§When Barry Fairbrother dies in his early forties, the town of Pagford is left in shock.
Pagford is, seemingly, an English idyll, with a cobbled market square and an ancient abbey, but what lies behind the pretty facade is a town at war.
Rich at war with poor, teenagers at war with their parents, wives at war with their husbands, teachers at war with their pupils... Pagford is not what it first seems.
And the empty seat left by Barry on the parish council soon becomes the catalyst for the biggest war the town has yet seen. Who will triumph in an election fraught with passion, duplicity and unexpected revelations?
A big novel about a small town, The Casual Vacancy is J.K. Rowling's first novel for adults. It is the work of a storyteller like no other.
Pagford is, seemingly, an English idyll, with a cobbled market square and an ancient abbey, but what lies behind the pretty facade is a town at war.
Rich at war with poor, teenagers at war with their parents, wives at war with their husbands, teachers at war with their pupils... Pagford is not what it first seems.
And the empty seat left by Barry on the parish council soon becomes the catalyst for the biggest war the town has yet seen. Who will triumph in an election fraught with passion, duplicity and unexpected revelations?
A big novel about a small town, The Casual Vacancy is J.K. Rowling's first novel for adults. It is the work of a storyteller like no other.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2012Schwarze Fliegen, die an Schädeln kleben
Kann man in diesen Zeiten noch einen moralischen Roman schreiben? Mitten in der englischen Provinz?
Man kann: „Ein plötzlicher Todesfall“, Joanne K. Rowlings erster Roman für Erwachsene
Auf Seite 346, nicht lang nach der Mitte des Romans, fällt der Satz, der an das Frühwerk von J. K. Rowling anschließt und die Leser, die sie mit ihren sieben „Harry Potter“-Büchern und den nachfolgenden, effektgeilen Verfilmungen sanft durch die Pubertät geleitet hat, mit der Vertreibung aus dem fantastischen Hogwarts versöhnen kann: „Gaia kam sich vor, als wäre sie durch ein Tor in ein vergessenes Land gefallen.“ Das vergessene Land aber ist diesmal nicht in einem Zauberwald zu finden, sondern in einer ohne weiteres wiedererkennbaren, wenn auch zum Glück den meisten Lesern nicht vertrauten Gegenwart.
Auch wenn sich die Autorin mit aller Gewalt von der Potterei absetzen will, schließt sie doch an die einzig wahre, die Pubertätsliteratur an. Rowlings erster Post-Potter-Roman führt erneut in ein fantastisches, den ganz und gar Erwachsenen unzugängliches Märchenreich, nur dass es diesmal bitter ernst wird. Es geht also wieder um die Leiden der Knaben, die ihr rätselhafter Körper nicht weniger quält als die Mädchen, es geht um die natürlichen Feinde, die Lehrer also und die Eltern, es geht um den Lauf der Welt.
Die ist seit je ungerecht und wird im „Plötzlichen Todesfall“ ( aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. Carlsen Verlag, 576 Seiten, 24,90 Euro ) fein säuberlich nicht nur sozial, sondern auch geografisch aufgeteilt. Da ist das „Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss, überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort“. Jenseits des Hügels liegt die immer weiter ausgreifende Stadt Yarvil. Dazwischen dehnt sich die zugebretterte, Graffiti-verschmierte und sowieso hoffnungslose Sozialsiedlung mitsamt einer Drogenklinik, der die Schließung droht.
Darum herum wird ein schockierendes Anti-Idyll aus jenem westlichen England inszeniert, in dem J. K. Rowling einst aufgewachsen ist. Zwei leicht unterscheidbare Parteien bekämpfen sich in Pagford: die Wohlhabenden, die an das Glück des Tüchtigen glauben oder es schon geerbt haben, und auf der anderen Seite die Sozialingenieure, die als Ärzte, Lehrer und Betreuer das moderne Elend zwischen Arbeitslosigkeit, medialer Überflutung und Drogensucht zu lindern suchen. Als ein freigewordener Sitz im Gemeinderat neu besetzt werden soll, wird hemmungslos intrigiert und konspiriert, wird gelogen und betrogen, als wäre die Kleinstadt keine, sondern mindestens Whitehall und das hohe Parlament.
Das sorgt oft für eine lustige comedy of manners , wenn es etwa zum gesellschaftlich wichtigen Abendessen kommt, bei dem die Schwiegermutter die verachtete Frau ihres Sohnes nach ihrer Diät fragt und diese ihren Mann bei jeder Gelegenheit als lustlosen Stießel behandelt, den sie vorzugsweise mit der DVD einer boy group und reichlich Wein betrügt. Getrunken wird überhaupt gern und immer zu viel, weil sonst niemals die Lebenslüge herauszupräparieren wäre, in der der moderne Mensch spätestens seit Ibsen gefangen ist.
Das ist oft so realitätsmimetisch wie ein Fernsehfilm und entsprechend unterhaltsam. Da entstehen lakonische Beobachtungen wie beim Anblick von Sheila, die „an einen kleinen Pfefferstreuer mit umgebundener Schürze erinnert“. Es fallen aber auch Sätze, die John Updike hätte schreiben können, wenn zum Beispiel Howard Mollisons Fettleibigkeit erklärt wird. Mit vier Jahren, als der Vater die Familie verließ, war er angemessen schmächtig. „Nachdem sein Vater fort war, musste Howard sich ans Kopfende des Tisches setzen, zwischen seine Mutter und seine Großmutter, und seine Mutter war gekränkt, wenn er keinen Nachschlag nahm. Er hatte zugenommen, allmählich die Lücke zwischen den beiden Frauen aufgefüllt, und war mit zwölf so schwer wie der Vater, der sie verlassen hatte.“
Die Namen sind nicht weniger sprechend als bei Thomas Mann: der Lokalheilige, der, um den Plot in Gang zu setzen, bereits auf den ersten Seiten sterben muss, heißt Barry Fairbrother, der Kleinstadtkönig Howard Mollison, die Schlampe aus der Sozialsiedlung Krystal Weedon. Das bürgerliche Mittelstandsleben spielt sich in der Hope Street und in der Church Row ab, die Sozialsiedlung heißt Fields, so dass jedem aufgehen wird, auf welchen Rieselfeldern sie errichtet sein muss. Auch sonst kennt die Autorin wenig Angst vor dem Klischee, wenn wie im Sozialroman seit Charles Dickens und Benjamin Disraeli die Reichen böse und die Armen wenigstens ein bisschen gut sein müssen.
