¿Greek debt¿ means one thing to the country¿s creditors. But for millions who prize culture over capital, it means the symbolic debt we owe Greece for democracy, philosophy, mathematics, and fine art. Johanna Hanink shows that our idealized image of ancient Greece dangerously shapes our view of the country¿s economic hardship and refugee crisis.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.07.2017Wie viele Milliarden ist uns die Antigone wert?
Kulturelles Erbe als Motiv für einen Schuldenschnitt? Johanna Hanink geht der Frage nach, ob sich der Westen den heutigen Griechen wegen der antiken Vorfahren erkenntlich zeigen sollte.
Was zu viel Geschichte in Verbindung mit ihrem monumentalischen Gebrauch anrichten kann, hat niemand besser auf den Punkt gebracht als Karl Marx im "Achtzehnten Brumaire", dort in Bezug auf die Revolution und Napoleon: "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."
Die instruktiven Teile von Johanna Haninks Buch berichten von der verschärften griechischen Variante der Marxschen Erkenntnis. Denn zumal englische und deutsche Antikeverehrer konstruierten nicht nur das Idealbild eines klassischen Hellas für sich selbst, dieses Bild prägte seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert auch weite Teile der sozialen und intellektuellen Elite in den griechischen Regionen des Osmanischen Reiches sowie im Exil - so hat Adamantios Korais, der wirkmächtige Künder einer Erneuerung von Hellas im antiken Geist und Schöpfer eines antikisierenden Neugriechisch, in seinem langen Leben nie den Boden des griechischen Kernlandes betreten.
Dieser Prozess, den eine Kolonialisierung zu nennen Hanink nicht müde wird, habe das griechische "nation building" über das neunzehnte Jahrhundert hinaus begleitet und habe sich als goldenes Gefängnis erwiesen. Konkurrierende Generalisierungen, Griechenland sei ein eher orientalisches Land oder gehöre durch die Orthodoxie zum "Osten", blieben in der Minderheit, so auch der Dichter Kostis Palamas, der lapidar festhielt, man sei Hellene, um die Welt übers Ohr zu hauen, in Wirklichkeit aber sei man Rhomäer - also Byzantiner. Sichtbar für alle projizierten die Architekten König Ottos eine europäische Phantasie vom antiken Hellas in die öffentlichen Gebäude der neuen Hauptstadt und wurden auf der Akropolis alle Spuren getilgt, die nicht auf die goldene Ära des Perikles verwiesen.
Auch die aktuelle, sich als links verstehende griechische Regierung steht in der Kontinuität ihrer Vorgänger, wenn sie immer wieder die Antike als den maßgeblichen Beitrag ihres Landes zum "Westen" aufruft. Erhellend verfolgt die an der Brown-Universität Altertumswissenschaft lehrende Autorin dieses Argumentationsmuster bis in die Zeit zurück, als die Leistungen der Perserkriegsgeneration und die Kultur der perikleischen Epoche bereits wenige Jahrzehnte später zu Vorbildern erklärt wurden - und die Nachgeborenen hätten bereits unter dieser Bürde gelitten.
An dieser Stelle kann man jedoch Zweifel anmelden, denn die Athener selbst haben sich kaum als Geiseln ihrer großen Vergangenheit gesehen, sondern die Hellenen insgesamt als deren Nutznießer, die gefälligst dankbar zu sein hätten. Aber Hanink braucht die Konstellation, um die aktuellen Griechen als Opfer eines fremdbestimmten Selbstbildes zu zeichnen - und vor allem als unschuldige Schuldner.
Denn Titel und Leitidee des Buches machen eine seltsame Frage aus: Schulden "wir" als "westliche Zivilisation" den alten Griechen kulturell und geistig so viel, dass die heutigen Griechen diese Schulden mit ihren aktuellen finanziellen Verbindlichkeiten verrechnen dürfen sollten? Oder einfacher: Wie viele Millionen oder Milliarden Euro ist die "Antigone" des Sophokles wert? Hanink nimmt einen nicht uninteressanten, aber letztlich irrelevanten Umweg über die seit dem achtzehnten Jahrhundert strittige Frage, ob zwischen den antiken und den modernen Griechen überhaupt irgendeine Kontinuität bestehe, die eine solche Aufrechnung rechtfertigen könnte, oder ob nicht die echten Abkömmlinge der antiken Griechen tatsächlich die Hellenisten in Oxford und Cambridge waren, wie C.M. Woodhouse einst pointiert feststellte.
