A new history of French social thought that connects postwar sociology to colonialism and empireIn this provocative and original retelling of the history of French social thought, George Steinmetz places the history and development of modern French sociology in the context of the French empire after World War II. Connecting the rise of all the social sciences with efforts by France and other imperial powers to consolidate control over their crisis-ridden colonies, Steinmetz argues that colonial research represented a crucial core of the renascent academic discipline of sociology, especially between the late 1930s and the 1960s. Sociologists, who became favored partners of colonial governments, were asked to apply their expertise to such "social problems" as detribalization, urbanization, poverty, and labor migration. This colonial orientation permeated all the major subfields of sociological research, Steinmetz contends, and is at the center of the work of four influential scholars: Raymond Aron, Jacques Berque, Georges Balandier, and Pierre Bourdieu. In retelling this history, Steinmetz develops and deploys a new methodological approach that combines attention to broadly contextual factors, dynamics within the intellectual development of the social sciences and sociology in particular, and close readings of sociological texts. He moves gradually toward the postwar sociologists of colonialism and their writings, beginning with the most macroscopic contexts, which included the postwar "reoccupation" of the French empire and the turn to developmentalist policies and the resulting demand for new forms of social scientific expertise. After exploring the colonial engagement of researchers in sociology and neighboring fields before and after 1945, he turns to detailed examinations of the work of Aron, who created a sociology of empires; Berque, the leading historical sociologist of North Africa; Balandier, the founder of French Africanist sociology; and Bourdieu, whose renowned theoretical concepts were forged in war-torn, late-colonial Algeria.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.2023Vergessene Anstöße
George Steinmetz über koloniale Soziologie
Frantz Fanons 1961 postum veröffentlichter Klassiker "Die Verdammten dieser Erde" war zugleich fulminante Streitschrift und politische Analyse der kolonialen Situation. Folgt man George Steinmetz, stellte dieses Werk überdies die Kulmination der Nachkriegssoziologie des Kolonialismus dar und wies über diese hinaus, indem es psychische und soziale Prozesse verknüpfte. Die soziologische Dimension in Fanons (Spät-)Werk sei bisher jedoch weitgehend ignoriert worden. In seiner eindrucksvollen, inhaltlich wie methodisch höchst anregenden Studie zeichnet der an der Universität von Michigan lehrende Autor den Aufstieg "kolonialer Soziologie" - einen Begriff, den er umsichtig erläutert - nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Er legt materialreich dar, wie die wachsende Bedeutung kolonialer Entwicklungsprojekte nach 1945 zu einer verstärkten Nachfrage nach sozialwissenschaftlicher Expertise führte. Soziologie wurde für Planer und Verwalter, welche die vor allem in Afrika verbliebenen Kolonien modernisieren wollten, zunehmend attraktiv.
Gefragt waren Soziologen als Spezialisten für "soziale Probleme" wie "Detribalisierung", Urbanisierung, Armut und Arbeitsmigration. Dieser koloniale Kontext bildete bald eine zentrale Komponente einer Disziplin, die in französischen Universitäten und Forschungseinrichtungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren neue Substanz und Konturen gewann. Viele jüngere Wissenschaftler sahen in diesem Fach eine Art Avantgarde, eine Disziplin des Aufbruchs, politisch in Bezug auf den Kolonialismus wenig kompromittiert, während die Ethnologie zu sehr als Büttel des kolonialen Projekts erschien. Zudem forderten Intellektuelle in den nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien, dass ihre Gesellschaften nun auch von Soziologen erforscht werden sollten. Steinmetz verweist darauf, dass "koloniale Soziologie" ein breites politisches Spektrum umfasste, das neben scharfen Kritikern des Kolonialsystems durchaus Apologeten der kolonialen Ordnung einschloss.
