Frankfurter Allgemeine ZeitungGanz unten
Heimschläfer auf Höllenfahrt: Die Belletristik in diesem Herbst
Kurz und Gut steht jeden Morgen an der Ecke und erzählt. Man nennt ihn Kurz und Gut, weil er, ständig hustend und lungenkrank, nicht mehr ausreichend Luft für eine ausführliche Erzählung hat. "Also kurz und gut, sagte er dann: Viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter." So rezitiert er wörtlich den Beginn von Dostojewskis "Idiot" und erzählt dann, kurz und gut, dessen Quintessenz in einem einzigen Satz. Dieser Kurz und Gut ist nur eine der unvergeßlichen Figuren in Dieter Fortes neuem Roman "Auf der anderen Seite der Welt" (S. Fischer), eine Gestalt wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der sich ins Nachkriegs-Düsseldorf verirrt hat. Wie alle diese Figuren ist er ein Führer in die Unterwelt. Zu Beginn des Romans reist der Erzähler, das Kind aus Fortes autobiographischer Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern", ans Meer, in ein Lungensanatorium, eine Hadesfahrt ohne Wiederkehr. Fortes Buch ist eines der düstersten dieses Herbstes und zugleich eines der reichsten, eine postapokalyptische Version des "Zauberbergs", die die "Stunde Null" nicht als Tor zu hellen Wirtschaftswundertagen versteht, sondern als schwarzes Loch, das Vergangenheit wie Zukunft in seinen Sog reißt.
Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken. Es ist kein Zufall, daß eine der interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, "Höllenfahrten" von Isabel Platthaus (Wilhelm Fink), die "Unterwelten der Moderne" von Joyce bis Pynchon ausmißt. Der Abstieg in die Unterwelt ist stets auch ein Blick in die Tiefe der eigenen Seele und die Untiefen der Vergangenheit.
"Da geht's gleich richtig in den Schacht", nennt das Lutz Schaper, eine der Hauptfiguren in Antje Rávic Strubels Roman "Tupolew 134", der auf einem authentischen Fall beruht: 1978 entführten zwei DDR-Bürger eine polnische Linienmaschine auf dem Rückflug nach Schönefeld und zwangen sie zur Landung in Tegel. Wie Strubel die bleierne Atmosphäre jener Jahre sinnlich heraufbeschwört und zugleich die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit demonstriert, ist virtuos. Der "Schacht" wird dabei zur zentralen Metapher der Erinnerung, immer wieder geht es nach "ganz unten", wo die Grenzen der Dinge und alle Gewißheiten verschwimmen.
Nicht nur für DDR-Bürger war West-Berlin ein Sehnsuchtsort. Auch mancher bundesrepublikanischer Wehrpflichtiger entzog sich so der Einberufung. Der zweite Roman von Sven Regener "Neue Vahr Süd" (Eichborn) liefert die Vorgeschichte seines Herrn Lehmann nach, der in den frühen Achtzigern nahe bei Bremen zum Bund muß. "Die ihr antretet, laßt alle Hoffnung fahren" könnte hier über dem Kasernentor stehen. Regener liefert die burleske Variante der Höllenfahrt, die immer pünktlich am Wochenende unterbrochen wird. Doch als Heimschläfer kann er nicht sicher sein, ob seine versifftes WG-Zimmer nicht in Wahrheit der allerunterste Kreis der Hölle ist.
Das gleiche gilt für jenen diabolischen Sexclub namens "Klapsmühle", den Abel Nema in Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage" (Luchterhand) betritt und nur nackt und zerschunden wieder verläßt. Schlagender als durch Moras grandioses Panorama unserer Epoche der Fluchten und Vertreibungen mit seiner Vielzahl faszinierender Figuren und Geschichten läßt sich das Motto von Kurz und Gut nicht beweisen. Eine ähnliche Stoffülle bietet Thomas Brussig in "Wie es leuchtet" (S. Fischer) auf. Doch der vermeintlich ultimative Wenderoman demonstriert, daß allein die Addition von Episoden noch lange kein Zeitpanorama macht.