Auch sprachlich übertreibt sie es manchmal, wenn sie ihrem Hang zur ausgedehnten Metapher folgt, die sich beim Schreiben besser angefühlt haben muss als beim Lesen: „Diese unangenehme und bisher verborgene Tatsache war allmählich im Kielwasser von Barrys Tod aufgetaucht, wie Treibgut, das von der Ebbe freigelegt wurde.“ „Wenn man clean war, steigt ein Schwall böser Gedanken und Erinnerungen aus der Dunkelheit in einem auf, summende schwarze Fliegen, die innen an der Schädeldecke klebten.“
Was aber neben der Feststellung, dass der „Plötzliche Todesfall“ (im Original: „The Casual Vacancy“ – „die unerwartete Vakanz“) kein weiterer „Harry Potter“ ist, den Kritikern das Buch so schwer macht, ist das kaum verhohlene Anliegen der Autorin, im Jahr 2012 einen moralischen Roman zu präsentieren. Das war dem aufgeklärten englischen Roman von George Eliot bis Muriel Spark seit jeher wichtig.
Für die Kinder, erst recht, wenn sie die Pubertät erreicht haben, kann die erwachsene Welt der Backsteinhäuser und Geranientöpfe nur die Hölle sein. Weil ihre Mutter sich verzweifelt an einen Mann hängt, von dem sie sich geliebt glaubt, wird Gaia von London aufs Land verschleppt. „Von ihren Freunden getrennt, die sie seit der Grundschule kannte, dem Haus, in dem sie seit ihrem achten Lebensjahr wohnte, von Wochenenden, die sich zunehmend um jede Art von Spaß in der Stadt drehten, sah sich Gaia trotz ihrer Bitten, Drohungen und Proteste in ein Leben geworfen, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte.“
Es ist die Szenerie, an der sich die zahlreichen Freunde von Rosemarie Pilcher berauschen würden. Da es sich aber um einen richtigen Roman handelt, lauert genau hier das Unheil. Die Schüler in Pagford maulen ständig gegen ihre hilflosen Lehrer, wenn sie die Schule nicht gleich schwänzen. Sie nehmen Drogen und treffen sich – im Roman geschieht das zu Abschreckungszwecken recht bald – zum lieblosen Geschlechtsverkehr auf dem Friedhof. „Sie war trockener als beim letzten Mal, und er zwängte sich in sie, fest entschlossen, das zu vollbringen, wozu er hergekommen war.“ Das kommt so ähnlich auch bei Wedekind vor und ist erkennbar darauf berechnet, den maximalen Abstand sowohl zum verzwitscherten Kleinstadt-Idyll wie zu den klinisch sexfreien Potter-Bänden herzustellen.
Wer will, kann auch in den Mail-Botschaften, die der „Geist von Barry Fairbrother“ an die guten Bürger von Pagford schickt, einen Rest Zauberei sehen. Die Autorin nutzt den Theatertrick, um das Gewissen schlagen zu lassen, ohne das die Bürger auskommen zu glauben. Das moralische Dreieck, das Rowling um den früh gestorbenen Barry Fairbrother zieht, besteht aus den Freunden Andrew und Stuart sowie aus der legasthenischen Schulverweigerin Krystal. Die Buben wetteifern darum, sich vor den Schulkameraden zu produzieren und ihren verachteten und gehassten Vätern das Leben schwer zu machen, und doch treibt sie nichts mehr um als die Frage, wie das richtige Leben zu führen sei. Aus dem ganzen Elend von Sozialsiedlung, Drogensucht, Beschaffungskriminalität und den beständigen Terrorisieren schwächerer Mitschüler erhebt sich als unwahrscheinlichste Heldin Krystal, die sich mit ihren sechzehn Jahren sowohl um ihre sich für einen Schuss jederzeit prostituierende Mutter wie um ihren verwahrlosten vierjährigen Bruder kümmert. Dass ausgerechnet die Unterschicht eine solche Heilige hervorbringt, dass das Sittengesetz nicht von Angehörigen der kungelnden und berechnenden oberen Mittelstandsschicht, sondern von einer Schulschlampe befolgt wird, ist nicht leicht zu begreifen. Aber wer ein Buch wie „Brighton Rock“ (1938) gelesen hat, wird nicht vergessen haben, dass auch der Katholik Graham Greene Pinkie, der doch nichts anderes als ein Gangster sein sollte, zu einem weltlichen Heiligen macht.
Ein Roman, der nicht so plump wie die Freunde von Occupy argumentiert, aber mit einer ähnlichen Anklage gegen die Habenden auftritt, der sich nicht in Lafontaine’schen Beschwerden über die Eigentumsverhältnisse erschöpft, sondern sich auch noch erlaubt, die Zustände in den unterschiedlichen sozialen Quartieren komisch zu finden, wird die ziemlich genau in der Mitte geteilte westliche Gesellschaft in seinem altmodischen Gestus überfordern. Aber noch einmal: dieser Frau ist es ernst damit.
So klischeefest und gestaucht Pagford zu sein scheint, es bietet ein erstaunlich reales Abbild der Gegenwart. J. K. Rowling sagte als Opfer vor dem Leveson-Ausschuss aus, der die innige Verflechtung von politischen und publizistischen Interessen im Umkreis des Großverlegers Rupert Murdoch untersuchen sollte. Murdochs Schnüffel-Reporter hatten ihr vergleichsweise wenig angetan, aber immerhin kam bei den Anhörungen das Netzwerk des Oxfordshire set zum Vorschein, zu dem sich stolz auch der gegenwärtige Premierminister zählte. Das klischierte Pagford mit seinen Absprachen und Hacker-Angriffen ist der Normalfall, und nicht nur im Nordwesten von England. Es ist ein Alptraum, der bitte, bitte irgendwann aufhören soll.