Dieser Streit ist ethnologisch wie sozio-kulturell mit erstaunlichem Aufwand ausgetragen worden, aber die interessegeleitete griechische Position wie die Zustimmung zu ihr vor allem in England und den Vereinigten Staaten befinden sich, man muss es so deutlich sagen, auf einem Niveau romantisch-identitärer Argumentation, wie sie hierzulande mit Bezug auf die Germanen zuletzt vor achtzig Jahren in Mode war. Percy Shelleys "Wir alle sind Griechen!" zielte im Übrigen nicht darauf, ein Land zu enteignen, sondern ein kulturelles Erbe zu universalisieren, das zeitweise bei den Bewohnern dieses Gebietes nicht in guten Händen war.
Die näherliegende Frage, ob solch disparate Kapitalsorten überhaupt konvertierbar sind, wird gar nicht gestellt. Immerhin erzählt Hanink die hübsche Geschichte eines profitorientierten philhellenischen Komitees in England, das "Unabhängigkeitsanleihen" ausgab und wegen seiner Verstrickung in die erste neuzeitliche Schuldenkrise Griechenlands Bankrott machte. Ihre eigene These modifiziert das Schuldenargument in mittlerweile typischer postkolonialer Selbstkasteiung: "Wir" schulden den Griechen in der Tat etwas: nicht wegen der Demokratie, des Parthenon oder der "Antigone", sondern weil wir das griechische Volk so lange als Gefangene einer konstruierten Vergangenheit gehalten hätten und es nun bestrafen, weil es die Standards nicht erfülle.
Das Buch enthält ebenso erheiternde wie erhellende Abbildungen. Auf einem Foto ist Melina Mercouri, die unermüdlich für die Rückgabe der Elgin Marbles streitende griechische Kulturministerin der achtziger Jahre, zu sehen, vor einer ehrwürdigen College-Kulisse im Gespräch mit einem Studenten, der als Präsident der Oxford Union eine Podiumsdiskussion zu diesem Themazu leiten hatte. Der pausbäckig-verschmitzt blickende Blonde mit Fliege ist Boris Johnson. Er meint, völlig zu Recht, die Marbles gehören ins Britische Museum.
UWE WALTER.
Johanna Hanink: "The Classical Debt". Greek Antiquity in an Era of Austerity.
Harvard University Press, Cambridge/London 2017. 352 S., Abb., geb., 28,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kulturelles Erbe als Motiv für einen Schuldenschnitt? Johanna Hanink geht der Frage nach, ob sich der Westen den heutigen Griechen wegen der antiken Vorfahren erkenntlich zeigen sollte.
Was zu viel Geschichte in Verbindung mit ihrem monumentalischen Gebrauch anrichten kann, hat niemand besser auf den Punkt gebracht als Karl Marx im "Achtzehnten Brumaire", dort in Bezug auf die Revolution und Napoleon: "Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen."
Die instruktiven Teile von Johanna Haninks Buch berichten von der verschärften griechischen Variante der Marxschen Erkenntnis. Denn zumal englische und deutsche Antikeverehrer konstruierten nicht nur das Idealbild eines klassischen Hellas für sich selbst, dieses Bild prägte seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert auch weite Teile der sozialen und intellektuellen Elite in den griechischen Regionen des Osmanischen Reiches sowie im Exil - so hat Adamantios Korais, der wirkmächtige Künder einer Erneuerung von Hellas im antiken Geist und Schöpfer eines antikisierenden Neugriechisch, in seinem langen Leben nie den Boden des griechischen Kernlandes betreten.
Dieser Prozess, den eine Kolonialisierung zu nennen Hanink nicht müde wird, habe das griechische "nation building" über das neunzehnte Jahrhundert hinaus begleitet und habe sich als goldenes Gefängnis erwiesen. Konkurrierende Generalisierungen, Griechenland sei ein eher orientalisches Land oder gehöre durch die Orthodoxie zum "Osten", blieben in der Minderheit, so auch der Dichter Kostis Palamas, der lapidar festhielt, man sei Hellene, um die Welt übers Ohr zu hauen, in Wirklichkeit aber sei man Rhomäer - also Byzantiner. Sichtbar für alle projizierten die Architekten König Ottos eine europäische Phantasie vom antiken Hellas in die öffentlichen Gebäude der neuen Hauptstadt und wurden auf der Akropolis alle Spuren getilgt, die nicht auf die goldene Ära des Perikles verwiesen.
