A gripping mystery and stylistic tour de force that delves into subconcious mind with brilliantly disturbing results.Als Carl einen Überfall auf eine junge Frau verhindern will, wird er selbst von Gangmitgliedern bewusstlos geschlagen. Das Krankenhaus entlässt ihn nach einigen Tagen, doch sein Zeitgefühl ist seltsam verzerrt. Bald wächst in ihm ein furchtbarer Verdacht: Kann es sein, dass er immer noch im Koma liegt...?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.02.2005Zwischenfall in der U-Bahn
Wie tot bin ich: Alex Garlands beunruhigende Novelle
Der Moment, der Leben und Tod scheidet, fasziniert Medizin, Psychologie und Kunst seit je, und die amerikanische Literatur verdankt ihm eine ihrer besten Kurzgeschichten: "Zwischenfall an der Owl-Creek-Brücke" von Ambrose Bierce, der als Offizier am amerikanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, erzählt eine Episode aus dem Hintergrund der Kämpfe - die Exekution eines Farmers im Süden, der einen Sabotageakt begangen haben soll - und zugleich von jenem Sekundenbruchteil, in dem das Leben sich dem Tod ergibt. Formal ist die Erzählung in einem grandiosen Schwung auf ihren letzten Satz hin konstruiert, und wenn man ihn das erste Mal erreicht hat, wirkt seine Lakonie wie ein betäubender Schlag auf den Solarplexus.
Bei Alex Garland, der in seiner Novelle "Koma" den Einfall von Bierce grandios variiert, wird daraus ein Trommelfeuer von Schlägen. Hier ist der Tod selbst der Erzähler - der Leser merkt es nur nicht sofort. Und bis zuletzt merkt es Carl nicht, der junge Mann, in dessen Namen der Tod erzählt. Das ist nur der erste einer ganzen Reihe fulminanter Erzählkniffe, die Garland ausbreitet wie ein Vertreter den Inhalt seines Musterkoffers: Mit Logik, so lautet die Botschaft, ist dem Tod einfach nicht beizukommen.
Die Ausgangssituation ist banal. Carl, von dessen Existenz in der wirklichen Welt man nicht mehr erfährt als den Vornamen, wird nachts in der U-Bahn Opfer eines Überfalls. Er hat einer jungen Frau helfen wollen und ist von vier Angreifern bewußtlos geschlagen worden. Als er im Krankenhaus aufwacht, stellt er fest, daß er sich in seinem eigenen Leben nicht mehr auskennt. Die Erinnerung ist vollständig ausgelöscht. Und jeder Versuch, sich seiner Existenz neu zu versichern, führt in ein Labyrinth aus Sackgassen. Wirklichkeit, Wünsche und Träume vermischen sich ununterscheidbar: Aus diesem Netz gibt es kein Entrinnen. Allenfalls in den Tod.
Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Dramaturgie, die als Höhepunkt geradezu physische Überwältigung anstrebt, nur einen einzigen Moment für ihre Wirkung hat: die Überraschung des letzten Augenblicks. Von ihrem Ende aus betrachtet, entscheidet sich die Bewertung des Gelesenen noch einmal neu - eine solche Erzählung muß also nicht nur über ihren ganzen Verlauf fesseln, sondern auch stark genug sein, die endgültige Pointe zu tragen. Andernfalls würde der Leser den Clou als aufgesetzt empfinden, und der allerletzte Aufschwung würde sich ganz selbstverständlich gegen das vorher Gelesene wenden.