Ausgerechnet J. K. Rowling, die zur reichsten Frau Großbritanniens aufgestiegen ist, übt die Sozialkritik, die nicht nur in England als vorgestrig und unterkomplex gilt. In ihrem Buch hat sie ein vergessenes Land aufgesucht. Schrecklich ist es, wie ein Märchen.
WILLI WINKLER
Wenn nicht so viel getrunken
würde, könnte man die Lügen
nicht herauspräparieren
Die Reichen sind böse, und
die Armen sind immer auch
ein bisschen gut
Die Heilige dieser Geschichte
ist die Schulschlampe, sonst will
von Sitten keiner etwas wissen
„Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte.“
FOTO: FOTO MARTIN PARR / MAGNUM
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kann man in diesen Zeiten noch einen moralischen Roman schreiben? Mitten in der englischen Provinz?
Man kann: „Ein plötzlicher Todesfall“, Joanne K. Rowlings erster Roman für Erwachsene
Auf Seite 346, nicht lang nach der Mitte des Romans, fällt der Satz, der an das Frühwerk von J. K. Rowling anschließt und die Leser, die sie mit ihren sieben „Harry Potter“-Büchern und den nachfolgenden, effektgeilen Verfilmungen sanft durch die Pubertät geleitet hat, mit der Vertreibung aus dem fantastischen Hogwarts versöhnen kann: „Gaia kam sich vor, als wäre sie durch ein Tor in ein vergessenes Land gefallen.“ Das vergessene Land aber ist diesmal nicht in einem Zauberwald zu finden, sondern in einer ohne weiteres wiedererkennbaren, wenn auch zum Glück den meisten Lesern nicht vertrauten Gegenwart.
Auch wenn sich die Autorin mit aller Gewalt von der Potterei absetzen will, schließt sie doch an die einzig wahre, die Pubertätsliteratur an. Rowlings erster Post-Potter-Roman führt erneut in ein fantastisches, den ganz und gar Erwachsenen unzugängliches Märchenreich, nur dass es diesmal bitter ernst wird. Es geht also wieder um die Leiden der Knaben, die ihr rätselhafter Körper nicht weniger quält als die Mädchen, es geht um die natürlichen Feinde, die Lehrer also und die Eltern, es geht um den Lauf der Welt.
Die ist seit je ungerecht und wird im „Plötzlichen Todesfall“ ( aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol. Carlsen Verlag, 576 Seiten, 24,90 Euro ) fein säuberlich nicht nur sozial, sondern auch geografisch aufgeteilt. Da ist das „Örtchen Pagford in einer Senke zwischen drei Hügeln, einer davon gekrönt von den Überresten einer Abtei aus dem zwölften Jahrhundert. Ein schmaler Fluss, überspannt von einer steinernen Spielzeugbrücke, schlängelte sich um den Fuß des Hügels und durch den Ort“. Jenseits des Hügels liegt die immer weiter ausgreifende Stadt Yarvil. Dazwischen dehnt sich die zugebretterte, Graffiti-verschmierte und sowieso hoffnungslose Sozialsiedlung mitsamt einer Drogenklinik, der die Schließung droht.
Darum herum wird ein schockierendes Anti-Idyll aus jenem westlichen England inszeniert, in dem J. K. Rowling einst aufgewachsen ist. Zwei leicht unterscheidbare Parteien bekämpfen sich in Pagford: die Wohlhabenden, die an das Glück des Tüchtigen glauben oder es schon geerbt haben, und auf der anderen Seite die Sozialingenieure, die als Ärzte, Lehrer und Betreuer das moderne Elend zwischen Arbeitslosigkeit, medialer Überflutung und Drogensucht zu lindern suchen. Als ein freigewordener Sitz im Gemeinderat neu besetzt werden soll, wird hemmungslos intrigiert und konspiriert, wird gelogen und betrogen, als wäre die Kleinstadt keine, sondern mindestens Whitehall und das hohe Parlament.
Das sorgt oft für eine lustige comedy of manners , wenn es etwa zum gesellschaftlich wichtigen Abendessen kommt, bei dem die Schwiegermutter die verachtete Frau ihres Sohnes nach ihrer Diät fragt und diese ihren Mann bei jeder Gelegenheit als lustlosen Stießel behandelt, den sie vorzugsweise mit der DVD einer boy group und reichlich Wein betrügt. Getrunken wird überhaupt gern und immer zu viel, weil sonst niemals die Lebenslüge herauszupräparieren wäre, in der der moderne Mensch spätestens seit Ibsen gefangen ist.
Das ist oft so realitätsmimetisch wie ein Fernsehfilm und entsprechend unterhaltsam. Da entstehen lakonische Beobachtungen wie beim Anblick von Sheila, die „an einen kleinen Pfefferstreuer mit umgebundener Schürze erinnert“. Es fallen aber auch Sätze, die John Updike hätte schreiben können, wenn zum Beispiel Howard Mollisons Fettleibigkeit erklärt wird. Mit vier Jahren, als der Vater die Familie verließ, war er angemessen schmächtig. „Nachdem sein Vater fort war, musste Howard sich ans Kopfende des Tisches setzen, zwischen seine Mutter und seine Großmutter, und seine Mutter war gekränkt, wenn er keinen Nachschlag nahm. Er hatte zugenommen, allmählich die Lücke zwischen den beiden Frauen aufgefüllt, und war mit zwölf so schwer wie der Vater, der sie verlassen hatte.“
Die Namen sind nicht weniger sprechend als bei Thomas Mann: der Lokalheilige, der, um den Plot in Gang zu setzen, bereits auf den ersten Seiten sterben muss, heißt Barry Fairbrother, der Kleinstadtkönig Howard Mollison, die Schlampe aus der Sozialsiedlung Krystal Weedon. Das bürgerliche Mittelstandsleben spielt sich in der Hope Street und in der Church Row ab, die Sozialsiedlung heißt Fields, so dass jedem aufgehen wird, auf welchen Rieselfeldern sie errichtet sein muss. Auch sonst kennt die Autorin wenig Angst vor dem Klischee, wenn wie im Sozialroman seit Charles Dickens und Benjamin Disraeli die Reichen böse und die Armen wenigstens ein bisschen gut sein müssen.
