Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.07.2013Keine Zeit, um nur zu schreiben
Grace Paley porträtierte in ihren Storys ganz gewöhnliche Frauen. Ihre poetischen Alltagsgeschichten sind nun wiederzuentdecken
Literaturhistorisch betrachtet war 1959 ein Jahr des Umbruchs. Junge Autoren sprengten mit gewagten formalen Experimenten traditionelle Erzählweisen, es war das Jahr, in dem unter anderem „Die Blechtrommel“ und „Mutmaßungen über Jakob“, „Naked Lunch“ und „Goodbye, Columbus“ herauskamen. Und auch die Werke der Postmoderne, die noch weiter gingen darin, Formen und Grenzen aufzulösen, kündigen sich bereits an.
Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass 1959 beim New Yorker Großverlag Doubleday auch das Erstlingswerk einer unbekannten Autorin namens Grace Paley erschien, die zwar seit ihrer Kindheit kontinuierlich geschrieben, mit damals 37 Jahren zuvor aber noch so gut wie nichts veröffentlicht hatte. Bemerkenswert ist „The Little Disturbances of Man“ in dreierlei Hinsicht: Zunächst, weil Grace Paley darin elf Erzählungen vorlegt, die einem eher traditionellen Realismus verpflichtet und dem ganz normalen, unspektakulären Alltag abgeschaut sind – und dabei entgegen dem Zeitgeist auf jede formale Spielerei verzichten. Des Weiteren, weil die Storys, die fast ausschließlich im New Yorker Mietshausmilieu spielen, es wagen, durchschnittliche, aber selbstbewusste, zielstrebige und herrlich ironiebegabte Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Und zu guter Letzt, weil Grace Paley auf Anhieb den Beifall der Literaturkritik findet und bald Kollegen wie Philip Roth, Joyce Carol Oates und Christa Wolf zu ihren Bewunderern zählen kann.
Trotz des Erfolgs kam es mit großer Verspätung erst in den Achtzigerjahren zu einer Übersetzung ins Deutsche, die damals vom Suhrkamp-Verlag veröffentlichten Ausgaben sind natürlich längst vergriffen. Glücklicherweise gibt es nun aber eine neue Gelegenheit, die Werke einer der meistgeschätzten amerikanischen Short-Story-Verfasserinnen auch auf Deutsch kennenzulernen. Mit einer Neuübersetzung des ersten Erzählbands unter dem Titel „Die kleinen Widrigkeiten des Lebens“ startet der Schöffling-Verlag das verdienstvolle Projekt einer Neuausgabe von Paleys Gesamtwerk in vier Bänden. Was tatsächlich die gesamte literarische Produktion von Grace Paley umfasst: Als sie 2007 starb, waren zu ihrem Debüt lediglich zwei weitere Bücher mit Storys und drei Gedichtbände dazugekommen. Denn die Tochter ukrainisch-jüdischer Einwanderer, die sich sehr viel Zeit genommen hatte, um ihre persönliche Erzählstimme zu finden, hatte sich auch nach ihrem Durchbruch nie vom Schreiben vereinnahmen lassen. Immer blieb sie überzeugt, dass andere Dinge mindestens ebenso wichtig seien. Zuerst nahm ihre Familie viel von ihrer Zeit in Anspruch, mit Beginn der Sechzigerjahre dann zunehmend ihr politischer Aktivismus: Paley setzte sich für die Rechte der Frauen ein, protestierte gegen Kriege und Atomwaffen, mehrmals wurde sie verhaftet.
