierte. Aber mit dem Partisanentum halten es alle seine Figuren, und auch: mit dem Partisanentum wider sich selbst.
Denn der Partisan ist einfach. Aus der Einfachheit resultiert seine Schwäche, nämlich das Unreflektierte, das Archaische und Halbverrückte, das ihn in hysterischer Höhe dazu treibt, echte wie eingebildete Feinde mit derselben Rücksichtslosigkeit zu bekämpfen und gleichermaßen erbittert auch noch gegen die eigenen Leute vorzugehen. Aus der Einfachheit aber entsteht auch seine Stärke, die Kraft, sich aus dem Sozialen zu entbinden, es abzustoßen zugunsten einer allenfalls vage existierenden, nie gesicherten Bruderschaft.
Den Partisanen an der Macht will man deshalb nicht erleben, und es hat von dieser Art vermutlich zu viele gegeben im ehemaligen Jugoslawien, wütende Nationalisten, die in jedem anderen den Verrat und den Betrug witterten. Wie aber ist es mit dem schwachen, mit dem verminderten Partisanen, mit dem verlorenen Krieger ohne Kampf? Er ist, ästhetisch wie womöglich auch lebenspraktisch, eine interessante Gestalt – und um so mehr in seiner reflektierten Form: eine Figur in schwebender Schiefe, ein Blechbläser, der den Krieg überlebt hat, und sein Horn gleicht einem alten Eimer.
Es gibt viele solche Gestalten in der „Brücke über die Drina“, den italienischen Kunstmaler Pietro Salo zum Beispiel, der mit den Österreichern nach Bosnien kommt und dann nicht über die Tatsache hinwegkommt, dass ausgerechnet ein Italiener die Kaiserin Elisabeth ermordet. Den Säufer Corkan, der sich in eine Tänzerin aus einem vorbeiziehenden Zirkus verliebt und dann in die Totenlegenden eingeht, die von Anfang an die Geschichte der Brücke begleiten.
Im selben Maße nun, wie die historischen und politischen Referenzen dieses Buchs in die Vergangenheit rücken, wie es kein Jugoslawien mehr gibt und kein Serbokroatisch mehr (die Sprache, die im Jahr 1955 im Abkommen von Novi Sad zum gemeinsamen Idiom der Serben, Kroaten und Montenegriner erklärt wurde; Ivo Andric war der erste Unterzeichner dieses Vertrags), im selben Maße auch, wie der Balkan sich in einen Fleckenteppich kleiner Staaten mit engen Bindungen an die Europäische Union verwandelt – im selben Maße nimmt auch dieses Buch partisanenhafte Züge an: Denn auch die Brücke ist einfach, kein Symbol, sondern ein Ding, schlicht da, aus alten Steinen gefügt, vom Hochwasser bedroht und zunehmend allein.
Der Roman endet mit der Sprengung der Brücke durch die Österreicher, im Jahr 1914, am siebten Pfeiler. Selbstverständlich wurde sie wieder aufgebaut. Aber längst gibt es andere Brücken über die Drina, und auf dieser verkehren nur noch die Fußgänger.
Ja, es steckt ein Nationalroman
in diesem Buch, aber der
Autor lässt ihn ungeschrieben
Ein Blechbläser, der
den Krieg überlebt hat, mit
zerbeultem Horn
Die Brücke über die Drina ist einfach. Sie ist kein
Symbol, sondern ein Ding, schlicht da, aus alten
Steinen gefügt, vom
Hochwasser bedroht und
zunehmend allein.