Auch sprachlich übertreibt sie es manchmal, wenn sie ihrem Hang zur ausgedehnten Metapher folgt, die sich beim Schreiben besser angefühlt haben muss als beim Lesen: „Diese unangenehme und bisher verborgene Tatsache war allmählich im Kielwasser von Barrys Tod aufgetaucht, wie Treibgut, das von der Ebbe freigelegt wurde.“ „Wenn man clean war, steigt ein Schwall böser Gedanken und Erinnerungen aus der Dunkelheit in einem auf, summende schwarze Fliegen, die innen an der Schädeldecke klebten.“
Was aber neben der Feststellung, dass der „Plötzliche Todesfall“ (im Original: „The Casual Vacancy“ – „die unerwartete Vakanz“) kein weiterer „Harry Potter“ ist, den Kritikern das Buch so schwer macht, ist das kaum verhohlene Anliegen der Autorin, im Jahr 2012 einen moralischen Roman zu präsentieren. Das war dem aufgeklärten englischen Roman von George Eliot bis Muriel Spark seit jeher wichtig.
Für die Kinder, erst recht, wenn sie die Pubertät erreicht haben, kann die erwachsene Welt der Backsteinhäuser und Geranientöpfe nur die Hölle sein. Weil ihre Mutter sich verzweifelt an einen Mann hängt, von dem sie sich geliebt glaubt, wird Gaia von London aufs Land verschleppt. „Von ihren Freunden getrennt, die sie seit der Grundschule kannte, dem Haus, in dem sie seit ihrem achten Lebensjahr wohnte, von Wochenenden, die sich zunehmend um jede Art von Spaß in der Stadt drehten, sah sich Gaia trotz ihrer Bitten, Drohungen und Proteste in ein Leben geworfen, das sie sich in ihren schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte.“
Es ist die Szenerie, an der sich die zahlreichen Freunde von Rosemarie Pilcher berauschen würden. Da es sich aber um einen richtigen Roman handelt, lauert genau hier das Unheil. Die Schüler in Pagford maulen ständig gegen ihre hilflosen Lehrer, wenn sie die Schule nicht gleich schwänzen. Sie nehmen Drogen und treffen sich – im Roman geschieht das zu Abschreckungszwecken recht bald – zum lieblosen Geschlechtsverkehr auf dem Friedhof. „Sie war trockener als beim letzten Mal, und er zwängte sich in sie, fest entschlossen, das zu vollbringen, wozu er hergekommen war.“ Das kommt so ähnlich auch bei Wedekind vor und ist erkennbar darauf berechnet, den maximalen Abstand sowohl zum verzwitscherten Kleinstadt-Idyll wie zu den klinisch sexfreien Potter-Bänden herzustellen.
Wer will, kann auch in den Mail-Botschaften, die der „Geist von Barry Fairbrother“ an die guten Bürger von Pagford schickt, einen Rest Zauberei sehen. Die Autorin nutzt den Theatertrick, um das Gewissen schlagen zu lassen, ohne das die Bürger auskommen zu glauben. Das moralische Dreieck, das Rowling um den früh gestorbenen Barry Fairbrother zieht, besteht aus den Freunden Andrew und Stuart sowie aus der legasthenischen Schulverweigerin Krystal. Die Buben wetteifern darum, sich vor den Schulkameraden zu produzieren und ihren verachteten und gehassten Vätern das Leben schwer zu machen, und doch treibt sie nichts mehr um als die Frage, wie das richtige Leben zu führen sei. Aus dem ganzen Elend von Sozialsiedlung, Drogensucht, Beschaffungskriminalität und den beständigen Terrorisieren schwächerer Mitschüler erhebt sich als unwahrscheinlichste Heldin Krystal, die sich mit ihren sechzehn Jahren sowohl um ihre sich für einen Schuss jederzeit prostituierende Mutter wie um ihren verwahrlosten vierjährigen Bruder kümmert. Dass ausgerechnet die Unterschicht eine solche Heilige hervorbringt, dass das Sittengesetz nicht von Angehörigen der kungelnden und berechnenden oberen Mittelstandsschicht, sondern von einer Schulschlampe befolgt wird, ist nicht leicht zu begreifen. Aber wer ein Buch wie „Brighton Rock“ (1938) gelesen hat, wird nicht vergessen haben, dass auch der Katholik Graham Greene Pinkie, der doch nichts anderes als ein Gangster sein sollte, zu einem weltlichen Heiligen macht.
Ein Roman, der nicht so plump wie die Freunde von Occupy argumentiert, aber mit einer ähnlichen Anklage gegen die Habenden auftritt, der sich nicht in Lafontaine’schen Beschwerden über die Eigentumsverhältnisse erschöpft, sondern sich auch noch erlaubt, die Zustände in den unterschiedlichen sozialen Quartieren komisch zu finden, wird die ziemlich genau in der Mitte geteilte westliche Gesellschaft in seinem altmodischen Gestus überfordern. Aber noch einmal: dieser Frau ist es ernst damit.
So klischeefest und gestaucht Pagford zu sein scheint, es bietet ein erstaunlich reales Abbild der Gegenwart. J. K. Rowling sagte als Opfer vor dem Leveson-Ausschuss aus, der die innige Verflechtung von politischen und publizistischen Interessen im Umkreis des Großverlegers Rupert Murdoch untersuchen sollte. Murdochs Schnüffel-Reporter hatten ihr vergleichsweise wenig angetan, aber immerhin kam bei den Anhörungen das Netzwerk des Oxfordshire set zum Vorschein, zu dem sich stolz auch der gegenwärtige Premierminister zählte. Das klischierte Pagford mit seinen Absprachen und Hacker-Angriffen ist der Normalfall, und nicht nur im Nordwesten von England. Es ist ein Alptraum, der bitte, bitte irgendwann aufhören soll.