Wenn man bedenkt, dass die Storys immer irgendwie nebenher entstanden, ist besonders eindrucksvoll, wie überaus lebendig und unaufdringlich poetisch sie gestaltet sind. Die Sprache der Geschichten ist an mündlichen Vortragsweisen orientiert, was die Neuübersetzung von Sigrid Ruschmeier weitaus besser vermittelt als die oft etwas steife Übertragung aus den Achtzigern. Nun hat man als Leser wirklich wie im amerikanischen Original den Eindruck, unvermittelt zum Zeugen intimer Erzählsituationen zu werden, die einen als Außenstehenden eigentlich gar nichts angehen. Gleich in der ersten Erzählung „Auf Wiedersehen und viel Glück“ etwa, wenn Rose Lieber, eine alleinstehende alte Frau, die oft als wunderlich abgetan wird, ihr unkonventionelles Leben vor ihrer Nichte ausbreitet. Statt die Anfang des 20. Jahrhunderts erwartete Geschlechterrolle als Ehefrau und Mutter auszufüllen, geht sie den damals unerhörten Weg eines selbstbestimmten Lebens. Von der Kartenverkäuferin eines jiddischen Theaters steigt sie zur Komparsin und Geliebten des Hauptdarstellers auf, trennt sich aber alsbald von dem verheirateten Familienvater und widersteht auch sonst allen Verkupplungsversuchen ihrer Umgebung. Erst als der Schauspieler sich im hohen Alter noch von seiner Frau scheiden lässt, ist sie zur Heirat bereit – hauptsächlich, um auch das mal ausprobiert zu haben.
Um Beziehungen zwischen Männern und Frauen geht es in fast allen der Storys, für deren Inhalt Grace Paley in den Straßen, den kleinen Geschäften und engen Mietshäusern der Bronx, in der sie seit ihrer Kindheit zu Hause war, reichlich Material fand. In immer neuen Variationen gelingt es ihr, auf sympathische, witzige und komplexe Weise davon zu erzählen, wie die Geschlechter aufeinanderprallen und trotz allen Unbehagens nicht ohne einander auskommen können. Die Nachteile des in den Fünfzigerjahren bestehenden sozialen Systems für die Frauen werden stets unterschwellig thematisiert, doch anders als es Paleys feministisches Engagement nahelegen würde, sind ihre Erzählungen nie offen politisch.
Am ehesten wird die Kritik an der Vorherrschaft des männlichen Geschlechts in einer Neigung zur Stereotypisierung sichtbar: Die meisten von Grace Paleys männlichen Figuren sind ruhelos, unzuverlässig und lassen sich ohne großen Ehrgeiz durchs Leben treiben. Im Gegensatz dazu haben die Frauen klare Vorstellungen, was sie wollen – auch und gerade, was ihr Beziehungs- und Sexualleben angeht. Die Unzuverlässigkeit der Männer wird von vornherein einkalkuliert: In der Story „Ein Interesse am Leben“ wird die vierfache Mutter Virginia von einem Tag auf den anderen von ihrem Mann im Stich gelassen, als dieser ausgerechnet kurz vor Weihnachten genug vom Familienleben hat. Ihre Nachbarin umreißt sofort das Prozedere in solchen Fällen: „Sag es gleich bei der Fürsorge. Sag es auch der Polizei, sie bringen gern Spielzeug für die kleinen Kinder. Und vergiss nicht, beim Kaufmann Bescheid zu sagen. Dann ist er nicht so streng beim Bezahlen.“ Symptomatisch für Paleys seelisch gefestigte Frauen ist, dass Virginia trotz aller Not nicht den Lebensmut verliert. Als sich der verantwortungsbewusste Sohn der Nachbarin ihrer annimmt, kehrt sie bereitwillig in das Leben an der Seite eines Mannes zurück.
Es hat bei Grace Paley nichts Resignatives, dass ihre Protagonistinnen nicht dauerhaft aus ihrer tradierten Rolle ausbrechen können. Entscheidend ist, dass sie selbst über ihr Schicksal bestimmen, und wenn sie es wirklich wollten, könnten sie sich auch jenseits von Küche und Kinderzimmer selbst verwirklichen – daran lassen die Storys keinen Zweifel. So bieten Paleys Geschichten einen ungewohnten und vielschichtigen Blick auf die Fünfzigerjahre und auf starke Frauen am Vorabend der Emanzipation.
MARIUS NOBACH
Philip Roth, Joyce Carol Oates
oder auch Christa Wolf gehörten
zu ihren Bewunderern
Starke Frauen am Vorabend
der Emanzipation
1959 veröffentlichte Paley ihren ersten
Erzählband und fand auf Anhieb
großen Beifall.FOTO: GETTY IMAGES
Grace Paley: Die kleinen Widrigkeiten des Lebens. Storys. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013.