Foto: Mark Owen/
plain-picture/Arcangle
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wider sich selbst
Abscheuliche Kerle holt der Teufel: Ivo Andric’ großer Roman
„Die Brücke über die Drina“ Von Thomas Steinfeld
Die Brücke über die Drina ist fast zweihundert Meter lang und gut sechs Meter breit. In elf Bögen überspannt sie den Fluss. Zwei Balkons in der Mitte schufen Platz für Grenzposten, für einen Kaffeeausschenker wie für nächtlich singende Burschen, und jedem Pfeiler ist ein Bug vorgemauert, damit der Bauer starken vertikalen Kräften, der Strömung, widersteht. Das lässt sich auch allegorisch verstehen: „Wenn man sagt ,verbindet‘“, schreibt Ivo Andric in seinem Roman über diese Brücke, „dann ist das schlechterdings dasselbe, als sagte man: Die Sonne geht morgens auf, damit wir Menschen uns umsehen und die notwendigen Arbeiten verrichten können, und sie geht abends unter, damit wir schlafen und uns von den Mühen des Tages ausruhen können. Denn diese große, steinerne Brücke, dieses wertvolle Bauwerk einzigartiger Schönheit, . . . ist der einzige dauerhafte und sichere Übergang am ganzen oberen und mittleren Lauf der Drina und die unentbehrliche Spange auf dem Weg, der Bosnien mit Serbien und, über Serbien hinaus, auch mit den übrigen Teilen des Türkischen Reiches bis nach Stambul verbindet.“ In der Nachbarschaft dieser Brücke verbrachte Ivo Andric, 1892 als Kind einer kroatischen Familie in Travnik, zweihundert Kilometer weiter nordöstlich, geboren, nur seine frühe Schulzeit. Gelebt hat er dann woanders, in späteren Jahren vor allem in Belgrad.
Die „Brücke über die Drina“ ist ein altes Buch. Zuerst im Jahr 1945 veröffentlicht und 1953 ins Deutsche übersetzt, trug es seinem Autor 1961 den Nobelpreis für Literatur ein. Es ist seitdem auch auf Deutsch immer in mehreren Ausgaben zugänglich gewesen. Wenn es indessen jetzt noch einmal veröffentlicht worden ist, gebunden und mit einem lehrreichen Nachwort von Karl-Markus Gauß versehen, dann liegt das nicht nur daran, dass solche Bücher ein langes und vielfältiges Leben haben müssen, oder daran, dass Serbien in diesem Jahr das Gastland der Leipziger Buchmesse ist.
Es gibt einen besseren Grund, und er erschließt sich erst, wenn man tief in dieses Werk hineingelesen hat: Die Welt, von der dieses Buch handelt, ist in den vergangenen Jahren auf bemerkenswerte Weise geschrumpft, sie ist nicht verschwunden, sondern klein geworden, und nicht nur klein, sondern auch einsam. Aus diesem Schrumpfen ins Unbedeutende, ja ins schon Abseitige entsteht ein eigener Reiz, eine heroische Verlorenheit, nicht unähnlich dem schwankenden, verbeulten Pathos, das der ebenfalls aus Bosnien stammende kroatische Serbe Goran Bregovic heute seinen Kompositionen für balkanische Blaskapellen und trunkene Chöre verleiht.
Denn den Staat Jugoslawien, dem Ivo Andric diente und dienen wollte, zuerst dem Jugoslawien des Königs und dann dem der Sozialistischen Republik, gibt es nicht mehr. Serbien, die politische Instanz, die bis zuletzt an der Idee einer zentralistisch verfassten, sich über mehrere Ethnien erstreckenden Macht festhielt und darüber nicht nur zu aller Welt Feind, sondern zu einer Filiale des Bösen wurde, hat sich in einen kleinen Staat verwandelt, der sich, Schritt für Schritt, der Europäischen Union nähert. Was immer dagegen der Roman von der „Brücke über die Drina“ in den vergangenen Jahrzehnten Anlass zu beschwören gab: die (mehr oder minder) friedliche Begegnung von christlichem Abendland und islamischem Orient, Habsburger und Osmanischem Reich, von Aufstieg und Niedergang Österreich-Ungarns, auch die Hoffnung auf einen „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, für den der Vielvölkerstaat Jugoslawien mit seinen Arbeiterräten stand, ja schließlich auch die Idee von „Mitteleuropa“ und einer den halben Kontinent übergreifenden Ökumene der Dichter und Gelehrten – das alles ist, sagen wir: einer bestenfalls realistischen Betrachtung politischer, kultureller und ethnischer „Verbindungen“ gewichen. Aber die Sonne geht auf, und sie geht unter. Zurück also bleibt: die Brücke.