Ausgerechnet J. K. Rowling, die zur reichsten Frau Großbritanniens aufgestiegen ist, übt die Sozialkritik, die nicht nur in England als vorgestrig und unterkomplex gilt. In ihrem Buch hat sie ein vergessenes Land aufgesucht. Schrecklich ist es, wie ein Märchen.
WILLI WINKLER
Wenn nicht so viel getrunken
würde, könnte man die Lügen
nicht herauspräparieren
Die Reichen sind böse, und
die Armen sind immer auch
ein bisschen gut
Die Heilige dieser Geschichte
ist die Schulschlampe, sonst will
von Sitten keiner etwas wissen
„Straßen mit Kopfsteinpflaster und kein einziger Laden, der nach sechs Uhr auf hatte, ein Gemeindeleben, das sich um die Kirche zu drehen schien, ein Ort, in dem man oft nur Vogelgezwitscher und sonst nichts hörte.“
FOTO: FOTO MARTIN PARR / MAGNUM
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.09.2012Die giftigen Wonnen der Gewöhnlichkeit
Endlich können wir lesen, woran Joanne K. Rowling fünf Jahre lang geschrieben hat - am dunklen Zwilling ihrer "Harry Potter"-Bücher. Ihr neuer Roman "Ein plötzlicher Todesfall" aber setzt nicht auf Helden und Abenteuer. Es geht um die politische Botschaft.
Dieser Roman ist in jeder Hinsicht eine Überraschung. Dass Joanne K. Rowling, die phänomenale Schöpferin von "Harry Potter", aus innerer, nicht äußerer Notwendigkeit heraus schreibt, war jedem ihrer Leser klar. Aber dass ihr erstes Nach-"Potter"-Buch die Verbindung zu ihrem bisherigen Werk so entschieden kappen würde, war nicht zu erwarten gewesen.
Dabei lässt sich in "Ein plötzlicher Todesfall" durchaus der erwachsene, dunkle Zwilling von "Harry Potter" erkennen. Mit dem fiktiven Örtchen Pagford im Südwesten Englands erschafft Rowling erneut einen in sich geschlossenen Kosmos. Diesmal jedoch ist er nicht ihrer Phantasie entsprungen. Vielmehr handelt es sich um ein Mikromodell der britischen Gesellschaft und ihrer Probleme. Wo "Harry Potter" eine Feier menschlicher Tugenden war, Mut, Treue und Freundschaft, ist dies ein Wimmelbild all jener Eigenschaften, die das Miteinander schwierig machen, von Aggression, Neid, Verzweiflung, Borniertheit, Heuchelei und Selbstsucht.
"Ein plötzlicher Todesfall" ist ein Roman ohne Hauptfigur; Barry Fairbrother, der einzig rundweg sympathische Charakter, stirbt nach zweieinhalb Seiten. Sein Tod durch ein Aneurysma setzt eine fatale Kette von Ereignissen in Gang, denn Barry war Mitglied des Gemeinderats von Pagford, und nun muss die Leerstelle durch eine Wahl rasch gefüllt werden. Denn viele Bürger von Pagford wittern eine historische Chance: Sie wollen das Schandmal der Sozialsiedlung Fields, die sich vor ihren Toren breitgemacht hat, loswerden und die Verantwortung an die benachbarte Stadt Yarvil zurückgeben. Fairbrother, der in Fields geboren war, hatte sich mit Erfolg um die Integration der Siedlung bemüht. Insofern ist sein plötzlicher Tod für seine Gegner ein Glücksfall.
Um die Fülle der Figuren und ihre Beziehungen zueinander einigermaßen zu ordnen, wünscht man sich eine Überblickstafel, doch Rowling scheint entschlossen, es ihren Lesern diesmal schwerzumachen. Von Haushalt zu Haushalt wandert ihr Blick, und anhand der jeweiligen Reaktionen auf die Nachricht von Barry Fairbrothers Tod präsentiert sie uns ihre exemplarische englische Kleinstadt.
Eine Überblickstafel wäre hilfreich
Da sind zunächst die Familien der drei Männer, die sich im Laufe des Buches um Barrys Sitz im Gemeinderat bewerben wollen: Simon Price, gewalttätiger Ehemann von Ruth und verhasster Vater von Andrew und Paul, macht am liebsten krumme Geschäfte. Auch Colin Wall, stellvertretender Schulleiter der Gesamtschule Winterdown, von den Schülern wegen seiner peniblen Art "Pingel" gerufen, hat etwas zu verbergen. Seine Frau Tessa leitet die Beratungsstelle der Schule, sein Sohn Stuart, genannt "Fats", ist der beste Freund von Andrew Price. Die beiden Sechzehnjährigen haben vor allem zwei Themen: Sex und die Wut auf ihre Väter. Dritter Kandidat ist Miles Mollison, ein gutsituierter Anwalt und Familienvater. Seine Frau Samantha ist Inhaberin eines schlechtgehenden Dessousgeschäfts; eine Frau, für deren Sehnsüchte und wogenden Busen Pagford zu klein ist, zumal dort auch ihre ungeliebten Schwiegereltern leben. Miles' Vater Howard führt das Feinkostgeschäft des Ortes als dessen heimliche Machtzentrale; seine Frau Shirley, die oberste Klatschtante von Pagford, arbeitet ehrenamtlich im Krankenhaus, wie es Wohlstandsehefrauen eben gut ansteht.
Dieser kleinbürgerlichen Mittelstandshölle gegenüber stehen die Weedons, die in Armut und völliger Verwahrlosung in Fields leben: die drogenabhängige Mutter Terri, die früher anschaffen ging, hat den Entzug wieder nicht geschafft. Darum bleibt es ihrer Tochter Krystal überlassen, einer Klassenkameradin von Andrew und Fats, sich um den vierjährigen Robbie zu kümmern. Krystal ist die heimliche Heldin des Buches; ein Mädchen, das gar nicht anders kann, als die Gewalt und Rohheit, mit der es aufgewachsen ist, weiterzugeben; die sich, weil ihr Körper ihr nichts bedeutet, widerstandslos von den Jungs befummeln lässt. Doch Krystal tut alles, damit ihr kleiner Bruder nicht wieder in eine Pflegefamilie muss, sie ist mutig und hilfsbereit und als Sportlerin ein Naturtalent. Rowling zeichnet Krystal als Opfer der Ungnade der Geburt; einzig Barry Fairbrother hatte sie nicht als Abschaum abgestempelt, sondern sich um sie bemüht. Für die übrige Mittelklasse Pagfords aber ist das soziale Gewissen etwas, das man mit Schecks für weit entfernte Ungerechtigkeiten beruhigt, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.
