Ihr neuer Job bringt Mae Holland direkt ins Zentrum der schönen neuen Digitalwelt. Bei "The Circle" sind alle Mitarbeitenden ständig online, teilen in Echtzeit, wo sie sind, was sie tun und mit wem. Die Trennung zwischen öffentlich und privat verschwindet ebenso wie die zwischen Arbeit und Freizeit. Doch das ist erst der Anfang, der Internetgigant hat eine Vision für die ganze Menschheit: eine Welt der totalen Transparenz und Vernetzung. "The Circle" meint es ernst - Mae wird es bald am eigenen Leib erfahren.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2014Was zum Kuckuck zirkuliert denn da?
Gerichtet, aber nichts zu retten: Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers hat mit "Der Circle" einen Roman geschrieben, der mit Röntgenblick auf unsere Zeit blickt und ihr kein Pardon gibt.
Das führt jetzt ein bisschen vom Thema ab, aber Papier ist für mich ein Problem, weil damit jede Kommunikation stirbt. Es hat kein Potenzial zu Kontinuität. Du guckst auf deine Papierbroschüre, und damit hört es auf. Es hört auf mit dir. Als wärst du der einzige Mensch, der zählt. Aber stell dir vor, wie es wäre, wenn du alles dokumentiert hättest. Wenn du ein Tool benutzt hättest, um jeden Vogel, den du siehst, zu identifizieren, dann hätte jeder etwas davon gehabt - Naturforscher, Studenten, Historiker, die Küstenwache. Dann könnte jeder wissen, was für Vögel an dem Tag in der Bucht waren. Es ist einfach zum Verrücktwerden, wie viel Wissen tagtäglich durch diese Art von Kurzsichtigkeit verloren geht. Und ich will es nicht egoistisch nennen, aber -". Doch dann wird diese Strafpredigt durch das reuige Schuldeingeständnis der Delinquentin, die es gewagt hat, auf eine Kanufahrt nicht eine kleine Kamera, mit der alle ihre Aktivitäten im Internet sichtbar hätten werden können, sondern ein Faltblatt über die heimische Tierwelt mitzunehmen, beendet: "Nein. Das war es. Ich weiß, es war egoistisch."
Dieser ziemlich einseitige Dialog stammt aus dem Roman "The Circle" von Dave Eggers. Ihm eilt seit seiner Publikation in den Vereinigten Staaten vor einem Jahr ein Ruf wie Donnerhall voraus: als das Buch, das unsere Gegenwart auf den Begriff bringt, eben "the Circle", das Leben in der Gemeinschaft, den Kreis, dem man nicht mehr entkommen kann, wenn er einmal geschlossen ist. Von dieser closure (die in der nun erschienenen deutschen Version mit "Vollendung" übersetzt wird, was die Einschließung aber nicht mehr anklingen lässt) ist unter den Mitarbeitern des Circle dauernd die Rede, ohne dass jemals klar würde, was konkret dahintersteckt. Das soll jedoch so sein, alles ist nur Geraune, aus dem dann, gerade weil es kein klar definiertes Ziel gibt, die wildesten Projekte geboren werden. Wer weiß denn schon, ob zum Circle nicht eigenes Geld passt, das elektronisch zirkuliert? Oder ein Chip, der straffällig Gewordenen lebenslang eingepflanzt wird? Versuchen wir es mal, wenn's nicht klappt, war's doch nicht böse gemeint. Ist es auch nicht, es geht ja nur ums Geld.
Eggers hat sich Google und Apple als leicht identifizierbare Vorbilder für seinen fiktiven Konzern mit dem angeblich altruistischen Programm genommen, der im Roman auf dem besten Wege ist, sich zum weltweiten Monopolisten bei sämtlichen Netzaktivitäten zu entwickeln, weil er eine Zeitstimmung nutzt, die unbedingte Partizipation und permanenten Austausch zum Ideal erhebt. Wer sich erinnert, wie vor Jahresfrist eine deutsche Journalistendelegation auf ein Sabbatical (das besser Workaholical geheißen hätte) nach Silicon Valley ging, um dort in Ehrfurchtsschockstarre vor dem ach so kreativen digitalen Arbeitsleben zu verfallen, der weiß, dass man für Eggers' Buch eine andere Bezeichnung als "Fiktion" finden muss. Es ist eine Friktion, denn der Roman zeichnet eine Bruchlinie der Zivilisation nach.
Jetzt kann man ihn auf Deutsch lesen, und er liest sich zu nicht unwesentlichen Teilen genauso wie im Beispiel vom Anfang - leider auch in der Sperrigkeit bei der Übertragung des im Englischen so typischen Begeisterungstons, der zu großen Worten greift, die wörtlich übersetzt aber so schal und vor allem unbeholfen wirken wie eben das zitierte "Potenzial zu Kontinuität". Der Dialog ist aber auch deshalb charakteristisch, weil solche an Gehirnwäsche oder Schauprozesse erinnernden Auftritte immer neu die Handlung von "Der Circle" prägen. Denn dessen Protagonistin, die vierundzwanzigjährige Maebelline Renner Holland, genannt Mae, hat gerade bei dem in Kalifornien gegründeten, aber längst überall auf der Welt vertretenen Kommunikationsunternehmen The Circle angeheuert, und nun muss die junge Frau, die sich doch für ein typisches Kind ihrer kommunikationsaffinen Generation hält, alles von Grund auf neu lernen, denn sie betritt mit dem Hauptcampus eine schöne neue Welt. Und in der gibt es lauter selbstbewusste und mitteilungsfreudige Lehrmeister der Kunst, sich selbst als Teil dieser Welt zu begreifen. Durch Leidenschaft, Partizipation und Transparenz.