Die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss ging ja aus dem Plan hervor, Dantes "Commedia" für das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben. Der dunkelste Schreckensort war hier Plötzensee, die Schlachtstätte der Hitler-Attentäter. F. C. Delius erinnert in "Mein Jahr als Mörder" (Rowohlt Berlin) an das Schicksal des Widerständlers Georg Groscurth, der im Mai 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde und dessen Sohn ein Kindheitsfreund des Autors war. Als 1968 der NS-Richter freigesprochen wird, faßt der Erzähler den Entschluß zur Selbstjustiz. An '68 arbeiten sich gleich mehrere Generationen ab: Gerhard Seyfried, Jahrgang 1948, stellt sich noch einmal unter den "Schwarzen Stern der Tupamaros" (Eichborn), Sophie Dannenberg, geboren 1971, klagt im Namen der unter Spätfolgen leidenden Kinder "Das bleiche Herz der Revolution" an (DVA), und Peter Rühmkorf (1929) veröffentlicht seine Tagebücher 1971/72 (Rowohlt).
Wer hierzulande familiengeschichtliche Grabungen anstellt, stößt irgendwann immer auf eine Kammer des Schreckens. Martin Pollack forscht seinem Vater nach, einem später wohl von Partisanen 1947 ermordeten SS-Offizier und Kriegsverbrecher ("Der Tote im Bunker", Zsolnay). Jakob Hein dagegen erinnert sich anrührend an seine verstorbene Mutter und erkundet dabei die jüdischen Wurzeln der Familie im Dritten Reich ("Vielleicht ist es sogar schön", Piper). Auch einige der wichtigsten Übersetzungen sind Familienromane, doch wer hier angesichts der Titel Erbaulicheres erwartet, täuscht sich: Über der "Liebe" in Toni Morissons gleichnamigem Roman (Rowohlt) scheint ein Fluch zu liegen; in Amoz Oz' gewaltiger "Geschichte von Liebe und Finsternis" (Suhrkamp) droht den knapp den europäischen Schrecken entronnenen Juden in Palästina erneut die Vernichtung. Daß der Amerikaner Denis Johnson nicht allzu optimistisch in die Welt blickt, ist aus seiner Novelle "Train Dreams" (Mare) in aller Konzentration abermals zu erfahren. Endlich übersetzt wurde "Der Besen im System", der hintersinnig-irrsinnige Debütroman des genialischen David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch). Im Osten Europas taugt der Fortschritt schon lange nur noch als Groteskenstoff. Der Tscheche Péter Zilahy blickt in seinem verspielten "Revolutions-Alphabet" "Die letzte Fenstergiraffe" (Eichborn) mit Kinderblick auf das ehemalige Jugoslawien. Viktor Pelewin stellt in "Die Dialektik der Übergangsepoche von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" (Luchterhand) den ganzen postkommunistischen Aberwitz Rußlands bloß. "Das jetzige System nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus", so heißt es bei Forte.
Nicht nur die deutsche Literatur also hat jeden Glauben an Fortschritt und Vervollkommnung längst aufgegeben. Das bevorstehende Schiller-Jahr dürfte spannend werden: Zwar ist Schiller ja selbst vor allem in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" der schärfste Fortschrittskritiker gewesen, hatte aber doch mit allem Pathos die Kunst als Remedium inthronisiert. Vielleicht ist ja der "ästhetische Zustand", als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, gar nicht so weit weg von Pelewins buddhistischer Weltentrücktheit. Neben neuen Werkausgaben erscheinen zwei Biographien: Während Sigrid Damm (Insel) eher das Private erkundet, nimmt Rüdiger Safranski (Hanser) eine ambitionierte Rekonstruktion des Schillerschen Idealismus vor.
Und wo versteckt sich in der Gegenwart das Positive? Natürlich in der literarischen Form - und in der Liebe, die ja auch nur eine Funktion der Sprache ist. Marion Poschmanns Buch "Grund zu Schafen" (Frankfurter Verlagsanstalt) ist einer der wichtigsten Gedichtbände der letzten Zeit und markiert die Rückkehr einer Naturlyrik auf höchstem Sprach- und Reflexionsniveau. Diese in wunderbaren, manchmal zunächst dunklen, dann blitzartig klaren Sprachbildern eingefangene Natur erobert sich auch hier die resignierende industrielle Zivilisation zurück. Und wo die Biologie kein Rätsel mehr offenläßt, muß die Sprache die Welt ins Wundersame und Märchenhafte überführen.