Diejenigen, die diese Einstellung auszubaden haben, sind ihre Kinder. Den Jugendlichen gilt das eigentliche Augenmerk der Autorin: neben Andrew, Fats und Krystal auch Sukhvinder Jawanda, deren pakistanischstämmige Eltern Ärzte im Krankenhaus und daher respektierte Pagforder sind und deren Mutter Barrys Verbündete im Gemeinderat war. Doch je weiter die Gräben zwischen den Fraktionen aufbrechen, umso deutlicher wird, dass auch vermeintlich gelungene Integration nah an einem Abgrund an Vorurteilen und Rassismus stattfindet, der jederzeit aufbrechen kann. Alle Teenager des Romans leiden unter dem Unverständnis ihrer Eltern, drei von ihnen so sehr, dass sie sich den Pranger Internet als anonymen Verbündeten gegen ihre Väter und Mütter zunutze machen.
Zwar spielt in "Harry Potter" der Kampf zwischen "reinblütigen" Zauberern und Muggelgeborenen eine wichtige Rolle, doch lässt sich das Internat Hogwarts mit seinen Schülern aus allen Schichten daneben durchaus als Musterschule für gelungene Integration erleben. In "Ein plötzlicher Todesfall" hingegen scheint J. K. Rowling ein desolates Großbritannien in erster Linie bevölkert zu sehen von Familien wie Harrys schrecklichen Verwandten, den Dursleys. Zwar ist in dieser politischen Familienaufstellung fast jede Gruppierung vertreten, doch die Wurzel aller Probleme bildet der bornierte, selbstgefällige Mittelstand mit seiner Doppelmoral. Viele Übel werden thematisiert: schlechte Ernährung, Fettleibigkeit, Drogenkonsum, Alkoholismus, Prostitution.
Dem Buch hätte es allerdings gutgetan, wenn J. K. Rowling Handlung und Figuren nicht gar so offensichtlich in den Dienst ihrer politischen Aussage gestellt hätte. Romane, die das Leben des Proletariats derart realistisch und mitreißend darstellen, dass daraus für den Leser eine gesellschaftliche Forderung erwächst, haben in Großbritannien seit Elizabeth Gaskell, William Makepeace Thackeray und Charles Dickens, George Eliot und Thomas Hardy eine große Tradition. Werke, die diese fortsetzen, waren zuletzt Romane wie "Brick Road" von Monica Ali über das Londoner Leben von Einwanderern aus Bangladesch, "Paula Spencer", das erschütternde Porträt einer Alkoholikerin des Iren Roddy Doyle, Chris Cleaves "Little Bee" über eine nigerianische Asylbewerberin oder "Die Lügen meines Vaters", John Burnsides Erinnerung an eine schottische Kindheit am untersten Ende der Gesellschaft.
Stereotype stören die Erzählung
Dass J. K. Rowlings neuer Roman nicht als eines der großen sozialkritischen Werke in die Literaturgeschichte eingehen wird, liegt an seinen erzählerischen Schwächen. Nicht nur ist "Ein plötzlicher Todesfall" extrem langatmig geraten, sondern die Autorin begeht einen schwerwiegenden Fehler, den man ihr nach "Harry Potter" niemals zugetraut hätte: nichts überlässt sie der Vorstellung des Lesers. Stattdessen verliert sich der Roman in einem Übermaß an Beschreibungen. Nicht genug damit, dass Pagford in seiner Postkartenidylle ermüdend oft beschrieben wird, auch Fields wird so häufig wie stereotyp vor Augen geführt: "schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satellitenschüsseln und überwucherte Grasflächen". Die eigentliche Geschichte um die zum Klassenkampf hochkochende Gemeinderatswahl wird regelrecht zugemüllt mit lauter irrelevanten Details. Hinzu kommen etliche ärgerliche Wiederholungen wie diese: "Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte." Dafür haben die beiden Übersetzerinnen Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol, die die undankbare Aufgabe hatten, die knapp sechshundert Seiten in vier Wochen und noch dazu eingeschlossen in den Londoner Verlagsräumen von Little, Brown ins Deutsche zu bringen, tatsächlich Entsprechungen für die vielen Idiome der Figuren gefunden, wenngleich Charakterisierung und Abgrenzung mittels gesprochener Sprache im Original viel deutlicher wird.
Immerhin behält Rowling, die nicht umsonst mit "Harry Potter" über sieben Bände und fünfzehn Jahre hinweg eine eigene Welt schuf, in der kein Detail und keine Begebenheit zufällig waren, auch diesmal alle Erzählstränge in der Hand und führt sie schließlich in einem so dramatischen wie verstörenden Finale zusammen, das zumindest teilweise mit dem mühsamen Lese-Weg dahin versöhnt. Dennoch ist das Buch eine Enttäuschung.
Über die Beweggründe zu spekulieren ist so müßig wie unliterarisch. Dass die Autorin ihre Popularität nutzen wollte, um möglichst viele Menschen für Missstände selbst in Wohlfahrtsstaaten zu sensibilisieren, ist allemal legitim. Womöglich hofft sie, die mit "Harry Potter" Millionen nicht nur jugendlicher Leser neu für das Buch gewonnen hat, darauf, damit jene gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen, die in der Regel mit Literatur wenig am Hut haben. Doch ungeübte Leser dürften diesen Roman ohne Helden und markanten Plot als anstrengend empfinden. Vor allem hat J. K. Rowling mit ihrer zornigen Stereotypisierung der britischen Mittel- und Unterschicht ein erzählerisches Gesetz missachtet, mit einer fatalen Wirkung, die im Roman sogar benannt wird: "Er schien die ungeheure Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur nicht zu begreifen, nicht zu erkennen, dass hinter jedem unscheinbaren Gesicht ein wildes, einzigartiges Zwischenreich lag wie sein eigenes."
