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This book addresses the long term of German history, tracing ideas and politics across what have commonly been viewed as sharp chronological breaks. Against conventional wisdom, Smith argues for reexamining German continuities - nation and nationalism, religion and religious exclusion, racism and violence.

Produktbeschreibung
This book addresses the long term of German history, tracing ideas and politics across what have commonly been viewed as sharp chronological breaks. Against conventional wisdom, Smith argues for reexamining German continuities - nation and nationalism, religion and religious exclusion, racism and violence.
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Autorenporträt
Helmut Walser Smith earned his PhD at Yale. He has held the position of Martha Rivers Ingram Professor of History at Vanderbilt University since 1992. He is the author of German Nationalism and Religious Conflict (1995) and The Butcher's Tale: Murder and Anti-Semitism in a German Town (2002), which won him the Fraenkel Prize for the best work in contemporary history and was named an LA Times Non-Fiction Book of the Year.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2008

Verengter Blick zurück ins Kaiserreich
Führte der Wille, Juden aus der deutschen Gesellschaft auszugrenzen und auszustoßen, direkt zum Holocaust?

Wer nach Kontinuitäten in der deutschen Geschichte fragt, blickt auf den Nationalsozialismus und den Holocaust. Komplexe Antworten sind der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, provozierende finden leichter Gehör. Spektakulär war in Deutschland die Resonanz, als Daniel Goldhagen 1996 in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust" den nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus mit tiefen Wurzeln in der deutschen Geschichte verankerte. Davon grenzt sich Helmut Walser Smith ab. Doch auch ihm geht es darum, nach den historischen Voraussetzungen zu fragen, die den staatlich organisierten Massenmord an den europäischen Juden möglich werden ließ.

Worin kann Kontinuität liegen, wenn die 1941 einsetzende systematische Ermordung der Juden keinen historischen Vorläufer hat? Die Antwort von Walser Smith: Nicht in der Bereitschaft zum Genozid, sondern in dem Willen von Deutschen, Juden aus der Gesellschaft auszugrenzen und auszustoßen. Seit dem Mittelalter äußerte sich dieser Wille immer wieder; zunächst im lokalen Umfeld, später auf der Ebene von Nation und Nationalstaat, radikalisiert in den Forderungen und Gewalttaten des Rassenantisemitismus des späten 19. Jahrhunderts, und schließlich der organisierte Massenmord im nationalsozialistischen Rassenstaat. Das 19. Jahrhundert erhält in diesem Geschichtsbild eine Schlüsselstellung, doch die Kontinuitätslinien zieht der Autor zurück bis ins Mittelalter - eine lange Geschichte fortschreitender Inhumanität. Die Haltung der deutschen Gesellschaft zu den Juden dient dem Autor als Lackmustest für den Verlauf dieser Verlustgeschichte und ihre Radikalisierung. Für einen solchen Blick in die Geschichte ist Helmut Walser Smith - er lehrt an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee - als angesehener Experte für die deutsche Religionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert bestens vorbereitet. Sein Ergebnis befriedigt jedoch nicht.

Zunächst zum Aufbau des Buches: Die fünf Kapitel legen unterschiedliche Längsschnitte durch die deutsche und auch die europäische Geschichte. Im ersten fragt der Autor nach "dem Fluchtpunkt der deutschen Geschichte" - für ihn ist es der Holocaust; im zweiten erinnert er an die Vorstellungen von Nation vor der Ära des Nationalismus, um dann im dritten Kapitel die Erinnerungen an den Dreißigjährigen Krieg mit einer Form von Nationsbildung zu verbinden, die auf der Erfahrung von religiöser Gewalt beruhe, jüdische Leiderfahrung jedoch strikt ausblende und damit Juden bereits aus der vormodernen Erfahrungsgemeinschaft deutsche Nation ausgrenze. Während bis dahin die europäische Geschichte vornehmlich als Kontrastfolie aufscheint, wird im vierten Kapitel die gesellschaftliche Gewalt gegen Juden im langen 19. Jahrhundert europäisch betrachtet. Die Europäisierung des Blicks auf die Geschichte dient hier einer Dramatisierung, die Walser Smith für die Ausrichtung langfristiger Geschichtslinien auf den Holocaust benötigt, allein aus der deutschen Geschichte jedoch nicht zu gewinnen vermag.