Ein Programm, das auch die große Naturerzählerin Brigitte Kronauer unterschreiben würde. Sie hat mit "Verlangen nach Musik und Gebirge" (Klett-Cotta) einen ausgelassenen, entrückten Liebesverwirrungsroman geschrieben. Wie bei Forte beginnt das Buch mit einer seltsamen Reise ans Meer, nach Oostende. Und wenn man diese beiden Zugfahrten nacheinander liest, dann hat man fast schon das ganze Spektrum dieses Herbstes aufgefächert.
RICHARD KÄMMERLINGS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Heimschläfer auf Höllenfahrt: Die Belletristik in diesem Herbst
Kurz und Gut steht jeden Morgen an der Ecke und erzählt. Man nennt ihn Kurz und Gut, weil er, ständig hustend und lungenkrank, nicht mehr ausreichend Luft für eine ausführliche Erzählung hat. "Also kurz und gut, sagte er dann: Viele kurze Geschichten ergeben auch eine lange, ist vielleicht auch interessanter." So rezitiert er wörtlich den Beginn von Dostojewskis "Idiot" und erzählt dann, kurz und gut, dessen Quintessenz in einem einzigen Satz. Dieser Kurz und Gut ist nur eine der unvergeßlichen Figuren in Dieter Fortes neuem Roman "Auf der anderen Seite der Welt" (S. Fischer), eine Gestalt wie ein orientalischer Geschichtenerzähler, der sich ins Nachkriegs-Düsseldorf verirrt hat. Wie alle diese Figuren ist er ein Führer in die Unterwelt. Zu Beginn des Romans reist der Erzähler, das Kind aus Fortes autobiographischer Trilogie "Das Haus auf meinen Schultern", ans Meer, in ein Lungensanatorium, eine Hadesfahrt ohne Wiederkehr. Fortes Buch ist eines der düstersten dieses Herbstes und zugleich eines der reichsten, eine postapokalyptische Version des "Zauberbergs", die die "Stunde Null" nicht als Tor zu hellen Wirtschaftswundertagen versteht, sondern als schwarzes Loch, das Vergangenheit wie Zukunft in seinen Sog reißt.
Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken. Es ist kein Zufall, daß eine der interessantesten literaturwissenschaftlichen Neuerscheinungen, "Höllenfahrten" von Isabel Platthaus (Wilhelm Fink), die "Unterwelten der Moderne" von Joyce bis Pynchon ausmißt. Der Abstieg in die Unterwelt ist stets auch ein Blick in die Tiefe der eigenen Seele und die Untiefen der Vergangenheit.
"Da geht's gleich richtig in den Schacht", nennt das Lutz Schaper, eine der Hauptfiguren in Antje Rávic Strubels Roman "Tupolew 134", der auf einem authentischen Fall beruht: 1978 entführten zwei DDR-Bürger eine polnische Linienmaschine auf dem Rückflug nach Schönefeld und zwangen sie zur Landung in Tegel. Wie Strubel die bleierne Atmosphäre jener Jahre sinnlich heraufbeschwört und zugleich die Unmöglichkeit einer authentischen Rekonstruktion der Vergangenheit demonstriert, ist virtuos. Der "Schacht" wird dabei zur zentralen Metapher der Erinnerung, immer wieder geht es nach "ganz unten", wo die Grenzen der Dinge und alle Gewißheiten verschwimmen.
Nicht nur für DDR-Bürger war West-Berlin ein Sehnsuchtsort. Auch mancher bundesrepublikanischer Wehrpflichtiger entzog sich so der Einberufung. Der zweite Roman von Sven Regener "Neue Vahr Süd" (Eichborn) liefert die Vorgeschichte seines Herrn Lehmann nach, der in den frühen Achtzigern nahe bei Bremen zum Bund muß. "Die ihr antretet, laßt alle Hoffnung fahren" könnte hier über dem Kasernentor stehen. Regener liefert die burleske Variante der Höllenfahrt, die immer pünktlich am Wochenende unterbrochen wird. Doch als Heimschläfer kann er nicht sicher sein, ob seine versifftes WG-Zimmer nicht in Wahrheit der allerunterste Kreis der Hölle ist.
