Lima ist das Herz der Welt. Lima ist eine amerikanische Kleinstadt in Indiana. Hier beginnen alle Geschichten, hier enden sie - oft dramatisch und traurig. Lima, Indiana, 1884: Der melancholische Gentleman und Unternehmer Wallace Porter erwirbt in Whiskeylaune einen bankrotten Zirkus, als Denkmal für seine eben gestorbene junge Frau. Das einst verschlafene Lima wird zum pulsierenden Winterquartier des Great Porter Circus: Reich der Akrobatin Jennie Dixianna mit dem blutenden Handgelenk, die jeden Mann betört; Ort der Rache des Elefanten Caesar - eine der Hauptfiguren in diesem vielstimmigen Roman - an seinem Dompteur und Peiniger; Heimat des pseudoafrikanischen Stammes der "Spitzköpfe", die den Zirkusbesuchern exotische Schauer bereiten; Schauplatz einer furchtbaren Überflutung. Über die Jahrzehnte und Generationen hinweg verschmelzen die Sippen des Zirkus mit denen der Kleinstadt Lima. Während die einen sich nach einem festen Wohnsitz sehnen, drängt die anderen das Fernweh ins Manegezelt. Winterquartier - eine grandiose Parabel über die Sehnsucht nach Ferne und Abenteuerlust.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2006So ein Zirkusleben
Manege frei: Erzählungen der Amerikanerin Cathy Day
1901 wurde ihr Urgroßonkel von einem Elefanten umgebracht: eine gute Partyanekdote, aus der Cathy Day neunzig Jahre später eine gute short story strickte - dann eine zweite, schließlich eine dritte ... 2004 erschien das Gesamtpaket: Elf mehr oder weniger lose verbundene Geschichten, Vignetten aus über hundert Jahren Innenwelt und Außenwelt eines Zirkus, überschrieben "The Circus in Winter". Daß die deutsche Ausgabe schlicht "Winterquartier" heißt, trifft den Ton dieses Sammelbandes, den der Verlag als Roman etikettiert. Denn Tusch und Trommelwirbel sind Cathy Days Sache nicht. Sie kam 1968 in Peru, Indiana, zur Welt - in der Stadt, in der das Winterquartier des berühmten Hagenbeck-Wallace-Zirkus aufgeschlagen wurde. Bis heute hängt der Elefanten-Hakenstock ihres Urgroßonkels in ihrer Wohnung: viel zu nah für Firlefanz.
Den Operettenklamauk übers lustige Zirkusleben überläßt sie daher anderen. So sind ihre traurigen Clowns und fröhlichen Äffchen, ihre verführerischen Seiltänzerinnen und furchterregenden Raubkatzen alles andere als Zucker für Zeltlagerlebenromantik. "Winterquartier" erzählt Zirkusgeschichte (auch) als Zeitgeschichte, mischt Manegen-Histörchen mit Hinterland-Historie: ein sec gehaltener Cocktail aus Provinzposse und Provinztristesse - der die Hälfte der Helden Cathy Days um jeden Preis entrinnen wollen.
"Als ich klein war, sagte mir meine Mutter, grundsätzlich gebe es zwei Arten von Menschen: Stadtmenschen und Zirkusmenschen. Diejenigen, die blieben, seien Stadtmenschen, und diejenigen, die fortgingen, seien Zirkusmenschen." Das ist das Leitmotiv, das durchs ganze Buch angeschlagen und im Finale, einer Rückkehr-Reminiszenz aus dem Jahr 2000, ausformuliert wird ("Zirkusvolk").