Angesichts der Geschichte der antijüdischen Gewalt und ihrer Zuspitzung um 1900 sei die Kluft, die sie von der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik trennt, "schmaler, als wir oft vermuten", meint der Autor. Von den 31 antijüdischen Gewalttaten, die er zwischen 1881 und 1903 auflistet, entfallen allerdings nur vier auf Deutschland. Deshalb wechselt er nun die Betrachtungsebene: nicht der einzelne Staat, sondern Europa. So kann er die Wirkungen der antijüdischen Gewalt, die überwiegend außerhalb Deutschlands verübt wurde, der deutschen Geschichte zuweisen. Nur deshalb wird es möglich, hier eine langfristige Gewaltlinie zu konstruieren, die in das Bedingungsgeflecht für den Holocaust führt. Zu diesem Geflecht gehört der Vernichtungsrassismus, der im fünften Kapitel untersucht wird. Nun wieder auf Deutschland beschränkt, allerdings vor einem europäischen Horizont, der aber nur pauschal angesprochen wird.

Die Kontinuitäten deutscher Geschichte werden also nicht vergleichend ermittelt. Wo Walser Smith seine Betrachtung gehaltvoll europäisiert, führt sie von Deutschland weg. Überall sonst erscheint Europa als eine Art moralischer Kontrast zu Deutschland - empirisch nicht gefüllt und deshalb analytisch unergiebig. Wer geschichtliche Entwicklungen über viele Jahrhunderte hinweg auf ein singuläres Ereignis ausrichten will, muss der Geschichte klare Konturen geben. Das ist notwendig. Aber man sollte als Autor vor sich und den Lesern Rechenschaft ablegen, was dabei ausgeblendet, vielleicht auch verzerrt wird. Das ist hier gravierend.

Walser Smith entwirft eine lange Geschichtslinie, die durch einen fortschreitenden "Verlust der Menschlichkeit" bestimmt wird. Seine europäischen Zeitgenossen hatten das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Fortschritts wahrgenommen. Nun wird es ins Zentrum einer Verlustgeschichte gerückt. Demokraten, Liberale, Sozialisten, vor allem aber die deutschen Juden sahen sich auf der Seite des Fortschritts. Deren Zeitdiagnosen berücksichtigt der Autor nicht, obwohl er zu Recht das Verhalten der Deutschen gegenüber den Juden als Maßstab nimmt, um die Fähigkeit der deutschen Gesellschaft zu messen, mit Menschen zusammenzuleben, die als religiös und kulturell fremd empfunden wurden. War die Hoffnung deutscher Juden auf eine deutsch-jüdische Symbiose von Beginn an ein "Schrei ins Leere", der vergebliche Versuch der Juden zu einem Dialog, den die nichtjüdische Mehrheit verweigert hat? So hat es Gershom Scholem gesehen. Die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts haben es in ihrer großen Mehrheit anders empfunden. Dieser Gegensatz, der auch die Forschung prägt, taucht bei Walser Smith nicht auf. Er setzt sein Geschichtsbild keinerlei Zweifel aus. In ihm werden die Juden zu einem bloßen Objekt der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft.