Das gleiche gilt für jenen diabolischen Sexclub namens "Klapsmühle", den Abel Nema in Terézia Moras erstem Roman "Alle Tage" (Luchterhand) betritt und nur nackt und zerschunden wieder verläßt. Schlagender als durch Moras grandioses Panorama unserer Epoche der Fluchten und Vertreibungen mit seiner Vielzahl faszinierender Figuren und Geschichten läßt sich das Motto von Kurz und Gut nicht beweisen. Eine ähnliche Stoffülle bietet Thomas Brussig in "Wie es leuchtet" (S. Fischer) auf. Doch der vermeintlich ultimative Wenderoman demonstriert, daß allein die Addition von Episoden noch lange kein Zeitpanorama macht.
Die "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss ging ja aus dem Plan hervor, Dantes "Commedia" für das zwanzigste Jahrhundert zu schreiben. Der dunkelste Schreckensort war hier Plötzensee, die Schlachtstätte der Hitler-Attentäter. F. C. Delius erinnert in "Mein Jahr als Mörder" (Rowohlt Berlin) an das Schicksal des Widerständlers Georg Groscurth, der im Mai 1944 mit dem Fallbeil hingerichtet wurde und dessen Sohn ein Kindheitsfreund des Autors war. Als 1968 der NS-Richter freigesprochen wird, faßt der Erzähler den Entschluß zur Selbstjustiz. An '68 arbeiten sich gleich mehrere Generationen ab: Gerhard Seyfried, Jahrgang 1948, stellt sich noch einmal unter den "Schwarzen Stern der Tupamaros" (Eichborn), Sophie Dannenberg, geboren 1971, klagt im Namen der unter Spätfolgen leidenden Kinder "Das bleiche Herz der Revolution" an (DVA), und Peter Rühmkorf (1929) veröffentlicht seine Tagebücher 1971/72 (Rowohlt).
Wer hierzulande familiengeschichtliche Grabungen anstellt, stößt irgendwann immer auf eine Kammer des Schreckens. Martin Pollack forscht seinem Vater nach, einem später wohl von Partisanen 1947 ermordeten SS-Offizier und Kriegsverbrecher ("Der Tote im Bunker", Zsolnay). Jakob Hein dagegen erinnert sich anrührend an seine verstorbene Mutter und erkundet dabei die jüdischen Wurzeln der Familie im Dritten Reich ("Vielleicht ist es sogar schön", Piper). Auch einige der wichtigsten Übersetzungen sind Familienromane, doch wer hier angesichts der Titel Erbaulicheres erwartet, täuscht sich: Über der "Liebe" in Toni Morissons gleichnamigem Roman (Rowohlt) scheint ein Fluch zu liegen; in Amoz Oz' gewaltiger "Geschichte von Liebe und Finsternis" (Suhrkamp) droht den knapp den europäischen Schrecken entronnenen Juden in Palästina erneut die Vernichtung. Daß der Amerikaner Denis Johnson nicht allzu optimistisch in die Welt blickt, ist aus seiner Novelle "Train Dreams" (Mare) in aller Konzentration abermals zu erfahren. Endlich übersetzt wurde "Der Besen im System", der hintersinnig-irrsinnige Debütroman des genialischen David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch). Im Osten Europas taugt der Fortschritt schon lange nur noch als Groteskenstoff. Der Tscheche Péter Zilahy blickt in seinem verspielten "Revolutions-Alphabet" "Die letzte Fenstergiraffe" (Eichborn) mit Kinderblick auf das ehemalige Jugoslawien. Viktor Pelewin stellt in "Die Dialektik der Übergangsepoche von Nirgendwoher nach Nirgendwohin" (Luchterhand) den ganzen postkommunistischen Aberwitz Rußlands bloß. "Das jetzige System nannte sich Fortschritt, drehte sich aber Schritt für Schritt nur im Kreis, was natürlich keiner bemerkte, es ging ja immer so schön geradeaus", so heißt es bei Forte.
Nicht nur die deutsche Literatur also hat jeden Glauben an Fortschritt und Vervollkommnung längst aufgegeben. Das bevorstehende Schiller-Jahr dürfte spannend werden: Zwar ist Schiller ja selbst vor allem in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung" der schärfste Fortschrittskritiker gewesen, hatte aber doch mit allem Pathos die Kunst als Remedium inthronisiert. Vielleicht ist ja der "ästhetische Zustand", als Harmonie von Sinnlichkeit und Vernunft, gar nicht so weit weg von Pelewins buddhistischer Weltentrücktheit. Neben neuen Werkausgaben erscheinen zwei Biographien: Während Sigrid Damm (Insel) eher das Private erkundet, nimmt Rüdiger Safranski (Hanser) eine ambitionierte Rekonstruktion des Schillerschen Idealismus vor.