Ein gewichtiger Teil von Steinmetz' Buch ist vier Soziologen gewidmet, die auf markante, aber sehr unterschiedliche Weise den "Kolonialismus-Soziologie-Nexus" prägten: Raymond Aron, der eine Soziologie der Imperien entwarf; Jacques Berque, Arabist und der führende historische Soziologe Nordafrikas; Georges Balandier, der die französische Afrika-Soziologie begründete; und schließlich Pierre Bourdieu, der nach seinem Militärdienst in Algerien vor Ort blieb, um auf der Grundlage zum Teil riskanter Feldforschungen unter den Bedingungen des Krieges die Transformationen städtischer und ländlicher Gesellschaften zu untersuchen, wobei er sich vor allem für die Berbergesellschaften interessierte. Bourdieu, für Steinmetz nicht nur ein wichtiger Protagonist seiner Studie, sondern auch methodisch-theoretischer Inspirator, war einer der ersten französischen Wissenschaftler, der ein Buch zusammen mit einem Kollegen, Abdelmalek Sayad, verfasste, der in den Kolonien geboren worden war.
Die "koloniale Soziologie" konnte, wie Steinmetz zeigt, nicht zuletzt dank der spezifischen Rahmenbedingungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg florieren. Dazu zählten ein signifikanter Anstieg von Forschungsressourcen, die wachsende Betonung wissenschaftlicher und intellektueller Freiheit sowie die damit verbundene Möglichkeit, sich gegen mächtige intellektuelle Traditionen zu profilieren. Bourdieu, Balandier und ihre Mitstreiter agierten an der sensiblen Grenze zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten in Zeiten massiven politischen und kulturellen Wandels. Auf diese Weise entstanden intellektuelle Kontaktzonen, die frische Ideen und Paradigmen in sozialwissenschaftliche Debatten einbrachten.
In der kollektiven disziplinären Erinnerung der Soziologie waren diese Prägungen jedoch lange nicht präsent. Diese "Amnesie" hängt, schreibt Steinmetz, mit dem Selbstverständnis einer Disziplin zusammen, für die Selbstreflexivität und Historisierung weitgehend Anathemen seien und die sich als vorwärtsblickend, produktiv und "nützlich" präsentiere. Zudem fokussiere die Soziologie noch immer weitgehend auf den "globalen Norden", während Fachvertreter, die sich mit Afrika oder Asien beschäftigen, entweder gleich als Ethnologen etikettiert oder pauschal der "Entwicklungssoziologie" zugeschlagen würden. Nach seiner profunden Studie wird man die Bedeutung des Kolonialismus für die modernen Sozialwissenschaften jedenfalls nicht mehr ignorieren können. ANDREAS ECKERT
George Steinmetz: "The Colonial Origins of Modern Social Thought".
French Sociology and the Overseas Empire.
Princeton University Press, Princeton 2023. 576 S., Abb., geb., 44,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
George Steinmetz über koloniale Soziologie
Frantz Fanons 1961 postum veröffentlichter Klassiker "Die Verdammten dieser Erde" war zugleich fulminante Streitschrift und politische Analyse der kolonialen Situation. Folgt man George Steinmetz, stellte dieses Werk überdies die Kulmination der Nachkriegssoziologie des Kolonialismus dar und wies über diese hinaus, indem es psychische und soziale Prozesse verknüpfte. Die soziologische Dimension in Fanons (Spät-)Werk sei bisher jedoch weitgehend ignoriert worden. In seiner eindrucksvollen, inhaltlich wie methodisch höchst anregenden Studie zeichnet der an der Universität von Michigan lehrende Autor den Aufstieg "kolonialer Soziologie" - einen Begriff, den er umsichtig erläutert - nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Er legt materialreich dar, wie die wachsende Bedeutung kolonialer Entwicklungsprojekte nach 1945 zu einer verstärkten Nachfrage nach sozialwissenschaftlicher Expertise führte. Soziologie wurde für Planer und Verwalter, welche die vor allem in Afrika verbliebenen Kolonien modernisieren wollten, zunehmend attraktiv.