Früher hätte man gesagt: als ein Rädchen im Getriebe, aber das ist natürlich eine viel zu mechanische Vorstellung von der informationstechnischen und persönlichkeitsverändernden Revolution, die The Circle betreibt. Und eine ordentliche Revolution verlangt nach Opfern. In Eggers' Roman ist es vordergründig Mae, die im Laufe der 560 Seiten zur bedingungslosen Anhängerin der Ideale des Circle wird, obwohl sie permanent gedemütigt wird, obwohl sie im Dienst des großen Ganzen keine Freizeit mehr hat (denn es wird erwartet, dass man sein Leben auf dem Firmencampus verbringt, nicht nur die Arbeitszeit), obwohl sie den Eltern entfremdet wird und ihren ehemaligen Freund in den Tod treibt. Alles nur im Dienste von Leidenschaft, Partizipation und Transparenz.
Denn der Einzelne und seine bisherige Umwelt gelten nichts im Circle und der Welt, an der dieser baut. Selbst die Gründung des Unternehmens war nicht einem einzigen Ideengeber, sondern dem Kollektiv der "Drei Weisen" - biblische Metaphorik prägt den Circle-Jargon - zu verdanken, wenn es auch mit Tyler Alexander Gospodinov einen Primus inter Pares gab, der sich aber mittlerweile so konsequent zurückgezogen hat, dass er zum firmeninternen Mythos geworden ist, während seine beiden Mitgründer weiter das Tagesgeschäft leiten. Dass Eggers aus dieser dem Circle paradoxerweise zugrundeliegenden Dreiecksformation einen entscheidenden Erzählstrang generiert, ist leider leichter absehbar, als der Romanautor sich das beim Schreiben selbst gedacht haben dürfte.
Eggers ist weder ein großer Handlungskonstrukteur noch ein großer Stilist. Was ist es dann, was "The Circle" so lesenswert macht? Es ist der Röntgenblick des Verfassers auf unsere Gesellschaft. Das war schon in seinen vorherigen Romanen so, und Eggers hat auch mit seinem eigenen Verlag McSweeney's (bei dem "The Circle" bewusst nicht erschienen ist, weil der Verleger Wert legt auf die Trennung seiner beiden Rollen - nichts ist es da mit Partizipation) immer wieder solche Vorstöße in die scheinbar unseren Blicken unzugänglichen Bereiche des body politic unternommen. So etwa vor fünf Jahren mit seiner nur einmal erschienenen Zeitung "San Francisco Panorama", die beweisen sollte, dass guter Journalismus für einen angemessenen Verkaufspreis (das viele hundert Seiten starke Blatt kostete fünf Dollar) möglich ist. In dieser nach dem Vorbild der amerikanischen dicken Wochenendausgaben gestalteten Zeitung aber sparte er ein klassisches Ressort aus: die Wirtschaft. Das war ein Zeichen, dass er bei dessen Beschreibung dem journalistischen Blick nicht mehr vertraute. Sein Roman musste es nun richten.
Und er richtet fürwahr. Schonungslos, wie sich das Reinald Goetz für seinen "Johann Holtrop" wohl gewünscht hat. Eggers macht keine Dämonen aus seinen Figuren, und er macht sie nicht lächerlich, er begibt sich beim Erzählen meist gar nicht erst auf die Führungsebene seines Unternehmens, sondern bleibt bei der Mittelschicht, aus der sich Begeisterung und Personal des Circle rekrutieren. "Die Vollendung stand unmittelbar bevor, und sie würde Frieden bringen, und sie würde Einigkeit bringen, und all das Chaos der Menschheit, all die Ungewissheiten, die die Welt vor dem Circle beherrscht hatten, wären nur noch Erinnerung." Das schiebt alles, was Amerikas Selbstbild ausmacht - die Freiheit, das Individuelle, die Eigenverantwortung - einer übergeordneten Instanz zu. Wir im korporatistisch geprägten Europa werden das gar nicht als einen solch gravierenden Einschnitt wahrnehmen, wie Eggers' Landsleute ihn empfinden müssten. Aber die nehmen ja auch aktuell nicht wahr, wie ihre heiligsten Werte missbraucht werden - im Zeichen von Leidenschaft, Partizipation und Transparenz. "Der Circle" ist ein verzweifeltes Buch, und nur sein einzig wirklich fiktionales Element lässt noch einen Rest Hoffnung: dass Eggers sich seine Handlung in der Zukunft vorstellt. Er ist wohl doch ein Optimist, der warnen und vielleicht gar etwas bewirken will.
ANDREAS PLATTHAUS
Dave Eggers: "Der Circle". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 560 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gerichtet, aber nichts zu retten: Der amerikanische Schriftsteller Dave Eggers hat mit "Der Circle" einen Roman geschrieben, der mit Röntgenblick auf unsere Zeit blickt und ihr kein Pardon gibt.