256 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Grace Paley porträtierte in ihren Storys ganz gewöhnliche Frauen. Ihre poetischen Alltagsgeschichten sind nun wiederzuentdecken
Literaturhistorisch betrachtet war 1959 ein Jahr des Umbruchs. Junge Autoren sprengten mit gewagten formalen Experimenten traditionelle Erzählweisen, es war das Jahr, in dem unter anderem „Die Blechtrommel“ und „Mutmaßungen über Jakob“, „Naked Lunch“ und „Goodbye, Columbus“ herauskamen. Und auch die Werke der Postmoderne, die noch weiter gingen darin, Formen und Grenzen aufzulösen, kündigen sich bereits an.
Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, dass 1959 beim New Yorker Großverlag Doubleday auch das Erstlingswerk einer unbekannten Autorin namens Grace Paley erschien, die zwar seit ihrer Kindheit kontinuierlich geschrieben, mit damals 37 Jahren zuvor aber noch so gut wie nichts veröffentlicht hatte. Bemerkenswert ist „The Little Disturbances of Man“ in dreierlei Hinsicht: Zunächst, weil Grace Paley darin elf Erzählungen vorlegt, die einem eher traditionellen Realismus verpflichtet und dem ganz normalen, unspektakulären Alltag abgeschaut sind – und dabei entgegen dem Zeitgeist auf jede formale Spielerei verzichten. Des Weiteren, weil die Storys, die fast ausschließlich im New Yorker Mietshausmilieu spielen, es wagen, durchschnittliche, aber selbstbewusste, zielstrebige und herrlich ironiebegabte Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Und zu guter Letzt, weil Grace Paley auf Anhieb den Beifall der Literaturkritik findet und bald Kollegen wie Philip Roth, Joyce Carol Oates und Christa Wolf zu ihren Bewunderern zählen kann.
Trotz des Erfolgs kam es mit großer Verspätung erst in den Achtzigerjahren zu einer Übersetzung ins Deutsche, die damals vom Suhrkamp-Verlag veröffentlichten Ausgaben sind natürlich längst vergriffen. Glücklicherweise gibt es nun aber eine neue Gelegenheit, die Werke einer der meistgeschätzten amerikanischen Short-Story-Verfasserinnen auch auf Deutsch kennenzulernen. Mit einer Neuübersetzung des ersten Erzählbands unter dem Titel „Die kleinen Widrigkeiten des Lebens“ startet der Schöffling-Verlag das verdienstvolle Projekt einer Neuausgabe von Paleys Gesamtwerk in vier Bänden. Was tatsächlich die gesamte literarische Produktion von Grace Paley umfasst: Als sie 2007 starb, waren zu ihrem Debüt lediglich zwei weitere Bücher mit Storys und drei Gedichtbände dazugekommen. Denn die Tochter ukrainisch-jüdischer Einwanderer, die sich sehr viel Zeit genommen hatte, um ihre persönliche Erzählstimme zu finden, hatte sich auch nach ihrem Durchbruch nie vom Schreiben vereinnahmen lassen. Immer blieb sie überzeugt, dass andere Dinge mindestens ebenso wichtig seien. Zuerst nahm ihre Familie viel von ihrer Zeit in Anspruch, mit Beginn der Sechzigerjahre dann zunehmend ihr politischer Aktivismus: Paley setzte sich für die Rechte der Frauen ein, protestierte gegen Kriege und Atomwaffen, mehrmals wurde sie verhaftet.
Wenn man bedenkt, dass die Storys immer irgendwie nebenher entstanden, ist besonders eindrucksvoll, wie überaus lebendig und unaufdringlich poetisch sie gestaltet sind. Die Sprache der Geschichten ist an mündlichen Vortragsweisen orientiert, was die Neuübersetzung von Sigrid Ruschmeier weitaus besser vermittelt als die oft etwas steife Übertragung aus den Achtzigern. Nun hat man als Leser wirklich wie im amerikanischen Original den Eindruck, unvermittelt zum Zeugen intimer Erzählsituationen zu werden, die einen als Außenstehenden eigentlich gar nichts angehen. Gleich in der ersten Erzählung „Auf Wiedersehen und viel Glück“ etwa, wenn Rose Lieber, eine alleinstehende alte Frau, die oft als wunderlich abgetan wird, ihr unkonventionelles Leben vor ihrer Nichte ausbreitet. Statt die Anfang des 20. Jahrhunderts erwartete Geschlechterrolle als Ehefrau und Mutter auszufüllen, geht sie den damals unerhörten Weg eines selbstbestimmten Lebens. Von der Kartenverkäuferin eines jiddischen Theaters steigt sie zur Komparsin und Geliebten des Hauptdarstellers auf, trennt sich aber alsbald von dem verheirateten Familienvater und widersteht auch sonst allen Verkupplungsversuchen ihrer Umgebung. Erst als der Schauspieler sich im hohen Alter noch von seiner Frau scheiden lässt, ist sie zur Heirat bereit – hauptsächlich, um auch das mal ausprobiert zu haben.