Der erste Zirkusmensch, der im Roman die Manege betritt, ist Wallace Porter, ein ehemaliger Offizier der Unionskavallerie. Er betreibt in Lima, Indiana, einen florierenden Mietstall und erlaubt sich einmal im Jahr eine Geschäftsreise nach New York. Dort wallt Wallace jeweils zu den Freßtempeln, den Modetempeln und den Kulturtempeln, vor allem aber berauscht er sich an der Anonymität. Doch 1883 ist alles anders: Er selbst wird zur schillernden Exotismus-Verkörperung, ein ganzer Kerl aus einer fernen Stadt namens Lima - eine Chance zur Flucht für eine rebellische höhere Tochter. Nach zwei Wochen ist Hochzeit. Sie hofft auf ein wildes Leben, er hofiert sie mit einer Villa und Besuchen bei der Hautevolee von Lima: ein tragisches Mißverständnis. Erst als die junge Frau voller unerfüllter Sehnsüchte - und voller Metastasen - auf dem Sterbebett liegt, beschafft er einen bankrotten Zirkus zum Schnäppchenpreis: Geburtsstunde des Great Porter Circus aus dem Geist der Trauer um verpaßtes Leben.
Dem Leben rennen auch die Figuren in den nächsten zehn Kurzgeschichten hinterher. Mal oben am Zelthimmel, wo die betörende Jennie hängt und sich in ihrem "Todeskreisel" dreht, mal unten in den Tiefen der Erinnerung, wo ein kleines, mißbrauchtes Mädchen kauert, das nie weint ("Jennie Dixianna"). Drei Geschichten und hundert Seiten später finden wir Jennies Leichnam, eingeklemmt zwischen Barackenwand und Messingbett, in einem Meer von Whiskyflaschen: Sie ist bei der Überschwemmung des Winnesaw-Flusses 1913 ertrunken, als das gesamte Winterquartier des Zirkus weggespült wurde ("Winnesaw"). Bei dieser Überschwemmung wurde Mildred geboren, ein "Stadtmensch", der sich in die Arme von "Zirkusmensch" Ollie verirrt, dem Sohn des getöteten Elefantendompteurs, den die Zeit aus der Manege in eine Wäscherei werfen wird: noch eine Geschichte des Verpassens ("Der Hakenstock"), zusammen mit jener über Ollies und Mildreds Tochter, die 1967 vor dem lokalen Traualtar endet statt wie erträumt on the road, eine der besten des Bandes ("Der King und die Seinen").
Knappe Dialoge, trockene, nur selten ins Klischee kippende Schilderungen und eine unverhohlene Lust am Grotesken im total Normalen lassen in diesem Text ein Erzähltalent vom Format einer Annie Proulx ahnen. Es wird sich weisen, ob die junge Autorin dieses große Versprechen über das Genre der autobiographischen Recherche und der Kurzgeschichte hinaus einlöst.
ALEXANDRA KEDVES
Cathy Day: "Winterquartier". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. DuMont Kunst und Literatur Verlag, Köln 2006. 320 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Manege frei: Erzählungen der Amerikanerin Cathy Day
1901 wurde ihr Urgroßonkel von einem Elefanten umgebracht: eine gute Partyanekdote, aus der Cathy Day neunzig Jahre später eine gute short story strickte - dann eine zweite, schließlich eine dritte ... 2004 erschien das Gesamtpaket: Elf mehr oder weniger lose verbundene Geschichten, Vignetten aus über hundert Jahren Innenwelt und Außenwelt eines Zirkus, überschrieben "The Circus in Winter". Daß die deutsche Ausgabe schlicht "Winterquartier" heißt, trifft den Ton dieses Sammelbandes, den der Verlag als Roman etikettiert. Denn Tusch und Trommelwirbel sind Cathy Days Sache nicht. Sie kam 1968 in Peru, Indiana, zur Welt - in der Stadt, in der das Winterquartier des berühmten Hagenbeck-Wallace-Zirkus aufgeschlagen wurde. Bis heute hängt der Elefanten-Hakenstock ihres Urgroßonkels in ihrer Wohnung: viel zu nah für Firlefanz.