Das führt jetzt ein bisschen vom Thema ab, aber Papier ist für mich ein Problem, weil damit jede Kommunikation stirbt. Es hat kein Potenzial zu Kontinuität. Du guckst auf deine Papierbroschüre, und damit hört es auf. Es hört auf mit dir. Als wärst du der einzige Mensch, der zählt. Aber stell dir vor, wie es wäre, wenn du alles dokumentiert hättest. Wenn du ein Tool benutzt hättest, um jeden Vogel, den du siehst, zu identifizieren, dann hätte jeder etwas davon gehabt - Naturforscher, Studenten, Historiker, die Küstenwache. Dann könnte jeder wissen, was für Vögel an dem Tag in der Bucht waren. Es ist einfach zum Verrücktwerden, wie viel Wissen tagtäglich durch diese Art von Kurzsichtigkeit verloren geht. Und ich will es nicht egoistisch nennen, aber -". Doch dann wird diese Strafpredigt durch das reuige Schuldeingeständnis der Delinquentin, die es gewagt hat, auf eine Kanufahrt nicht eine kleine Kamera, mit der alle ihre Aktivitäten im Internet sichtbar hätten werden können, sondern ein Faltblatt über die heimische Tierwelt mitzunehmen, beendet: "Nein. Das war es. Ich weiß, es war egoistisch."
Dieser ziemlich einseitige Dialog stammt aus dem Roman "The Circle" von Dave Eggers. Ihm eilt seit seiner Publikation in den Vereinigten Staaten vor einem Jahr ein Ruf wie Donnerhall voraus: als das Buch, das unsere Gegenwart auf den Begriff bringt, eben "the Circle", das Leben in der Gemeinschaft, den Kreis, dem man nicht mehr entkommen kann, wenn er einmal geschlossen ist. Von dieser closure (die in der nun erschienenen deutschen Version mit "Vollendung" übersetzt wird, was die Einschließung aber nicht mehr anklingen lässt) ist unter den Mitarbeitern des Circle dauernd die Rede, ohne dass jemals klar würde, was konkret dahintersteckt. Das soll jedoch so sein, alles ist nur Geraune, aus dem dann, gerade weil es kein klar definiertes Ziel gibt, die wildesten Projekte geboren werden. Wer weiß denn schon, ob zum Circle nicht eigenes Geld passt, das elektronisch zirkuliert? Oder ein Chip, der straffällig Gewordenen lebenslang eingepflanzt wird? Versuchen wir es mal, wenn's nicht klappt, war's doch nicht böse gemeint. Ist es auch nicht, es geht ja nur ums Geld.
Eggers hat sich Google und Apple als leicht identifizierbare Vorbilder für seinen fiktiven Konzern mit dem angeblich altruistischen Programm genommen, der im Roman auf dem besten Wege ist, sich zum weltweiten Monopolisten bei sämtlichen Netzaktivitäten zu entwickeln, weil er eine Zeitstimmung nutzt, die unbedingte Partizipation und permanenten Austausch zum Ideal erhebt. Wer sich erinnert, wie vor Jahresfrist eine deutsche Journalistendelegation auf ein Sabbatical (das besser Workaholical geheißen hätte) nach Silicon Valley ging, um dort in Ehrfurchtsschockstarre vor dem ach so kreativen digitalen Arbeitsleben zu verfallen, der weiß, dass man für Eggers' Buch eine andere Bezeichnung als "Fiktion" finden muss. Es ist eine Friktion, denn der Roman zeichnet eine Bruchlinie der Zivilisation nach.
Jetzt kann man ihn auf Deutsch lesen, und er liest sich zu nicht unwesentlichen Teilen genauso wie im Beispiel vom Anfang - leider auch in der Sperrigkeit bei der Übertragung des im Englischen so typischen Begeisterungstons, der zu großen Worten greift, die wörtlich übersetzt aber so schal und vor allem unbeholfen wirken wie eben das zitierte "Potenzial zu Kontinuität". Der Dialog ist aber auch deshalb charakteristisch, weil solche an Gehirnwäsche oder Schauprozesse erinnernden Auftritte immer neu die Handlung von "Der Circle" prägen. Denn dessen Protagonistin, die vierundzwanzigjährige Maebelline Renner Holland, genannt Mae, hat gerade bei dem in Kalifornien gegründeten, aber längst überall auf der Welt vertretenen Kommunikationsunternehmen The Circle angeheuert, und nun muss die junge Frau, die sich doch für ein typisches Kind ihrer kommunikationsaffinen Generation hält, alles von Grund auf neu lernen, denn sie betritt mit dem Hauptcampus eine schöne neue Welt. Und in der gibt es lauter selbstbewusste und mitteilungsfreudige Lehrmeister der Kunst, sich selbst als Teil dieser Welt zu begreifen. Durch Leidenschaft, Partizipation und Transparenz.
Früher hätte man gesagt: als ein Rädchen im Getriebe, aber das ist natürlich eine viel zu mechanische Vorstellung von der informationstechnischen und persönlichkeitsverändernden Revolution, die The Circle betreibt. Und eine ordentliche Revolution verlangt nach Opfern. In Eggers' Roman ist es vordergründig Mae, die im Laufe der 560 Seiten zur bedingungslosen Anhängerin der Ideale des Circle wird, obwohl sie permanent gedemütigt wird, obwohl sie im Dienst des großen Ganzen keine Freizeit mehr hat (denn es wird erwartet, dass man sein Leben auf dem Firmencampus verbringt, nicht nur die Arbeitszeit), obwohl sie den Eltern entfremdet wird und ihren ehemaligen Freund in den Tod treibt. Alles nur im Dienste von Leidenschaft, Partizipation und Transparenz.