Und wo versteckt sich in der Gegenwart das Positive? Natürlich in der literarischen Form - und in der Liebe, die ja auch nur eine Funktion der Sprache ist. Marion Poschmanns Buch "Grund zu Schafen" (Frankfurter Verlagsanstalt) ist einer der wichtigsten Gedichtbände der letzten Zeit und markiert die Rückkehr einer Naturlyrik auf höchstem Sprach- und Reflexionsniveau. Diese in wunderbaren, manchmal zunächst dunklen, dann blitzartig klaren Sprachbildern eingefangene Natur erobert sich auch hier die resignierende industrielle Zivilisation zurück. Und wo die Biologie kein Rätsel mehr offenläßt, muß die Sprache die Welt ins Wundersame und Märchenhafte überführen.
Ein Programm, das auch die große Naturerzählerin Brigitte Kronauer unterschreiben würde. Sie hat mit "Verlangen nach Musik und Gebirge" (Klett-Cotta) einen ausgelassenen, entrückten Liebesverwirrungsroman geschrieben. Wie bei Forte beginnt das Buch mit einer seltsamen Reise ans Meer, nach Oostende. Und wenn man diese beiden Zugfahrten nacheinander liest, dann hat man fast schon das ganze Spektrum dieses Herbstes aufgefächert.
RICHARD KÄMMERLINGS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche ZeitungDie bösen Kühlschränke
David Foster Wallace Roman „Der Besen im System”
Es ist achtzehn Jahre her, seit der 1962 geborene Creative-Writing-Student David Foster Wallace seinen ersten Roman „The Broom of the System” veröffentlichte. Jetzt erscheint das Buch als „Der Besen im System” in Übersetzung von Marcus Ingendaay auf Deutsch. Wallace spätere Romane, darunter „Infinite Jest” (1996), werden folgen. Damit wird ein Stückchen amerikanische Literaturgeschichte in deutscher Sprache nachvollzogen, denn Wallace ist als Nachfolger der amerikanischen Nachmodernen Gaddis, DeLillo, Barth und Pynchon schon heute ein kleiner Klassiker.
„Der Besen im System” liest sich wie eine bei Prof. Pynchon geschriebene Qualifikationsschrift. Ihre Gedanken und Verfahren sind vor allem den frühen Werken des Meisters, „V” und „Die Versteigerung von Nummer 49”, entlehnt. Es kommt vor, dass die Genres und Register zwischen zwei Absätzen so schroff wechseln, dass man auf den Gedanken kommen kann, ein anderes Buch zur Hand genommen zu haben. Lebendiges benimmt sich bisweilen wie Unbelebtes und umgekehrt. Und die Paranoia, die in jedem Sinnesdatum ein Zeichen sieht, das auf ein anderes Zeichen weist usw., bis der Verdacht auf einen „evil designer” steinhart zu sein scheint, ist auch hier Konstruktionsprinzip. Wie beim Meister tauchen Produkte auf, die als Zeichen einer anonymen, übergeordneten Instanz am laufenden Band in die Welt gesetzt werden. Und ekelhafte Speisen gibt es auch.
Die Kaltblüterin
Das stellt sich so dar: In Cleveland, Ohio, arbeitet Lenore Beadsman, künftige Erbin des marktdominierenden Babynahrungsherstellers Stonecipheco, als Telefonistin bei dem schlecht funktionierenden und telefonisch falsch verkabelten Verlag „Frequent & Vigorous”, mit dessen Chef Rick Vigorous sie eine Beziehung führt. Geistesverwandt fühlt sie sich ihrer Urgroßmutter, die als Kaltblüter in einem 37 Grad warmen Altersheimzimmer leben muss. Jetzt ist die Uroma aus dem Heim ausgerückt, samt Vorlesungsmitschriften aus ihrer Zeit in Cambridge, wo sie bei Wittgenstein studierte. Lenore sucht nach der Verschollenen, trinkt Wein, der aus Dosen kommt, und wohnt ansonsten mit der nymphomanischen Candy Mandible und einem Vogel namens Vlad der Pfähler zusammen. Anders als ihre Vorbildfigur Oedipa Maas aus „49” neigt Lenore nicht nur zu Paranoia, sondern auch zu neurotischen Zwangshandlungen. Unter anderem möchte sie möglichst oft duschen.