Auch in dieser Hinsicht ist die Erzählung des jungen Autors, der 1996 mit der bitteren Traveller-Abrechnung "Der Strand" debütierte, ein Meisterwerk. Man verrät nicht zuviel mit dem Hinweis, daß das Ende genau zurück zum Anfang führt - auf diese Wendung steuert die Erzählung von der ersten Seite an hin. Und je weiter man in ihre Verästelungen vordringt, desto mehr Indizien wird man entdecken, die den Verdacht schüren, hier neige sich ein Leben schneller seinem Ende zu, als der Mensch, der scheinbar selbst davon erzählt, es wahrhaben kann. Begegnungen mit Freunden, die Spurensuche in einem Schallplattengeschäft, in einer Buchhandlung und im Haus der Eltern führen ganz zwangsläufig zu Schlußfolgerungen, die sich nur Carl selbst nicht auf Anhieb erschließen. Wie könnte das auch sein. Er liegt ja im Koma. Den Leser hingegen führen diese Hinweise den entscheidenden Schritt vor das Bewußtsein Carls. Man liest und fragt sich unwillkürlich, wann der Augenblick kommen wird, da der junge Mann selbst sein Ende erkennt. "Du wachst auf, du stirbst", heißt es lapidar im Epilog. "Wenn du aufwachst, verlierst du eine Geschichte, und du findest sie nie wieder." Wenige Zeilen später ist die Novelle zu Ende.
Daß der Autor Carl als Erzähler ausgibt, ist der einzige seiner Kunstgriffe, der sich entschieden gegen den eigenen Entwurf richten könnte; es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit und damit auch der Glaubwürdigkeit, die hier zusätzlich gedehnt wird durch eine subtile Variation über die Deckungsgleichheit erzählter und erlebter Zeit. Doch solche Überlegungen treten zurück hinter der Wucht der leisen Erzählung. Garlands Sprache ist beiläufig, fast lässig, protokollierend, um Sachlichkeit der Darstellung bemüht, die in irritierendem Gegensatz zum Ungeheuerlichen des Geschilderten steht. Zur Dunkelheit, die sich mit jeder Seite tiefer über die Erzählung legt, passen die scharfkantigen, expressiven Holzschnitte, die Garlands Vater Nicholas, im Hauptberuf politischer Cartoonist, beigetragen hat. Die Bilder weiten die Vorstellungswelt zwischen Leben und Tod ins Konkrete und Sichtbare. Begreiflicher wird sie dadurch nicht.
ANDREAS OBST.
Alex Garland: "Das Koma". Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt. Mit Illustrationen von Nicholas Garland. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2004. 159 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie tot bin ich: Alex Garlands beunruhigende Novelle
Der Moment, der Leben und Tod scheidet, fasziniert Medizin, Psychologie und Kunst seit je, und die amerikanische Literatur verdankt ihm eine ihrer besten Kurzgeschichten: "Zwischenfall an der Owl-Creek-Brücke" von Ambrose Bierce, der als Offizier am amerikanischen Bürgerkrieg teilgenommen hatte, erzählt eine Episode aus dem Hintergrund der Kämpfe - die Exekution eines Farmers im Süden, der einen Sabotageakt begangen haben soll - und zugleich von jenem Sekundenbruchteil, in dem das Leben sich dem Tod ergibt. Formal ist die Erzählung in einem grandiosen Schwung auf ihren letzten Satz hin konstruiert, und wenn man ihn das erste Mal erreicht hat, wirkt seine Lakonie wie ein betäubender Schlag auf den Solarplexus.
Bei Alex Garland, der in seiner Novelle "Koma" den Einfall von Bierce grandios variiert, wird daraus ein Trommelfeuer von Schlägen. Hier ist der Tod selbst der Erzähler - der Leser merkt es nur nicht sofort. Und bis zuletzt merkt es Carl nicht, der junge Mann, in dessen Namen der Tod erzählt. Das ist nur der erste einer ganzen Reihe fulminanter Erzählkniffe, die Garland ausbreitet wie ein Vertreter den Inhalt seines Musterkoffers: Mit Logik, so lautet die Botschaft, ist dem Tod einfach nicht beizukommen.
