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Produktdetails
  • Verlag: GB / TouchStone
  • Seitenzahl: 464
  • Englisch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 566g
  • ISBN-13: 9780684848112
  • Artikelnr.: 55758473
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.1999

"Ich hatte Friedman schlicht verteufelt"
Warum die liberalen Ideen die Vorherrschaft angetreten haben

Daniel Yergin/Joseph Stanislaw: The Commanding Heights. The Battle between Government and the Marketplace that is Remaking the Modern World. Touchstone Simon & Schuster New York 1999, 464 Seiten, 15 Dollar.

Es war im Jahr 1922. Lenin hatte die Neue Ökonomische Politik eingeführt, die ein bißchen Handel und private Landwirtschaft zuließ. Als der große Revolutionär sein Konzept auf dem Vierten Kongreß der Kommunistischen Internationale vorstellte, wähnten die orthodoxen Bolschewiken Verrat am Erbe der Novemberrevolution. Lenin verteidigte sich: Auch wenn die Politik Märkte zulasse, werde doch der Staat weiter die Kommandohügel kontrollieren.

Dieses Stichwort liefert den beiden amerikanischen Autoren Daniel Yergin und Joseph Stanislaw den Titel für ein Buch, das einen Paradigmenwechsel der Wirtschaftspolitik in den vergangenen sechzig Jahren erzählt: vom Staat zum Markt. Nach den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 war es in Amerika und Europa bis weit in die siebziger Jahre hinein Konsens, daß Märkte irren können und unter die Aufsicht des Staates gestellt werden müßten. Marktversagen galt im Vergleich zu Staatsversagen als die größere Gefahr für eine funktionierende Weltwirtschaftsordnung. Der Markt war, verglichen mit dem Staat, weniger modern - und Lenins Theorem regierte anonym die ganze Welt.

Solche Plausibilitäten erscheinen heute merkwürdig fremd. Die gegenteilige Auffassung ist konventionelle Weisheit: Das Mißtrauen in den Staat ist groß. Warum sonst werden die Bahn, die Telekommunikation, die Energie privatisiert, und warum wird sogar die öffentliche Verwaltung unter einen Effizienzdruck gesetzt, als wäre sie privat? Vielen geht das alles noch nicht weit genug: Auch die sozialen Sicherungssysteme könnten den Menschen mehr nutzen, wenn man sie privatisierte.

Yergins und Stanislaws Buch lebt von einer brillanten Simplifikation. Keine ihrer Geschichten wird zum erstenmal erzählt. Aber die Summe der Erzählungen gibt ein unerhörtes Bild; Baustein fügt sich zu Baustein: wie das Amerika des New Deal viele Regulierungsinstitutionen schuf (die National Recovery Administation NRA oder die Securities and Exchange Commission SEC zum Beispiel), die Finanz- und Gütermärkte zu beaufsichtigen hatten. Wie sich William Beveridge und Clement Attlee nach dem Zweiten Weltkrieg anschickten, eine gemischte Ökonomie zum Zwecke eines Wohlfahrtsstaates zu zimmern, in welchem zwanzig Prozent der Erwerbstätigen im öffentlichen Sektor beschäftigt waren. Wie Keynes der Prophet eines Denkens wurde, wonach die wirklich wichtigen Dinge (Beschäftigung, Produktion) von Institutionen der Marktplanung koordiniert werden müssen, um Überproduktion zu vermeiden und Angebot und Nachfrage zueinander zu bringen. Planifikation in Frankreich oder, mit Einschränkungen, die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland kannten vergleichbare Steuerungsideen. Dem entsprechen all jene Entwürfe gelenkter Entwicklungshilfe für die Dritte Welt, wie sie bis in die siebziger Jahre Konjunktur hatten. Dieser Konsens wurde auch von vielen geteilt, die heute glühende Liberale sind: Die Autoren referieren eine Aussage des Ökonomen und stellvertretenden amerikanischen Finanzministers Larry Summers, der freimütig zugibt, er habe in seiner Jugend Milton Friedman schlicht verteufelt.

So uneingeschränkt das Paradigma über Jahrzehnte galt, so versickerte es plötzlich. Entscheidend dafür sind die siebziger Jahre - mit Ölpreis- und Thatcher-Schock. Der Eisernen Lady - und ihrem Berater Keith Joseph, den sie den verrückten Mönch nannten - messen die Autoren größeren Einfluß bei als Ronald Reagans Politik in den achtziger Jahren. Privatisierung, Deregulierung und Wettbewerb lauten nun die zentralen Begriffe, die - zumindest in Asien - auch zum Dogma der neuen Entwicklungsökonomie werden. Yergins und Stanislaws Buch zählt zur Kategorie der Aha-Literatur. Was man immer schon gewußt hat, gerinnt durch glückliche Erzählkonstellation plötzlich freudig zu einem Erkenntnisgewinn. Der historische Übergang von der Vorherrschaft des Staates zur Vorherrschaft des Marktes liegt quer zur herkömmlichen Unterscheidung zwischen einem angelsächsischen Markt- und einem europäischen Staatsmodell. Auch die Vereinigten Staaten haben in den Zeiten des New Deal nicht den angelsächsischen Pfad geteilt, könnte man sagen. Die herausragende Schwäche des Buches liegt zweifellos darin, daß es keine wirklich überzeugenden Gründe für den Wandel beizubringen vermag. Statt dessen werden Tautologien angeboten: Es habe sich die Einsicht durchgesetzt, daß das Marktwissen dem Regierungswissen vorzuziehen sei. Aber warum? Womöglich gibt es auf die Frage nach den Gründen solch universaler Paradigmenwechsel auch keine Antwort. Aber das wäre dann ziemlich unbefriedigend. Mit diesem Ungenügen hängt auch die Unsicherheit der Autoren zusammen, ob das Markt-Paradigma im Zeitalter der Neuen Ökonomie für immer halten wird oder ob sich - nach den Krisen der Finanzmärkte - einem theoretischen Konjunkturzyklus gleich wieder die Regulierungslehren der Depressionsökonomie durchsetzen könnten.

RAINER HANK

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