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Endlich können wir lesen, woran Joanne K. Rowling fünf Jahre lang geschrieben hat - am dunklen Zwilling ihrer "Harry Potter"-Bücher. Ihr neuer Roman "Ein plötzlicher Todesfall" aber setzt nicht auf Helden und Abenteuer. Es geht um die politische Botschaft.
Dieser Roman ist in jeder Hinsicht eine Überraschung. Dass Joanne K. Rowling, die phänomenale Schöpferin von "Harry Potter", aus innerer, nicht äußerer Notwendigkeit heraus schreibt, war jedem ihrer Leser klar. Aber dass ihr erstes Nach-"Potter"-Buch die Verbindung zu ihrem bisherigen Werk so entschieden kappen würde, war nicht zu erwarten gewesen.
Dabei lässt sich in "Ein plötzlicher Todesfall" durchaus der erwachsene, dunkle Zwilling von "Harry Potter" erkennen. Mit dem fiktiven Örtchen Pagford im Südwesten Englands erschafft Rowling erneut einen in sich geschlossenen Kosmos. Diesmal jedoch ist er nicht ihrer Phantasie entsprungen. Vielmehr handelt es sich um ein Mikromodell der britischen Gesellschaft und ihrer Probleme. Wo "Harry Potter" eine Feier menschlicher Tugenden war, Mut, Treue und Freundschaft, ist dies ein Wimmelbild all jener Eigenschaften, die das Miteinander schwierig machen, von Aggression, Neid, Verzweiflung, Borniertheit, Heuchelei und Selbstsucht.
"Ein plötzlicher Todesfall" ist ein Roman ohne Hauptfigur; Barry Fairbrother, der einzig rundweg sympathische Charakter, stirbt nach zweieinhalb Seiten. Sein Tod durch ein Aneurysma setzt eine fatale Kette von Ereignissen in Gang, denn Barry war Mitglied des Gemeinderats von Pagford, und nun muss die Leerstelle durch eine Wahl rasch gefüllt werden. Denn viele Bürger von Pagford wittern eine historische Chance: Sie wollen das Schandmal der Sozialsiedlung Fields, die sich vor ihren Toren breitgemacht hat, loswerden und die Verantwortung an die benachbarte Stadt Yarvil zurückgeben. Fairbrother, der in Fields geboren war, hatte sich mit Erfolg um die Integration der Siedlung bemüht. Insofern ist sein plötzlicher Tod für seine Gegner ein Glücksfall.
Um die Fülle der Figuren und ihre Beziehungen zueinander einigermaßen zu ordnen, wünscht man sich eine Überblickstafel, doch Rowling scheint entschlossen, es ihren Lesern diesmal schwerzumachen. Von Haushalt zu Haushalt wandert ihr Blick, und anhand der jeweiligen Reaktionen auf die Nachricht von Barry Fairbrothers Tod präsentiert sie uns ihre exemplarische englische Kleinstadt.
Eine Überblickstafel wäre hilfreich
Da sind zunächst die Familien der drei Männer, die sich im Laufe des Buches um Barrys Sitz im Gemeinderat bewerben wollen: Simon Price, gewalttätiger Ehemann von Ruth und verhasster Vater von Andrew und Paul, macht am liebsten krumme Geschäfte. Auch Colin Wall, stellvertretender Schulleiter der Gesamtschule Winterdown, von den Schülern wegen seiner peniblen Art "Pingel" gerufen, hat etwas zu verbergen. Seine Frau Tessa leitet die Beratungsstelle der Schule, sein Sohn Stuart, genannt "Fats", ist der beste Freund von Andrew Price. Die beiden Sechzehnjährigen haben vor allem zwei Themen: Sex und die Wut auf ihre Väter. Dritter Kandidat ist Miles Mollison, ein gutsituierter Anwalt und Familienvater. Seine Frau Samantha ist Inhaberin eines schlechtgehenden Dessousgeschäfts; eine Frau, für deren Sehnsüchte und wogenden Busen Pagford zu klein ist, zumal dort auch ihre ungeliebten Schwiegereltern leben. Miles' Vater Howard führt das Feinkostgeschäft des Ortes als dessen heimliche Machtzentrale; seine Frau Shirley, die oberste Klatschtante von Pagford, arbeitet ehrenamtlich im Krankenhaus, wie es Wohlstandsehefrauen eben gut ansteht.
Dieser kleinbürgerlichen Mittelstandshölle gegenüber stehen die Weedons, die in Armut und völliger Verwahrlosung in Fields leben: die drogenabhängige Mutter Terri, die früher anschaffen ging, hat den Entzug wieder nicht geschafft. Darum bleibt es ihrer Tochter Krystal überlassen, einer Klassenkameradin von Andrew und Fats, sich um den vierjährigen Robbie zu kümmern. Krystal ist die heimliche Heldin des Buches; ein Mädchen, das gar nicht anders kann, als die Gewalt und Rohheit, mit der es aufgewachsen ist, weiterzugeben; die sich, weil ihr Körper ihr nichts bedeutet, widerstandslos von den Jungs befummeln lässt. Doch Krystal tut alles, damit ihr kleiner Bruder nicht wieder in eine Pflegefamilie muss, sie ist mutig und hilfsbereit und als Sportlerin ein Naturtalent. Rowling zeichnet Krystal als Opfer der Ungnade der Geburt; einzig Barry Fairbrother hatte sie nicht als Abschaum abgestempelt, sondern sich um sie bemüht. Für die übrige Mittelklasse Pagfords aber ist das soziale Gewissen etwas, das man mit Schecks für weit entfernte Ungerechtigkeiten beruhigt, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür.