Um Beziehungen zwischen Männern und Frauen geht es in fast allen der Storys, für deren Inhalt Grace Paley in den Straßen, den kleinen Geschäften und engen Mietshäusern der Bronx, in der sie seit ihrer Kindheit zu Hause war, reichlich Material fand. In immer neuen Variationen gelingt es ihr, auf sympathische, witzige und komplexe Weise davon zu erzählen, wie die Geschlechter aufeinanderprallen und trotz allen Unbehagens nicht ohne einander auskommen können. Die Nachteile des in den Fünfzigerjahren bestehenden sozialen Systems für die Frauen werden stets unterschwellig thematisiert, doch anders als es Paleys feministisches Engagement nahelegen würde, sind ihre Erzählungen nie offen politisch.
Am ehesten wird die Kritik an der Vorherrschaft des männlichen Geschlechts in einer Neigung zur Stereotypisierung sichtbar: Die meisten von Grace Paleys männlichen Figuren sind ruhelos, unzuverlässig und lassen sich ohne großen Ehrgeiz durchs Leben treiben. Im Gegensatz dazu haben die Frauen klare Vorstellungen, was sie wollen – auch und gerade, was ihr Beziehungs- und Sexualleben angeht. Die Unzuverlässigkeit der Männer wird von vornherein einkalkuliert: In der Story „Ein Interesse am Leben“ wird die vierfache Mutter Virginia von einem Tag auf den anderen von ihrem Mann im Stich gelassen, als dieser ausgerechnet kurz vor Weihnachten genug vom Familienleben hat. Ihre Nachbarin umreißt sofort das Prozedere in solchen Fällen: „Sag es gleich bei der Fürsorge. Sag es auch der Polizei, sie bringen gern Spielzeug für die kleinen Kinder. Und vergiss nicht, beim Kaufmann Bescheid zu sagen. Dann ist er nicht so streng beim Bezahlen.“ Symptomatisch für Paleys seelisch gefestigte Frauen ist, dass Virginia trotz aller Not nicht den Lebensmut verliert. Als sich der verantwortungsbewusste Sohn der Nachbarin ihrer annimmt, kehrt sie bereitwillig in das Leben an der Seite eines Mannes zurück.
Es hat bei Grace Paley nichts Resignatives, dass ihre Protagonistinnen nicht dauerhaft aus ihrer tradierten Rolle ausbrechen können. Entscheidend ist, dass sie selbst über ihr Schicksal bestimmen, und wenn sie es wirklich wollten, könnten sie sich auch jenseits von Küche und Kinderzimmer selbst verwirklichen – daran lassen die Storys keinen Zweifel. So bieten Paleys Geschichten einen ungewohnten und vielschichtigen Blick auf die Fünfzigerjahre und auf starke Frauen am Vorabend der Emanzipation.
MARIUS NOBACH
Philip Roth, Joyce Carol Oates
oder auch Christa Wolf gehörten
zu ihren Bewunderern
Starke Frauen am Vorabend
der Emanzipation
1959 veröffentlichte Paley ihren ersten
Erzählband und fand auf Anhieb
großen Beifall.FOTO: GETTY IMAGES
Grace Paley: Die kleinen Widrigkeiten des Lebens. Storys. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2013.
256 Seiten, 19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Paley is as clever a mimic as Philip Roth, as cheerfully zany and aleatory in her vision of New York as Christina Stead, as serendipitous as Donald Bartheleme, but her unladylike gutsiness and friendliness are nonpareil Edmund White Observer