Denn der Einzelne und seine bisherige Umwelt gelten nichts im Circle und der Welt, an der dieser baut. Selbst die Gründung des Unternehmens war nicht einem einzigen Ideengeber, sondern dem Kollektiv der "Drei Weisen" - biblische Metaphorik prägt den Circle-Jargon - zu verdanken, wenn es auch mit Tyler Alexander Gospodinov einen Primus inter Pares gab, der sich aber mittlerweile so konsequent zurückgezogen hat, dass er zum firmeninternen Mythos geworden ist, während seine beiden Mitgründer weiter das Tagesgeschäft leiten. Dass Eggers aus dieser dem Circle paradoxerweise zugrundeliegenden Dreiecksformation einen entscheidenden Erzählstrang generiert, ist leider leichter absehbar, als der Romanautor sich das beim Schreiben selbst gedacht haben dürfte.
Eggers ist weder ein großer Handlungskonstrukteur noch ein großer Stilist. Was ist es dann, was "The Circle" so lesenswert macht? Es ist der Röntgenblick des Verfassers auf unsere Gesellschaft. Das war schon in seinen vorherigen Romanen so, und Eggers hat auch mit seinem eigenen Verlag McSweeney's (bei dem "The Circle" bewusst nicht erschienen ist, weil der Verleger Wert legt auf die Trennung seiner beiden Rollen - nichts ist es da mit Partizipation) immer wieder solche Vorstöße in die scheinbar unseren Blicken unzugänglichen Bereiche des body politic unternommen. So etwa vor fünf Jahren mit seiner nur einmal erschienenen Zeitung "San Francisco Panorama", die beweisen sollte, dass guter Journalismus für einen angemessenen Verkaufspreis (das viele hundert Seiten starke Blatt kostete fünf Dollar) möglich ist. In dieser nach dem Vorbild der amerikanischen dicken Wochenendausgaben gestalteten Zeitung aber sparte er ein klassisches Ressort aus: die Wirtschaft. Das war ein Zeichen, dass er bei dessen Beschreibung dem journalistischen Blick nicht mehr vertraute. Sein Roman musste es nun richten.
Und er richtet fürwahr. Schonungslos, wie sich das Reinald Goetz für seinen "Johann Holtrop" wohl gewünscht hat. Eggers macht keine Dämonen aus seinen Figuren, und er macht sie nicht lächerlich, er begibt sich beim Erzählen meist gar nicht erst auf die Führungsebene seines Unternehmens, sondern bleibt bei der Mittelschicht, aus der sich Begeisterung und Personal des Circle rekrutieren. "Die Vollendung stand unmittelbar bevor, und sie würde Frieden bringen, und sie würde Einigkeit bringen, und all das Chaos der Menschheit, all die Ungewissheiten, die die Welt vor dem Circle beherrscht hatten, wären nur noch Erinnerung." Das schiebt alles, was Amerikas Selbstbild ausmacht - die Freiheit, das Individuelle, die Eigenverantwortung - einer übergeordneten Instanz zu. Wir im korporatistisch geprägten Europa werden das gar nicht als einen solch gravierenden Einschnitt wahrnehmen, wie Eggers' Landsleute ihn empfinden müssten. Aber die nehmen ja auch aktuell nicht wahr, wie ihre heiligsten Werte missbraucht werden - im Zeichen von Leidenschaft, Partizipation und Transparenz. "Der Circle" ist ein verzweifeltes Buch, und nur sein einzig wirklich fiktionales Element lässt noch einen Rest Hoffnung: dass Eggers sich seine Handlung in der Zukunft vorstellt. Er ist wohl doch ein Optimist, der warnen und vielleicht gar etwas bewirken will.
ANDREAS PLATTHAUS
Dave Eggers: "Der Circle". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 560 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.08.2014Teilen ist Heilen
Dave Eggers’ Überwachungsroman „Der Circle“ wird als neues „1984“ gehandelt. Doch der Autor macht seine Romanfiguren auch selbst zu Marionetten
Großer Vorstellungskraft bedarf es heute nicht mehr, um Science-Fiction zu schreiben. Wir leben zwar noch immer nicht auf dem Mond, warten weiter auf fliegende Autos und wissen weniger denn je, wie sich die Probleme der Menschheit lösen lassen. Doch gleichzeitig treibt uns die Digitalisierung mit jedem Produktzyklus weiter in Bereiche, die eben noch tief im Phantastischen lagen. Für seinen Roman „The Circle“, der jetzt auf Deutsch erscheint, musste Dave Eggers also wenig mehr tun, als sich auszumalen, was wäre, würden die Macht der Datenkonzerne und unsere Bereitschaft, uns ihnen auszuliefern, weiterwachsen wie bisher.
Eggers hat schon oft sein Gespür für die richtigen Themen zum richtigen Zeitpunkt bewiesen: mit seinem Katrina -Roman „Zeitoun“ etwa oder seiner Kapitalismus-Kritik „Ein Hologramm für den König“. Doch mit „Der Circle“, der noch vor den NSA-Enthüllungen geschrieben wurde, hat er sich selbst übertroffen.
Eggers hat den „Roman unserer Zeit“, geschrieben, titelte die FAS, die ihm eine ganze Feuilletonausgabe widmete; das „1984“ für 2014, so die Zeit, die das Buch von fünf Autoren begutachten ließ. Vor allem aber ist es ein Roman, der die Sehnsucht nach Eindeutigkeit befriedigt. Eggers macht sich genau von dem Punkt aus auf seinen Weg in die Endzeit, an dem selbst apokalyptisch gestimmte Leitartikler umkehren, um sich nicht unglaubwürdig zu machen. Er scheut sich nicht, unsere kollektiven Zukunftsängste in minutiösem Detail aufzublättern, und über die in allen Grautönen geführte Überwachungsdebatte kippt er einen Eimer Schwarz. Entsprechend gierig verschlingt man dieses Buch, für entsprechend relevant wird es gehalten.