Diejenigen, die diese Einstellung auszubaden haben, sind ihre Kinder. Den Jugendlichen gilt das eigentliche Augenmerk der Autorin: neben Andrew, Fats und Krystal auch Sukhvinder Jawanda, deren pakistanischstämmige Eltern Ärzte im Krankenhaus und daher respektierte Pagforder sind und deren Mutter Barrys Verbündete im Gemeinderat war. Doch je weiter die Gräben zwischen den Fraktionen aufbrechen, umso deutlicher wird, dass auch vermeintlich gelungene Integration nah an einem Abgrund an Vorurteilen und Rassismus stattfindet, der jederzeit aufbrechen kann. Alle Teenager des Romans leiden unter dem Unverständnis ihrer Eltern, drei von ihnen so sehr, dass sie sich den Pranger Internet als anonymen Verbündeten gegen ihre Väter und Mütter zunutze machen.
Zwar spielt in "Harry Potter" der Kampf zwischen "reinblütigen" Zauberern und Muggelgeborenen eine wichtige Rolle, doch lässt sich das Internat Hogwarts mit seinen Schülern aus allen Schichten daneben durchaus als Musterschule für gelungene Integration erleben. In "Ein plötzlicher Todesfall" hingegen scheint J. K. Rowling ein desolates Großbritannien in erster Linie bevölkert zu sehen von Familien wie Harrys schrecklichen Verwandten, den Dursleys. Zwar ist in dieser politischen Familienaufstellung fast jede Gruppierung vertreten, doch die Wurzel aller Probleme bildet der bornierte, selbstgefällige Mittelstand mit seiner Doppelmoral. Viele Übel werden thematisiert: schlechte Ernährung, Fettleibigkeit, Drogenkonsum, Alkoholismus, Prostitution.
Dem Buch hätte es allerdings gutgetan, wenn J. K. Rowling Handlung und Figuren nicht gar so offensichtlich in den Dienst ihrer politischen Aussage gestellt hätte. Romane, die das Leben des Proletariats derart realistisch und mitreißend darstellen, dass daraus für den Leser eine gesellschaftliche Forderung erwächst, haben in Großbritannien seit Elizabeth Gaskell, William Makepeace Thackeray und Charles Dickens, George Eliot und Thomas Hardy eine große Tradition. Werke, die diese fortsetzen, waren zuletzt Romane wie "Brick Road" von Monica Ali über das Londoner Leben von Einwanderern aus Bangladesch, "Paula Spencer", das erschütternde Porträt einer Alkoholikerin des Iren Roddy Doyle, Chris Cleaves "Little Bee" über eine nigerianische Asylbewerberin oder "Die Lügen meines Vaters", John Burnsides Erinnerung an eine schottische Kindheit am untersten Ende der Gesellschaft.
Stereotype stören die Erzählung
Dass J. K. Rowlings neuer Roman nicht als eines der großen sozialkritischen Werke in die Literaturgeschichte eingehen wird, liegt an seinen erzählerischen Schwächen. Nicht nur ist "Ein plötzlicher Todesfall" extrem langatmig geraten, sondern die Autorin begeht einen schwerwiegenden Fehler, den man ihr nach "Harry Potter" niemals zugetraut hätte: nichts überlässt sie der Vorstellung des Lesers. Stattdessen verliert sich der Roman in einem Übermaß an Beschreibungen. Nicht genug damit, dass Pagford in seiner Postkartenidylle ermüdend oft beschrieben wird, auch Fields wird so häufig wie stereotyp vor Augen geführt: "schmutzige graue Häuser, einige mit Tags und Obszönitäten besprüht, hier und da vernagelte Fenster, Satellitenschüsseln und überwucherte Grasflächen". Die eigentliche Geschichte um die zum Klassenkampf hochkochende Gemeinderatswahl wird regelrecht zugemüllt mit lauter irrelevanten Details. Hinzu kommen etliche ärgerliche Wiederholungen wie diese: "Shirley arbeitete ehrenamtlich im Krankenhaus; sie hatte ein starkes Interesse an allem Medizinischen entwickelt, seit sie im Kreiskrankenhaus South West angefangen hatte." Dafür haben die beiden Übersetzerinnen Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol, die die undankbare Aufgabe hatten, die knapp sechshundert Seiten in vier Wochen und noch dazu eingeschlossen in den Londoner Verlagsräumen von Little, Brown ins Deutsche zu bringen, tatsächlich Entsprechungen für die vielen Idiome der Figuren gefunden, wenngleich Charakterisierung und Abgrenzung mittels gesprochener Sprache im Original viel deutlicher wird.
Immerhin behält Rowling, die nicht umsonst mit "Harry Potter" über sieben Bände und fünfzehn Jahre hinweg eine eigene Welt schuf, in der kein Detail und keine Begebenheit zufällig waren, auch diesmal alle Erzählstränge in der Hand und führt sie schließlich in einem so dramatischen wie verstörenden Finale zusammen, das zumindest teilweise mit dem mühsamen Lese-Weg dahin versöhnt. Dennoch ist das Buch eine Enttäuschung.
Über die Beweggründe zu spekulieren ist so müßig wie unliterarisch. Dass die Autorin ihre Popularität nutzen wollte, um möglichst viele Menschen für Missstände selbst in Wohlfahrtsstaaten zu sensibilisieren, ist allemal legitim. Womöglich hofft sie, die mit "Harry Potter" Millionen nicht nur jugendlicher Leser neu für das Buch gewonnen hat, darauf, damit jene gesellschaftlichen Gruppen anzusprechen, die in der Regel mit Literatur wenig am Hut haben. Doch ungeübte Leser dürften diesen Roman ohne Helden und markanten Plot als anstrengend empfinden. Vor allem hat J. K. Rowling mit ihrer zornigen Stereotypisierung der britischen Mittel- und Unterschicht ein erzählerisches Gesetz missachtet, mit einer fatalen Wirkung, die im Roman sogar benannt wird: "Er schien die ungeheure Wandlungsfähigkeit der menschlichen Natur nicht zu begreifen, nicht zu erkennen, dass hinter jedem unscheinbaren Gesicht ein wildes, einzigartiges Zwischenreich lag wie sein eigenes."
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
This is a wonderful novel. JK Rowling's skills as a storyteller are on a par with RL Stevenson, Conan Doyle and PD James. Here, they are combined with her ability to create memorable and moving characters to produce a state-of-England novel driven by tenderness and fury Melvyn Bragg, The Observer