Die Ausgangssituation ist banal. Carl, von dessen Existenz in der wirklichen Welt man nicht mehr erfährt als den Vornamen, wird nachts in der U-Bahn Opfer eines Überfalls. Er hat einer jungen Frau helfen wollen und ist von vier Angreifern bewußtlos geschlagen worden. Als er im Krankenhaus aufwacht, stellt er fest, daß er sich in seinem eigenen Leben nicht mehr auskennt. Die Erinnerung ist vollständig ausgelöscht. Und jeder Versuch, sich seiner Existenz neu zu versichern, führt in ein Labyrinth aus Sackgassen. Wirklichkeit, Wünsche und Träume vermischen sich ununterscheidbar: Aus diesem Netz gibt es kein Entrinnen. Allenfalls in den Tod.
Es liegt in der Natur der Sache, daß eine Dramaturgie, die als Höhepunkt geradezu physische Überwältigung anstrebt, nur einen einzigen Moment für ihre Wirkung hat: die Überraschung des letzten Augenblicks. Von ihrem Ende aus betrachtet, entscheidet sich die Bewertung des Gelesenen noch einmal neu - eine solche Erzählung muß also nicht nur über ihren ganzen Verlauf fesseln, sondern auch stark genug sein, die endgültige Pointe zu tragen. Andernfalls würde der Leser den Clou als aufgesetzt empfinden, und der allerletzte Aufschwung würde sich ganz selbstverständlich gegen das vorher Gelesene wenden.
Auch in dieser Hinsicht ist die Erzählung des jungen Autors, der 1996 mit der bitteren Traveller-Abrechnung "Der Strand" debütierte, ein Meisterwerk. Man verrät nicht zuviel mit dem Hinweis, daß das Ende genau zurück zum Anfang führt - auf diese Wendung steuert die Erzählung von der ersten Seite an hin. Und je weiter man in ihre Verästelungen vordringt, desto mehr Indizien wird man entdecken, die den Verdacht schüren, hier neige sich ein Leben schneller seinem Ende zu, als der Mensch, der scheinbar selbst davon erzählt, es wahrhaben kann. Begegnungen mit Freunden, die Spurensuche in einem Schallplattengeschäft, in einer Buchhandlung und im Haus der Eltern führen ganz zwangsläufig zu Schlußfolgerungen, die sich nur Carl selbst nicht auf Anhieb erschließen. Wie könnte das auch sein. Er liegt ja im Koma. Den Leser hingegen führen diese Hinweise den entscheidenden Schritt vor das Bewußtsein Carls. Man liest und fragt sich unwillkürlich, wann der Augenblick kommen wird, da der junge Mann selbst sein Ende erkennt. "Du wachst auf, du stirbst", heißt es lapidar im Epilog. "Wenn du aufwachst, verlierst du eine Geschichte, und du findest sie nie wieder." Wenige Zeilen später ist die Novelle zu Ende.
Daß der Autor Carl als Erzähler ausgibt, ist der einzige seiner Kunstgriffe, der sich entschieden gegen den eigenen Entwurf richten könnte; es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit und damit auch der Glaubwürdigkeit, die hier zusätzlich gedehnt wird durch eine subtile Variation über die Deckungsgleichheit erzählter und erlebter Zeit. Doch solche Überlegungen treten zurück hinter der Wucht der leisen Erzählung. Garlands Sprache ist beiläufig, fast lässig, protokollierend, um Sachlichkeit der Darstellung bemüht, die in irritierendem Gegensatz zum Ungeheuerlichen des Geschilderten steht. Zur Dunkelheit, die sich mit jeder Seite tiefer über die Erzählung legt, passen die scharfkantigen, expressiven Holzschnitte, die Garlands Vater Nicholas, im Hauptberuf politischer Cartoonist, beigetragen hat. Die Bilder weiten die Vorstellungswelt zwischen Leben und Tod ins Konkrete und Sichtbare. Begreiflicher wird sie dadurch nicht.
ANDREAS OBST.
Alex Garland: "Das Koma". Aus dem Englischen übersetzt von Rainer Schmidt. Mit Illustrationen von Nicholas Garland. Wilhelm Goldmann Verlag, München 2004. 159 S., geb., 16,- [Euro].
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