Mae Holland, 24, ist eine arme Seele aus dem städtischen Gaswerk. Dort kam sie als IT-Frau nach dem College unter. Hoffnungen, Träume? Sie schrumpften mit jedem Tag in ihrem Cubicle weiter zusammen, bis nichts als das Ziel blieb, den Berg Schulden abzuzahlen, den sie mit der Ausbildung für den sinnlosen Job angehäuft hat.
Doch das alles ist Geschichte, als sie dem funkelnden Campus von The Circle entgegenschreitet, der weniger Bürokomplex ist als himmlisches Jerusalem. Der Circle ist das, was herauskäme, wenn Google, Facebook, Twitter und alle anderen Online-Dienste fusionierten. Ein Gigant, der mit erbarmungsloser Freundlichkeit jeden Bereich des Lebens durchdrungen und für sich profitabel gemacht hat. Ihre Überflieger-Freundin Annie ist hier schnell aufgestiegen, nun heuert auch Mae beim „coolsten Unternehmen der Welt“ an.
Wie cool es wirklich ist, das hatte sich Mae in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Sie flüstert die in Stein gelaserten Losungen nach: „Bringt euch ein“, „Sucht Gemeinschaft“, „Träumt“. Sie bewundert die durch ihre implantierten Netzhautscreens ins Leere starrenden Circler – Zukunftsmenschen!; sie passiert die veganische Cafeteria, die Schlafwaben und das Amphitheater, wo Stars pro bono auftreten: Für die Digitalelite spielen zu dürfen ist Lohn genug. Dass den Circlern jeder diesseitige Komfort zur Verfügung steht, erscheint nur folgerichtig angesichts ihrer harten Arbeit am Jenseits: „Alles, was wir hier machen, hat das Ziel, bisher Unbekanntes zu erkennen.“
Doch bevor die Novizin sich der Zukunft würdig erweist, muss sie die Gegenwart abarbeiten. Man steckt sie in die „Customer Experience“, wo sie im Akkord E-Mails beantwortet, unterstützt allein von den behavioristischen Belohnungstools – digitalen Glöckchen, Smileys und Rankingsystemen – die die Circler mit regelmäßigen Dopamindosen bei Laune halten.
Ehe sie es wagt, sich ihre Enttäuschung einzugestehen, kehren ihre Vorgesetzten perfide die Verhältnisse um: „Du bist nicht nur ein Rädchen im Getriebe“, werfen sie ihr vor. „Wir betrachten dich als ein vollständiges erkennbares menschliches Wesen mit grenzenlosem Potenzial.“ Es ist nicht ihre Arbeit, die sie bemängeln, sondern ihren „Egoismus“. Sie ging Kajakfahren, und postete keine Bilder! Ihr Vater liegt im Sterben – und die Community darf nicht Anteil nehmen? Hippie-Formeln und Kapitalismuskritik aus dem 20. Jahrhundert rechtfertigen im 21. eine neue, geistige und emotionale Leibeigenschaft.
Mae tut eifrig Buße. Bis tief in die Nacht verschickt sie „Zings“, „Smiles“ und „Frowns“, lobt Urlaubsfotos, bewertet Produkte. Weniger aus Überzeugung denn aus einem nie erklärten Mangel an Persönlichkeit liefert sie sich nun dem Transparenzcredo aus.
Ihre Körperfunktionen kennt die Firma schon: Ein Sensor funkt sie aus ihren Eingeweiden an den schimmernden Armreif, der ihr um das Handgelenk geschlossen wurde. Auch ihre Vorlieben beim Urlaub, beim Schuhkauf lagern auf den Servern. Doch erst als Eamon Bailey selbst, einer der „Drei Weisen“, sie nach einer letzten frevelhaften Flucht ins Private auf die utopische Mission des Circle einschwört, ist ihre Konversion vollkommen.
Unheimlich ist jede Idee, mit der der Circle sich im Leben von Milliarden festgesetzt hat: TruYou etwa, das der Anonymität im Internet ein Ende bereitete und dem Circle zur Alleinherrschaft verhalf. SeeChange, für das die Welt mit Millionen winzigen Kameras bestückt werden soll, um jeden Winkel online sichtbar zu machen. Oder ChildTrack, die Implantation von Chips ins Knochenmark Neugeborener. Sie sind vor Kidnapping sicher – und lebenslange Geiseln des Circles.
Doch alle diese Programme sind nur Etappen auf dem Weg zur „Vollendung“, den Moment, da es nichts mehr gibt, was den Augen des Circle verborgen bliebe. Mae selbst wird auserwählt, den nächsten Schritt dorthin zu gehen: Sie „wird transparent“, wird 24 Stunden täglich Überwacherin ihrer selbst sein und ihr Leben mit Hunderttausenden Zuschauern teilen.