Unmittelbar spürbar in dieser Geschichte sind die Nachwirkungen eines Seminars über Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen”, das Wallace vor oder während der Niederschrift besucht haben muss. Dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist, nutzt Wallace für seine Sprachspiele, in denen Wort und Gegenstand nicht zueinander passen. Lenores hilfsbereiter Bruder nennt sich „Antichrist”. Beim Verlag rufen irrtümlich Kunden von „Bambis Bondage-Katakombe” an, als hätte die Sprache auch die Technik verhext. Sprache, Technik, Mensch und Tier - hier passt nichts zusammen.
Fast schon obligatorisch, dass in Wallace Genremix die Literatur selbst auch vorkommt. Mit Rick hat Lenore keinen Sex, weil er ihr lieber an den Verlag geschickte Geschichten über Männer mit flächenmäßig voranschreitenden Hautkrankheiten, Thermosfrauen oder Männer mit ultrareinen Gefühlen erzählt. Höhepunkt ist die Kafka-Parodie „Die Metamorphose der Achtziger”: „Als Greg Sampson eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Rockstar verwandelt. Als er den Kopf ein wenig hob, sah er seine Brust, rot und lederartig bekleidet und oben mit Pailletten besetzt, dort, wo auch die Fender-Gitarre panzerartig an seine lederne Schulter geschnallt war.” Man meint den Sänger von „Kiss”, mit verquollenen Augen und beinahe bewegungsunfähig, im Bett liegen zu sehen. Vergessen, sich nach der After-After-Party im Hotelzimmer auszuziehen.
Solche Passagen sind lustig, und sie haben keinen Sinn. „Der Besen im System” ist dann auch gar nicht so sehr Wittgensteins These von der pragmatischen Natur des Sprechens verwandt, sondern eher der früheren, später überwundenen Sprachtheorie des Philosophen. Im „Tractatus” hatte Wittgenstein drei Arten von Sätzen unterschieden: sinnvolle, sinnlose und unsinnige. Sinnvoll konnten nur die Sätze der Naturwissenschaften sein, sinnlos waren die Sätze der Logik (sie sagen nichts über die Welt, zeigen aber angeblich ihr Gerüst), unsinnig die der Mystik und der Philosophie. „Der Besen im System” schlägt sich selber dem Bereich der sinnlosen Sätze zu; er sagt kaum etwas über die wirkliche Welt, lässt es sich aber nicht nehmen, ganz nebenbei ein paar Grundlagen zu skizzieren. Wallace schlägt ungefähr dieses Modell vor: Die Welt besteht aus verliebten Tausendfüßlern, die Tango tanzen, während die unsichtbare Obrigkeit - verkörpert durch sprechende Kühlschränke oder autonome Prothesen - versucht, ihnen ein Bein zu stellen. Es ist eine ziemlich sorglose, gerne auch geschmacklose, niedliche Comicvision der Welt.
Die Fluchtpunkte sind dabei Liebe und Fernsteuerung. Einerseits sind da Lenore und ihr eifersüchtiger Rick Vigorous, andererseits kommt Lenore langsam hinter eine Verschwörung der Obrigkeit (Stonecipheco), die überall lockt, zwingt und lenkt. Ricks Verlag lässt sich auf einen schmutzigen Deal mit Stonecipheco ein. Die Firma bringt gerade ein übles Nahrungsmittel auf den Markt, das Kleinkinder Jahre früher sprechen lässt. Und wer ausgerechnet isst das Zeug? Vlad der Pfähler. Und er fängt an zu sprechen wie Poes Rabe, nur nicht so eloquent: Sprechen als Wiederholen von Versatzstücken - da klingt, wie immer bei Wallace, Gesellschaftskritik an. Da wird dann doch über die Welt etwas gesagt. Als der sprechende Vogel von einem Fernsehprediger entdeckt wird und in einer täglichen Sendung die Botschaft des Herrn gewinnbringend verkünden soll, zieht Wallace mit Fernsehen und Religion gleich zwei dominante Kräfte in der amerikanischen Kultur durch den Kakao.