Es ist die gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts errichtete Brücke, deren Bau, in der Revolte Einzelner gegen die (urbane) türkische Herrschaft, ein Bauer zu verhindern sucht, indem er nachts niederreißt, was tagsüber geschaffen wurde – wofür er gepfählt wird. Es ist die Brücke, an die der starrköpfige Alihoza genagelt wird, mit seinem Ohr, als die Österreicher im Jahr 1878 Višegrad erobern und er sich dem bewaffneten Widerstand widersetzt. Und es ist die Brücke, auf der ein Wachhabender, ein junger russischer Soldat, sich so sehr in ein muslimisches Mädchen verliebt, dass er nicht bemerkt, wie sie einen Gesetzlosen nach Bosnien eskortiert – was ihn das Leben kostet, weil er die Schande einer dienstlichen Verfehlung nicht erträgt.
Um die hundert Menschen führt Ivo Andric über die Brücke, Muslime und Orthodoxe, Juden, Katholiken und Ungläubige aller Art, alte und junge Menschen, Männer und Frauen, Bauern, Händler und Soldaten. Aber wenn es wirklich darauf ankommt, wenn der Autor ihnen erlaubt, sich aus der Gruppe zu lösen und ihr Gesicht zu zeigen, stehen sie alle für sich selbst, und die Besten von ihnen, die I nteressantesten, tun es mit dem zerbeultem Pathos eines Einzelnen in unsicherer Partei: „Ein abscheulicher Kerl, hol’s der Teufel“, wobei sich, je machtloser die Menschen sind, die da aufeinander schimpfen (oder sich auf diese Weise Komplimente geben), ins Pathos auch der Ausdruck der Hilflosigkeit mischt – denn wer nimmt schon Rücksicht auf das einfache Volk, wenn die Heere über die Brücke ziehen? Und geht mit der technischen Moderne, die mit dem Sieg Österreichs nach 1878 in diesem Grenzland einzieht, mit der Eisenbahn, den Hotels und Handwerkern, nicht auch etwas Angenehmes verloren, nämlich die Weltvergessenheit einer alt gewordenen muslimischen Toleranz?
Gewiss, es verbirgt sich ein Nationalroman in diesem Buch. Und Karl-Markus Gauß hat recht, wenn er in seinem Nachwort schreibt, Ivo Andric bewerte alle historischen Ereignisse, die er in seinem Werk beschreibt, danach, was sie für einen jugoslawischen Staat bedeuteten. Diesen aber gab es nicht zur Zeit der Niederschrift, er ist allenfalls Hoffnung, Traum von einem Zustand der Versöhnung und insofern aller Geographie, aller Politik entzogen. Tatsächlich verhindert der Autor den Nationalroman im selben Augenblick, in dem er Gestalt annehmen könnte. Denn so viele Wanderungen, historische, soziale, kulturelle, ethnische hält keine Nation aus. Buchstäblich.
Im Frühjahr 1941 musste Ivo Andric, der Botschafter des Königreichs Jugoslawien in Berlin, dem Beitritt Jugoslawiens zum Dreimächtepakt beiwohnen, dem kurz darauf die Eroberung seines Landes durch die Wehrmacht folgte. Seinen Roman „Die Brücke über die Drina“ schrieb er, neben zwei weiteren Büchern, in den folgenden Jahren, zurückgezogen in Belgrad lebend. „Wie oft in der menschlichen Geschichte“, heißt es im Roman über den Beginn des Ersten Weltkriegs, „waren Gewalt und Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden.“ Doch Vorsicht, das ist kein pazifistisches Programm, sondern folgt demselben Gedanken wie die Schilderung der Menschen auf der Brücke. Ivo Andric war kein Partisan, und es ist unsicher, ob er mit den Partisanen sympathisierte. Aber mit dem Partisanentum halten es alle seine Figuren, und auch: mit dem Partisanentum wider sich selbst.