Als „awakening“ beschreibt sie diese Opferung ihrer Privatheit (gemeint ist schon Erweckung, nicht „Erwachen“, wie es in der Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann heißt, denen das Gehirngewaschenen-Idiom der Circler im Deutschen oft zu umständlich gerät). Und bestätigt damit, was der Leser schon auf der ersten Seite verstanden hat: „Ich bin im Himmel“, rief Mae dort aus: Die „Drei Weisen“ und die „Vierzigerbande“ haben es weniger auf Umsatzsteigerungen und Marktanteile abgesehen, sondern auf ein irdisches Himmelreich der Moral und der Stabilität. Der Schlüssel dazu ist lückenlose Überwachung. Jeder soll wie Gott alles sehen können, und jeder wird die anderen alles sehenden Götter fürchten.
„Wenn wir unser bestes Selbst werden, sind die Möglichkeiten endlos. Wir können jedes Problem lösen, jede Krankheit heilen, den Hunger besiegen, alles, weil wir uns nicht mehr von unseren Schwächen behindern lassen, von unseren trivialen Geheimnissen, unserem Horten von Informationen und Wissen“, so Bailey. Mae selbst, die jetzt Postergirl und Apostel des sündenfreien Glücksregimes ist, formuliert dessen Glaubensbekenntnis: „Geheimnisse sind Lügen“, „Heilen ist Teilen“, „Alles Private ist Diebstahl“.
Eggers’ Strategie ist so naheliegend wie überzeugend: Seit Langem provozieren die realen Gurus aus dem Silicon Valley ja mit ihrer Rhetorik von der „Revolution“ und der „besseren Welt“. Noch die banalste Innovation verknüpfen sie mit dem Versprechen auf Befreiung, Kreativität und Gemeinschaft. Ganz zu schweigen von ihrer Ikonografie, vom angebissenen Apple-Apfel bis zu den neobarocken Firmamenten der Bildschirmschoner. Tut man sie probeweise einmal nicht als bloße PR-Hyperbolik ab, landet man, so scheint es, fast zwangsläufig bei den Erlösungsphantasien von „Der Circle“.
Sehr subtil verfährt Eggers allerdings nicht bei seiner Utopie-Collage: So wie der Circle alle Konkurrenten geschluckt hat, scheint auch Eggers digitales Himmelreich aus einem Merger der Heilsversprechen von Kommunismus und Katholizismus, Puritanismus und amerikanischer Mythologie hervorgegangen zu sein. Mit dickem Pinsel kleckst Eggers die entsprechenden Referenzen über die Seiten.
Doch trotz des motivischen Overkills kann Eggers nicht erklären, warum sich die Circler so willig dem Transparenzzwang unterwerfen. Noch weniger leuchtet die kryptopuritanische Agenda der Circle-Eminenzen ein, die der Erzählung erst ihren fiebrigen Grusel verleiht. Man kann den Eric Schmidts, Mark Zuckerbergs und Peter Thiels vieles vorwerfen: Hybris, kulturelle Blindheit, Verächtlichkeit gegen alle, die sich ihrem Fundamentaloptimismus in den Weg stellen. Aber bigotte Moralapostel wie aus der Megachurch sind sie nicht. Interessanter wäre es gewesen zu erfahren, was sie wirklich antreibt.
Doch Eggers beschäftigen weder deren wahre Motivationen noch die seiner übrigen Charaktere. Dass sie alle wirken wie aus Pappe ausgeschnitten fürs Agitprop-Straßentheater, stört ihn so wenig wie die Tatsache, dass in seinem Buch literarisch nichts passiert. Es schildert die Zukunft mit den erzählerischen Mitteln der Vergangenheit. Wie naheliegend wäre es gewesen, die psychologischen Effekte des Offenheitsterrors zu beschreiben. Oder die wachsende Macht des Circle über das Bewusstsein seiner Angestellten sprachlich erfahrbar zu machen. Seine Figuren hingegen sind Roboter schon vor ihrer Zurichtung durch den Circle. Auch das ist ein Statement, aber wohl kein beabsichtigtes.
Da sich die Übergriffe der Datenmonster, ob sie nun Google heißen oder NSA, mit nuancierter Kritik nicht stoppen ließen, ist die Zeit reif für gröbere Werkzeuge, sagte sich Eggers. Sein Buch ist ein Plakat, das seine Leser aufrütteln und sie das Fürchten lehren soll. Das ist ihm unzweifelhaft gelungen.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Dave Eggers: Der Circle. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 560 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
Über die Grautöne unserer
Überwachungsdiskussion kippt
Eggers einen Eimer Schwarz
Eggers’ eher grobe Mittel
des Erzählens kennt man vom
Agitprop-Straßentheater
Autor Dave Eggers, 44, wurde bekannt mit „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ (2000). Außerdem leitet er einen Verlag und eine Literaturinitiative für Kinder. Foto: oh
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Dave Eggers’ Überwachungsroman „Der Circle“ wird als neues „1984“ gehandelt. Doch der Autor macht seine Romanfiguren auch selbst zu Marionetten
Großer Vorstellungskraft bedarf es heute nicht mehr, um Science-Fiction zu schreiben. Wir leben zwar noch immer nicht auf dem Mond, warten weiter auf fliegende Autos und wissen weniger denn je, wie sich die Probleme der Menschheit lösen lassen. Doch gleichzeitig treibt uns die Digitalisierung mit jedem Produktzyklus weiter in Bereiche, die eben noch tief im Phantastischen lagen. Für seinen Roman „The Circle“, der jetzt auf Deutsch erscheint, musste Dave Eggers also wenig mehr tun, als sich auszumalen, was wäre, würden die Macht der Datenkonzerne und unsere Bereitschaft, uns ihnen auszuliefern, weiterwachsen wie bisher.