Gleichwohl ist „Der Besen im System” vor allem eins: eine fabuliergeile, ins Monströse getriebene Herausforderung an Geschmack und Sinnbedürfnis. Wer das Alberne auf Dauer nicht ertragen kann, darf diesen Roman nicht lesen. Aber man kann ihn schon ertragen. Ach, mehr. Er ist ein literarisch-kulinarisches Wunder: fett wie ein gegrilltes Schwein, gespickt mit Candy und Lakritz, voll Babynahrung, eingelegter Gurken etc., und weg wie nichts.
KAI WIEGANDT
DAVID FOSTER WALLACE: Der Besen im System. Roman. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2004. 624 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
David Foster Wallace Roman „Der Besen im System”
Es ist achtzehn Jahre her, seit der 1962 geborene Creative-Writing-Student David Foster Wallace seinen ersten Roman „The Broom of the System” veröffentlichte. Jetzt erscheint das Buch als „Der Besen im System” in Übersetzung von Marcus Ingendaay auf Deutsch. Wallace spätere Romane, darunter „Infinite Jest” (1996), werden folgen. Damit wird ein Stückchen amerikanische Literaturgeschichte in deutscher Sprache nachvollzogen, denn Wallace ist als Nachfolger der amerikanischen Nachmodernen Gaddis, DeLillo, Barth und Pynchon schon heute ein kleiner Klassiker.
„Der Besen im System” liest sich wie eine bei Prof. Pynchon geschriebene Qualifikationsschrift. Ihre Gedanken und Verfahren sind vor allem den frühen Werken des Meisters, „V” und „Die Versteigerung von Nummer 49”, entlehnt. Es kommt vor, dass die Genres und Register zwischen zwei Absätzen so schroff wechseln, dass man auf den Gedanken kommen kann, ein anderes Buch zur Hand genommen zu haben. Lebendiges benimmt sich bisweilen wie Unbelebtes und umgekehrt. Und die Paranoia, die in jedem Sinnesdatum ein Zeichen sieht, das auf ein anderes Zeichen weist usw., bis der Verdacht auf einen „evil designer” steinhart zu sein scheint, ist auch hier Konstruktionsprinzip. Wie beim Meister tauchen Produkte auf, die als Zeichen einer anonymen, übergeordneten Instanz am laufenden Band in die Welt gesetzt werden. Und ekelhafte Speisen gibt es auch.
Die Kaltblüterin
Das stellt sich so dar: In Cleveland, Ohio, arbeitet Lenore Beadsman, künftige Erbin des marktdominierenden Babynahrungsherstellers Stonecipheco, als Telefonistin bei dem schlecht funktionierenden und telefonisch falsch verkabelten Verlag „Frequent & Vigorous”, mit dessen Chef Rick Vigorous sie eine Beziehung führt. Geistesverwandt fühlt sie sich ihrer Urgroßmutter, die als Kaltblüter in einem 37 Grad warmen Altersheimzimmer leben muss. Jetzt ist die Uroma aus dem Heim ausgerückt, samt Vorlesungsmitschriften aus ihrer Zeit in Cambridge, wo sie bei Wittgenstein studierte. Lenore sucht nach der Verschollenen, trinkt Wein, der aus Dosen kommt, und wohnt ansonsten mit der nymphomanischen Candy Mandible und einem Vogel namens Vlad der Pfähler zusammen. Anders als ihre Vorbildfigur Oedipa Maas aus „49” neigt Lenore nicht nur zu Paranoia, sondern auch zu neurotischen Zwangshandlungen. Unter anderem möchte sie möglichst oft duschen.
Unmittelbar spürbar in dieser Geschichte sind die Nachwirkungen eines Seminars über Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen”, das Wallace vor oder während der Niederschrift besucht haben muss. Dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist, nutzt Wallace für seine Sprachspiele, in denen Wort und Gegenstand nicht zueinander passen. Lenores hilfsbereiter Bruder nennt sich „Antichrist”. Beim Verlag rufen irrtümlich Kunden von „Bambis Bondage-Katakombe” an, als hätte die Sprache auch die Technik verhext. Sprache, Technik, Mensch und Tier - hier passt nichts zusammen.