Gefragt waren Soziologen als Spezialisten für "soziale Probleme" wie "Detribalisierung", Urbanisierung, Armut und Arbeitsmigration. Dieser koloniale Kontext bildete bald eine zentrale Komponente einer Disziplin, die in französischen Universitäten und Forschungseinrichtungen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren neue Substanz und Konturen gewann. Viele jüngere Wissenschaftler sahen in diesem Fach eine Art Avantgarde, eine Disziplin des Aufbruchs, politisch in Bezug auf den Kolonialismus wenig kompromittiert, während die Ethnologie zu sehr als Büttel des kolonialen Projekts erschien. Zudem forderten Intellektuelle in den nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien, dass ihre Gesellschaften nun auch von Soziologen erforscht werden sollten. Steinmetz verweist darauf, dass "koloniale Soziologie" ein breites politisches Spektrum umfasste, das neben scharfen Kritikern des Kolonialsystems durchaus Apologeten der kolonialen Ordnung einschloss.
Ein gewichtiger Teil von Steinmetz' Buch ist vier Soziologen gewidmet, die auf markante, aber sehr unterschiedliche Weise den "Kolonialismus-Soziologie-Nexus" prägten: Raymond Aron, der eine Soziologie der Imperien entwarf; Jacques Berque, Arabist und der führende historische Soziologe Nordafrikas; Georges Balandier, der die französische Afrika-Soziologie begründete; und schließlich Pierre Bourdieu, der nach seinem Militärdienst in Algerien vor Ort blieb, um auf der Grundlage zum Teil riskanter Feldforschungen unter den Bedingungen des Krieges die Transformationen städtischer und ländlicher Gesellschaften zu untersuchen, wobei er sich vor allem für die Berbergesellschaften interessierte. Bourdieu, für Steinmetz nicht nur ein wichtiger Protagonist seiner Studie, sondern auch methodisch-theoretischer Inspirator, war einer der ersten französischen Wissenschaftler, der ein Buch zusammen mit einem Kollegen, Abdelmalek Sayad, verfasste, der in den Kolonien geboren worden war.
Die "koloniale Soziologie" konnte, wie Steinmetz zeigt, nicht zuletzt dank der spezifischen Rahmenbedingungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg florieren. Dazu zählten ein signifikanter Anstieg von Forschungsressourcen, die wachsende Betonung wissenschaftlicher und intellektueller Freiheit sowie die damit verbundene Möglichkeit, sich gegen mächtige intellektuelle Traditionen zu profilieren. Bourdieu, Balandier und ihre Mitstreiter agierten an der sensiblen Grenze zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten in Zeiten massiven politischen und kulturellen Wandels. Auf diese Weise entstanden intellektuelle Kontaktzonen, die frische Ideen und Paradigmen in sozialwissenschaftliche Debatten einbrachten.
In der kollektiven disziplinären Erinnerung der Soziologie waren diese Prägungen jedoch lange nicht präsent. Diese "Amnesie" hängt, schreibt Steinmetz, mit dem Selbstverständnis einer Disziplin zusammen, für die Selbstreflexivität und Historisierung weitgehend Anathemen seien und die sich als vorwärtsblickend, produktiv und "nützlich" präsentiere. Zudem fokussiere die Soziologie noch immer weitgehend auf den "globalen Norden", während Fachvertreter, die sich mit Afrika oder Asien beschäftigen, entweder gleich als Ethnologen etikettiert oder pauschal der "Entwicklungssoziologie" zugeschlagen würden. Nach seiner profunden Studie wird man die Bedeutung des Kolonialismus für die modernen Sozialwissenschaften jedenfalls nicht mehr ignorieren können. ANDREAS ECKERT
George Steinmetz: "The Colonial Origins of Modern Social Thought".
French Sociology and the Overseas Empire.
Princeton University Press, Princeton 2023. 576 S., Abb., geb., 44,- Euro.
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