Eggers hat schon oft sein Gespür für die richtigen Themen zum richtigen Zeitpunkt bewiesen: mit seinem Katrina -Roman „Zeitoun“ etwa oder seiner Kapitalismus-Kritik „Ein Hologramm für den König“. Doch mit „Der Circle“, der noch vor den NSA-Enthüllungen geschrieben wurde, hat er sich selbst übertroffen.
Eggers hat den „Roman unserer Zeit“, geschrieben, titelte die FAS, die ihm eine ganze Feuilletonausgabe widmete; das „1984“ für 2014, so die Zeit, die das Buch von fünf Autoren begutachten ließ. Vor allem aber ist es ein Roman, der die Sehnsucht nach Eindeutigkeit befriedigt. Eggers macht sich genau von dem Punkt aus auf seinen Weg in die Endzeit, an dem selbst apokalyptisch gestimmte Leitartikler umkehren, um sich nicht unglaubwürdig zu machen. Er scheut sich nicht, unsere kollektiven Zukunftsängste in minutiösem Detail aufzublättern, und über die in allen Grautönen geführte Überwachungsdebatte kippt er einen Eimer Schwarz. Entsprechend gierig verschlingt man dieses Buch, für entsprechend relevant wird es gehalten.
Mae Holland, 24, ist eine arme Seele aus dem städtischen Gaswerk. Dort kam sie als IT-Frau nach dem College unter. Hoffnungen, Träume? Sie schrumpften mit jedem Tag in ihrem Cubicle weiter zusammen, bis nichts als das Ziel blieb, den Berg Schulden abzuzahlen, den sie mit der Ausbildung für den sinnlosen Job angehäuft hat.
Doch das alles ist Geschichte, als sie dem funkelnden Campus von The Circle entgegenschreitet, der weniger Bürokomplex ist als himmlisches Jerusalem. Der Circle ist das, was herauskäme, wenn Google, Facebook, Twitter und alle anderen Online-Dienste fusionierten. Ein Gigant, der mit erbarmungsloser Freundlichkeit jeden Bereich des Lebens durchdrungen und für sich profitabel gemacht hat. Ihre Überflieger-Freundin Annie ist hier schnell aufgestiegen, nun heuert auch Mae beim „coolsten Unternehmen der Welt“ an.
Wie cool es wirklich ist, das hatte sich Mae in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Sie flüstert die in Stein gelaserten Losungen nach: „Bringt euch ein“, „Sucht Gemeinschaft“, „Träumt“. Sie bewundert die durch ihre implantierten Netzhautscreens ins Leere starrenden Circler – Zukunftsmenschen!; sie passiert die veganische Cafeteria, die Schlafwaben und das Amphitheater, wo Stars pro bono auftreten: Für die Digitalelite spielen zu dürfen ist Lohn genug. Dass den Circlern jeder diesseitige Komfort zur Verfügung steht, erscheint nur folgerichtig angesichts ihrer harten Arbeit am Jenseits: „Alles, was wir hier machen, hat das Ziel, bisher Unbekanntes zu erkennen.“
Doch bevor die Novizin sich der Zukunft würdig erweist, muss sie die Gegenwart abarbeiten. Man steckt sie in die „Customer Experience“, wo sie im Akkord E-Mails beantwortet, unterstützt allein von den behavioristischen Belohnungstools – digitalen Glöckchen, Smileys und Rankingsystemen – die die Circler mit regelmäßigen Dopamindosen bei Laune halten.
Ehe sie es wagt, sich ihre Enttäuschung einzugestehen, kehren ihre Vorgesetzten perfide die Verhältnisse um: „Du bist nicht nur ein Rädchen im Getriebe“, werfen sie ihr vor. „Wir betrachten dich als ein vollständiges erkennbares menschliches Wesen mit grenzenlosem Potenzial.“ Es ist nicht ihre Arbeit, die sie bemängeln, sondern ihren „Egoismus“. Sie ging Kajakfahren, und postete keine Bilder! Ihr Vater liegt im Sterben – und die Community darf nicht Anteil nehmen? Hippie-Formeln und Kapitalismuskritik aus dem 20. Jahrhundert rechtfertigen im 21. eine neue, geistige und emotionale Leibeigenschaft.
Mae tut eifrig Buße. Bis tief in die Nacht verschickt sie „Zings“, „Smiles“ und „Frowns“, lobt Urlaubsfotos, bewertet Produkte. Weniger aus Überzeugung denn aus einem nie erklärten Mangel an Persönlichkeit liefert sie sich nun dem Transparenzcredo aus.
Ihre Körperfunktionen kennt die Firma schon: Ein Sensor funkt sie aus ihren Eingeweiden an den schimmernden Armreif, der ihr um das Handgelenk geschlossen wurde. Auch ihre Vorlieben beim Urlaub, beim Schuhkauf lagern auf den Servern. Doch erst als Eamon Bailey selbst, einer der „Drei Weisen“, sie nach einer letzten frevelhaften Flucht ins Private auf die utopische Mission des Circle einschwört, ist ihre Konversion vollkommen.
Unheimlich ist jede Idee, mit der der Circle sich im Leben von Milliarden festgesetzt hat: TruYou etwa, das der Anonymität im Internet ein Ende bereitete und dem Circle zur Alleinherrschaft verhalf. SeeChange, für das die Welt mit Millionen winzigen Kameras bestückt werden soll, um jeden Winkel online sichtbar zu machen. Oder ChildTrack, die Implantation von Chips ins Knochenmark Neugeborener. Sie sind vor Kidnapping sicher – und lebenslange Geiseln des Circles.