Den Operettenklamauk übers lustige Zirkusleben überläßt sie daher anderen. So sind ihre traurigen Clowns und fröhlichen Äffchen, ihre verführerischen Seiltänzerinnen und furchterregenden Raubkatzen alles andere als Zucker für Zeltlagerlebenromantik. "Winterquartier" erzählt Zirkusgeschichte (auch) als Zeitgeschichte, mischt Manegen-Histörchen mit Hinterland-Historie: ein sec gehaltener Cocktail aus Provinzposse und Provinztristesse - der die Hälfte der Helden Cathy Days um jeden Preis entrinnen wollen.
"Als ich klein war, sagte mir meine Mutter, grundsätzlich gebe es zwei Arten von Menschen: Stadtmenschen und Zirkusmenschen. Diejenigen, die blieben, seien Stadtmenschen, und diejenigen, die fortgingen, seien Zirkusmenschen." Das ist das Leitmotiv, das durchs ganze Buch angeschlagen und im Finale, einer Rückkehr-Reminiszenz aus dem Jahr 2000, ausformuliert wird ("Zirkusvolk").
Der erste Zirkusmensch, der im Roman die Manege betritt, ist Wallace Porter, ein ehemaliger Offizier der Unionskavallerie. Er betreibt in Lima, Indiana, einen florierenden Mietstall und erlaubt sich einmal im Jahr eine Geschäftsreise nach New York. Dort wallt Wallace jeweils zu den Freßtempeln, den Modetempeln und den Kulturtempeln, vor allem aber berauscht er sich an der Anonymität. Doch 1883 ist alles anders: Er selbst wird zur schillernden Exotismus-Verkörperung, ein ganzer Kerl aus einer fernen Stadt namens Lima - eine Chance zur Flucht für eine rebellische höhere Tochter. Nach zwei Wochen ist Hochzeit. Sie hofft auf ein wildes Leben, er hofiert sie mit einer Villa und Besuchen bei der Hautevolee von Lima: ein tragisches Mißverständnis. Erst als die junge Frau voller unerfüllter Sehnsüchte - und voller Metastasen - auf dem Sterbebett liegt, beschafft er einen bankrotten Zirkus zum Schnäppchenpreis: Geburtsstunde des Great Porter Circus aus dem Geist der Trauer um verpaßtes Leben.
Dem Leben rennen auch die Figuren in den nächsten zehn Kurzgeschichten hinterher. Mal oben am Zelthimmel, wo die betörende Jennie hängt und sich in ihrem "Todeskreisel" dreht, mal unten in den Tiefen der Erinnerung, wo ein kleines, mißbrauchtes Mädchen kauert, das nie weint ("Jennie Dixianna"). Drei Geschichten und hundert Seiten später finden wir Jennies Leichnam, eingeklemmt zwischen Barackenwand und Messingbett, in einem Meer von Whiskyflaschen: Sie ist bei der Überschwemmung des Winnesaw-Flusses 1913 ertrunken, als das gesamte Winterquartier des Zirkus weggespült wurde ("Winnesaw"). Bei dieser Überschwemmung wurde Mildred geboren, ein "Stadtmensch", der sich in die Arme von "Zirkusmensch" Ollie verirrt, dem Sohn des getöteten Elefantendompteurs, den die Zeit aus der Manege in eine Wäscherei werfen wird: noch eine Geschichte des Verpassens ("Der Hakenstock"), zusammen mit jener über Ollies und Mildreds Tochter, die 1967 vor dem lokalen Traualtar endet statt wie erträumt on the road, eine der besten des Bandes ("Der King und die Seinen").
Knappe Dialoge, trockene, nur selten ins Klischee kippende Schilderungen und eine unverhohlene Lust am Grotesken im total Normalen lassen in diesem Text ein Erzähltalent vom Format einer Annie Proulx ahnen. Es wird sich weisen, ob die junge Autorin dieses große Versprechen über das Genre der autobiographischen Recherche und der Kurzgeschichte hinaus einlöst.
ALEXANDRA KEDVES
Cathy Day: "Winterquartier". Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. DuMont Kunst und Literatur Verlag, Köln 2006. 320 S., geb., 21,90 [Euro].
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