Denn der Partisan ist einfach. Aus der Einfachheit resultiert seine Schwäche, nämlich das Unreflektierte, das Archaische und Halbverrückte, das ihn in hysterischer Höhe dazu treibt, echte wie eingebildete Feinde mit derselben Rücksichtslosigkeit zu bekämpfen und gleichermaßen erbittert auch noch gegen die eigenen Leute vorzugehen. Aus der Einfachheit aber entsteht auch seine Stärke, die Kraft, sich aus dem Sozialen zu entbinden, es abzustoßen zugunsten einer allenfalls vage existierenden, nie gesicherten Bruderschaft.
Den Partisanen an der Macht will man deshalb nicht erleben, und es hat von dieser Art vermutlich zu viele gegeben im ehemaligen Jugoslawien, wütende Nationalisten, die in jedem anderen den Verrat und den Betrug witterten. Wie aber ist es mit dem schwachen, mit dem verminderten Partisanen, mit dem verlorenen Krieger ohne Kampf? Er ist, ästhetisch wie womöglich auch lebenspraktisch, eine interessante Gestalt – und um so mehr in seiner reflektierten Form: eine Figur in schwebender Schiefe, ein Blechbläser, der den Krieg überlebt hat, und sein Horn gleicht einem alten Eimer.
Es gibt viele solche Gestalten in der „Brücke über die Drina“, den italienischen Kunstmaler Pietro Salo zum Beispiel, der mit den Österreichern nach Bosnien kommt und dann nicht über die Tatsache hinwegkommt, dass ausgerechnet ein Italiener die Kaiserin Elisabeth ermordet. Den Säufer Corkan, der sich in eine Tänzerin aus einem vorbeiziehenden Zirkus verliebt und dann in die Totenlegenden eingeht, die von Anfang an die Geschichte der Brücke begleiten.
Im selben Maße nun, wie die historischen und politischen Referenzen dieses Buchs in die Vergangenheit rücken, wie es kein Jugoslawien mehr gibt und kein Serbokroatisch mehr (die Sprache, die im Jahr 1955 im Abkommen von Novi Sad zum gemeinsamen Idiom der Serben, Kroaten und Montenegriner erklärt wurde; Ivo Andric war der erste Unterzeichner dieses Vertrags), im selben Maße auch, wie der Balkan sich in einen Fleckenteppich kleiner Staaten mit engen Bindungen an die Europäische Union verwandelt – im selben Maße nimmt auch dieses Buch partisanenhafte Züge an: Denn auch die Brücke ist einfach, kein Symbol, sondern ein Ding, schlicht da, aus alten Steinen gefügt, vom Hochwasser bedroht und zunehmend allein.
Der Roman endet mit der Sprengung der Brücke durch die Österreicher, im Jahr 1914, am siebten Pfeiler. Selbstverständlich wurde sie wieder aufgebaut. Aber längst gibt es andere Brücken über die Drina, und auf dieser verkehren nur noch die Fußgänger.
Ja, es steckt ein Nationalroman
in diesem Buch, aber der
Autor lässt ihn ungeschrieben
Ein Blechbläser, der
den Krieg überlebt hat, mit
zerbeultem Horn
Die Brücke über die Drina ist einfach. Sie ist kein
Symbol, sondern ein Ding, schlicht da, aus alten
Steinen gefügt, vom
Hochwasser bedroht und
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Foto: Mark Owen/
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