Doch alle diese Programme sind nur Etappen auf dem Weg zur „Vollendung“, den Moment, da es nichts mehr gibt, was den Augen des Circle verborgen bliebe. Mae selbst wird auserwählt, den nächsten Schritt dorthin zu gehen: Sie „wird transparent“, wird 24 Stunden täglich Überwacherin ihrer selbst sein und ihr Leben mit Hunderttausenden Zuschauern teilen.
Als „awakening“ beschreibt sie diese Opferung ihrer Privatheit (gemeint ist schon Erweckung, nicht „Erwachen“, wie es in der Übersetzung von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann heißt, denen das Gehirngewaschenen-Idiom der Circler im Deutschen oft zu umständlich gerät). Und bestätigt damit, was der Leser schon auf der ersten Seite verstanden hat: „Ich bin im Himmel“, rief Mae dort aus: Die „Drei Weisen“ und die „Vierzigerbande“ haben es weniger auf Umsatzsteigerungen und Marktanteile abgesehen, sondern auf ein irdisches Himmelreich der Moral und der Stabilität. Der Schlüssel dazu ist lückenlose Überwachung. Jeder soll wie Gott alles sehen können, und jeder wird die anderen alles sehenden Götter fürchten.
„Wenn wir unser bestes Selbst werden, sind die Möglichkeiten endlos. Wir können jedes Problem lösen, jede Krankheit heilen, den Hunger besiegen, alles, weil wir uns nicht mehr von unseren Schwächen behindern lassen, von unseren trivialen Geheimnissen, unserem Horten von Informationen und Wissen“, so Bailey. Mae selbst, die jetzt Postergirl und Apostel des sündenfreien Glücksregimes ist, formuliert dessen Glaubensbekenntnis: „Geheimnisse sind Lügen“, „Heilen ist Teilen“, „Alles Private ist Diebstahl“.
Eggers’ Strategie ist so naheliegend wie überzeugend: Seit Langem provozieren die realen Gurus aus dem Silicon Valley ja mit ihrer Rhetorik von der „Revolution“ und der „besseren Welt“. Noch die banalste Innovation verknüpfen sie mit dem Versprechen auf Befreiung, Kreativität und Gemeinschaft. Ganz zu schweigen von ihrer Ikonografie, vom angebissenen Apple-Apfel bis zu den neobarocken Firmamenten der Bildschirmschoner. Tut man sie probeweise einmal nicht als bloße PR-Hyperbolik ab, landet man, so scheint es, fast zwangsläufig bei den Erlösungsphantasien von „Der Circle“.
Sehr subtil verfährt Eggers allerdings nicht bei seiner Utopie-Collage: So wie der Circle alle Konkurrenten geschluckt hat, scheint auch Eggers digitales Himmelreich aus einem Merger der Heilsversprechen von Kommunismus und Katholizismus, Puritanismus und amerikanischer Mythologie hervorgegangen zu sein. Mit dickem Pinsel kleckst Eggers die entsprechenden Referenzen über die Seiten.
Doch trotz des motivischen Overkills kann Eggers nicht erklären, warum sich die Circler so willig dem Transparenzzwang unterwerfen. Noch weniger leuchtet die kryptopuritanische Agenda der Circle-Eminenzen ein, die der Erzählung erst ihren fiebrigen Grusel verleiht. Man kann den Eric Schmidts, Mark Zuckerbergs und Peter Thiels vieles vorwerfen: Hybris, kulturelle Blindheit, Verächtlichkeit gegen alle, die sich ihrem Fundamentaloptimismus in den Weg stellen. Aber bigotte Moralapostel wie aus der Megachurch sind sie nicht. Interessanter wäre es gewesen zu erfahren, was sie wirklich antreibt.
Doch Eggers beschäftigen weder deren wahre Motivationen noch die seiner übrigen Charaktere. Dass sie alle wirken wie aus Pappe ausgeschnitten fürs Agitprop-Straßentheater, stört ihn so wenig wie die Tatsache, dass in seinem Buch literarisch nichts passiert. Es schildert die Zukunft mit den erzählerischen Mitteln der Vergangenheit. Wie naheliegend wäre es gewesen, die psychologischen Effekte des Offenheitsterrors zu beschreiben. Oder die wachsende Macht des Circle über das Bewusstsein seiner Angestellten sprachlich erfahrbar zu machen. Seine Figuren hingegen sind Roboter schon vor ihrer Zurichtung durch den Circle. Auch das ist ein Statement, aber wohl kein beabsichtigtes.
Da sich die Übergriffe der Datenmonster, ob sie nun Google heißen oder NSA, mit nuancierter Kritik nicht stoppen ließen, ist die Zeit reif für gröbere Werkzeuge, sagte sich Eggers. Sein Buch ist ein Plakat, das seine Leser aufrütteln und sie das Fürchten lehren soll. Das ist ihm unzweifelhaft gelungen.
JÖRG HÄNTZSCHEL
Dave Eggers: Der Circle. Roman. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 560 Seiten, 22,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
Über die Grautöne unserer
Überwachungsdiskussion kippt
Eggers einen Eimer Schwarz
Eggers’ eher grobe Mittel
des Erzählens kennt man vom
Agitprop-Straßentheater
Autor Dave Eggers, 44, wurde bekannt mit „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ (2000). Außerdem leitet er einen Verlag und eine Literaturinitiative für Kinder. Foto: oh
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