Auch die aktuelle, sich als links verstehende griechische Regierung steht in der Kontinuität ihrer Vorgänger, wenn sie immer wieder die Antike als den maßgeblichen Beitrag ihres Landes zum "Westen" aufruft. Erhellend verfolgt die an der Brown-Universität Altertumswissenschaft lehrende Autorin dieses Argumentationsmuster bis in die Zeit zurück, als die Leistungen der Perserkriegsgeneration und die Kultur der perikleischen Epoche bereits wenige Jahrzehnte später zu Vorbildern erklärt wurden - und die Nachgeborenen hätten bereits unter dieser Bürde gelitten.
An dieser Stelle kann man jedoch Zweifel anmelden, denn die Athener selbst haben sich kaum als Geiseln ihrer großen Vergangenheit gesehen, sondern die Hellenen insgesamt als deren Nutznießer, die gefälligst dankbar zu sein hätten. Aber Hanink braucht die Konstellation, um die aktuellen Griechen als Opfer eines fremdbestimmten Selbstbildes zu zeichnen - und vor allem als unschuldige Schuldner.
Denn Titel und Leitidee des Buches machen eine seltsame Frage aus: Schulden "wir" als "westliche Zivilisation" den alten Griechen kulturell und geistig so viel, dass die heutigen Griechen diese Schulden mit ihren aktuellen finanziellen Verbindlichkeiten verrechnen dürfen sollten? Oder einfacher: Wie viele Millionen oder Milliarden Euro ist die "Antigone" des Sophokles wert? Hanink nimmt einen nicht uninteressanten, aber letztlich irrelevanten Umweg über die seit dem achtzehnten Jahrhundert strittige Frage, ob zwischen den antiken und den modernen Griechen überhaupt irgendeine Kontinuität bestehe, die eine solche Aufrechnung rechtfertigen könnte, oder ob nicht die echten Abkömmlinge der antiken Griechen tatsächlich die Hellenisten in Oxford und Cambridge waren, wie C.M. Woodhouse einst pointiert feststellte.
Dieser Streit ist ethnologisch wie sozio-kulturell mit erstaunlichem Aufwand ausgetragen worden, aber die interessegeleitete griechische Position wie die Zustimmung zu ihr vor allem in England und den Vereinigten Staaten befinden sich, man muss es so deutlich sagen, auf einem Niveau romantisch-identitärer Argumentation, wie sie hierzulande mit Bezug auf die Germanen zuletzt vor achtzig Jahren in Mode war. Percy Shelleys "Wir alle sind Griechen!" zielte im Übrigen nicht darauf, ein Land zu enteignen, sondern ein kulturelles Erbe zu universalisieren, das zeitweise bei den Bewohnern dieses Gebietes nicht in guten Händen war.
Die näherliegende Frage, ob solch disparate Kapitalsorten überhaupt konvertierbar sind, wird gar nicht gestellt. Immerhin erzählt Hanink die hübsche Geschichte eines profitorientierten philhellenischen Komitees in England, das "Unabhängigkeitsanleihen" ausgab und wegen seiner Verstrickung in die erste neuzeitliche Schuldenkrise Griechenlands Bankrott machte. Ihre eigene These modifiziert das Schuldenargument in mittlerweile typischer postkolonialer Selbstkasteiung: "Wir" schulden den Griechen in der Tat etwas: nicht wegen der Demokratie, des Parthenon oder der "Antigone", sondern weil wir das griechische Volk so lange als Gefangene einer konstruierten Vergangenheit gehalten hätten und es nun bestrafen, weil es die Standards nicht erfülle.
Das Buch enthält ebenso erheiternde wie erhellende Abbildungen. Auf einem Foto ist Melina Mercouri, die unermüdlich für die Rückgabe der Elgin Marbles streitende griechische Kulturministerin der achtziger Jahre, zu sehen, vor einer ehrwürdigen College-Kulisse im Gespräch mit einem Studenten, der als Präsident der Oxford Union eine Podiumsdiskussion zu diesem Themazu leiten hatte. Der pausbäckig-verschmitzt blickende Blonde mit Fliege ist Boris Johnson. Er meint, völlig zu Recht, die Marbles gehören ins Britische Museum.
UWE WALTER.
Johanna Hanink: "The Classical Debt". Greek Antiquity in an Era of Austerity.
Harvard University Press, Cambridge/London 2017. 352 S., Abb., geb., 28,99 [Euro].
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