Fast schon obligatorisch, dass in Wallace Genremix die Literatur selbst auch vorkommt. Mit Rick hat Lenore keinen Sex, weil er ihr lieber an den Verlag geschickte Geschichten über Männer mit flächenmäßig voranschreitenden Hautkrankheiten, Thermosfrauen oder Männer mit ultrareinen Gefühlen erzählt. Höhepunkt ist die Kafka-Parodie „Die Metamorphose der Achtziger”: „Als Greg Sampson eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Rockstar verwandelt. Als er den Kopf ein wenig hob, sah er seine Brust, rot und lederartig bekleidet und oben mit Pailletten besetzt, dort, wo auch die Fender-Gitarre panzerartig an seine lederne Schulter geschnallt war.” Man meint den Sänger von „Kiss”, mit verquollenen Augen und beinahe bewegungsunfähig, im Bett liegen zu sehen. Vergessen, sich nach der After-After-Party im Hotelzimmer auszuziehen.
Solche Passagen sind lustig, und sie haben keinen Sinn. „Der Besen im System” ist dann auch gar nicht so sehr Wittgensteins These von der pragmatischen Natur des Sprechens verwandt, sondern eher der früheren, später überwundenen Sprachtheorie des Philosophen. Im „Tractatus” hatte Wittgenstein drei Arten von Sätzen unterschieden: sinnvolle, sinnlose und unsinnige. Sinnvoll konnten nur die Sätze der Naturwissenschaften sein, sinnlos waren die Sätze der Logik (sie sagen nichts über die Welt, zeigen aber angeblich ihr Gerüst), unsinnig die der Mystik und der Philosophie. „Der Besen im System” schlägt sich selber dem Bereich der sinnlosen Sätze zu; er sagt kaum etwas über die wirkliche Welt, lässt es sich aber nicht nehmen, ganz nebenbei ein paar Grundlagen zu skizzieren. Wallace schlägt ungefähr dieses Modell vor: Die Welt besteht aus verliebten Tausendfüßlern, die Tango tanzen, während die unsichtbare Obrigkeit - verkörpert durch sprechende Kühlschränke oder autonome Prothesen - versucht, ihnen ein Bein zu stellen. Es ist eine ziemlich sorglose, gerne auch geschmacklose, niedliche Comicvision der Welt.
Die Fluchtpunkte sind dabei Liebe und Fernsteuerung. Einerseits sind da Lenore und ihr eifersüchtiger Rick Vigorous, andererseits kommt Lenore langsam hinter eine Verschwörung der Obrigkeit (Stonecipheco), die überall lockt, zwingt und lenkt. Ricks Verlag lässt sich auf einen schmutzigen Deal mit Stonecipheco ein. Die Firma bringt gerade ein übles Nahrungsmittel auf den Markt, das Kleinkinder Jahre früher sprechen lässt. Und wer ausgerechnet isst das Zeug? Vlad der Pfähler. Und er fängt an zu sprechen wie Poes Rabe, nur nicht so eloquent: Sprechen als Wiederholen von Versatzstücken - da klingt, wie immer bei Wallace, Gesellschaftskritik an. Da wird dann doch über die Welt etwas gesagt. Als der sprechende Vogel von einem Fernsehprediger entdeckt wird und in einer täglichen Sendung die Botschaft des Herrn gewinnbringend verkünden soll, zieht Wallace mit Fernsehen und Religion gleich zwei dominante Kräfte in der amerikanischen Kultur durch den Kakao.
Gleichwohl ist „Der Besen im System” vor allem eins: eine fabuliergeile, ins Monströse getriebene Herausforderung an Geschmack und Sinnbedürfnis. Wer das Alberne auf Dauer nicht ertragen kann, darf diesen Roman nicht lesen. Aber man kann ihn schon ertragen. Ach, mehr. Er ist ein literarisch-kulinarisches Wunder: fett wie ein gegrilltes Schwein, gespickt mit Candy und Lakritz, voll Babynahrung, eingelegter Gurken etc., und weg wie nichts.
KAI WIEGANDT
DAVID FOSTER WALLACE: Der Besen im System. Roman. Aus dem Englischen von Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2004. 624 Seiten, 24,90 Euro.
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