Beiseitegedrängt werden auch die intensiven innerjüdischen Debatten des 19. Jahrhunderts über den künftigen Ort der Juden. Es reicht aber nicht, jene Deutsche christlichen Glaubens zu zitieren, die in ihren Vorstellungen von deutscher Nation Juden ausschlossen. Man muss auch die innerjüdischen Debatten betrachten, in denen mit Blick in Vergangenheit und Zukunft ernst darum gerungen wurde: Sind deutsche Juden Glieder einer eigenen Nation oder ein "Stamm" in der deutschen Nation oder eine Religion beziehungsweise Konfession in den deutschen Staaten beziehungsweise seit 1871 im deutschen Nationalstaat? Man muss, um die innerdeutsche Diskussion unter Juden und Nichtjuden einschätzen zu können, die Kontroversen unter den Juden Europas betrachten, welche Position sie in einem Zeitalter anstreben sollten, in dem sich das Prinzip eine Nation - ein Staat unaufhaltsam durchzusetzen schien. Man muss die unterschiedlichen Antworten kennen, die Juden im nationalstaatlichen Westeuropa und in den vielnationalen Großreichen Europas auf diese neue Herausforderung fanden. Deutschland hatte lange an beiden Räumen Europas Anteil. All dies taucht in den Kontinuitätskonstruktionen von Walser Smith nicht auf, obwohl diese europäische Dimension in den deutschen Debatten präsent war und sie auf Seiten derer, welche die Juden aus der deutschen Nation ausschließen wollten, zunehmend vergiftet hat.

Die Geschichtsschreibung hat diese Probleme kontrovers diskutiert, und sie macht es auch weiterhin. Im Geschichtsbild, das Walser Smith entwirft, hinterlassen diese Debatten keine Spuren. Sie hätten ihn veranlassen können, seine Spurensuche offener zu gestalten und sie mit den Kontinuitätslinien zu konfrontieren, die Yosef Hayim Yerushalmi, einer der Großen unter den Historikern des Judentums, durch die jüdische Geschichte seit ihren Anfängen bis zum Holocaust zieht: Seit den Zeiten des Exils, seit mehr als zwei Jahrtausenden also, hatten die Juden aus der Geschichte "die Lehre gezogen, dass letzten Endes der Staat sie schützte und dass man selbst mit einer feindseligen Regierung verhandeln und an ihr Eigeninteresse appellieren konnte". Dass ein Staat die Juden ausrotten will, gehörte nicht zur jüdischen Geschichtserfahrung, weil es das nie gegeben hatte. Dieses "beispiellose Phänomen eines Staates, der die gezielte Vernichtung der Juden betrieb", so fügt Yerushalmi hinzu, kam "umso unerwarteter ..., als es sich bei diesem Staat um Deutschland handelte". In dem vom Walser Smith gebotenen Weg durch die deutsche Geschichte - und gelegentlich auch durch die europäische - gibt es dieses historisch Unerwartete nicht.

DIETER LANGEWIESCHE

Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race Across the Long Nineteenth Century. Cambridge University Press, Cambridge 2008. 254 S., 20,99 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2010

Ein Bruch der Geschichte
„Fluchtpunkt 1941“ – wie es zum Holocaust kam
Am Fluchtpunkt treffen die Linien eines perspektivischen Bildes zusammen; entlang dieser Linien ordnen sich die gezeigten Gegenstände je nach ihrer Nähe oder Ferne. Mit dem Standpunkt des realen oder imaginären Betrachters wechseln sowohl der Fluchtpunkt wie die auf ihn hingeordneten Bildgegenstände: Wer seinen Standort wechselt, sieht auch eine andere Welt. Der amerikanische Historiker Helmut Walser Smith verwendet das optische Gleichnis des Fluchtpunkts für Epochendaten der Geschichte. Je nach dem grundstürzenden Ereignis, das man erklären will, erhält man andere Vorgeschichten und Kontinuitäten, die zu ihm hingeführt haben können.
Das Buch von Walser Smith heißt „Fluchtpunkt 1941“ und trägt den Untertitel „Kontinuitäten der deutschen Geschichte“. 1941 fiel der endgültige Entschluss zum Massenmord an den europäischen Juden. Eine Untersuchung, die diesen Fluchtpunkt wählt, das ist die methodische Voraussetzung von Smith’ komplexer Argumentation, wird eine andere Vorgeschichte ans Tageslicht fördern als eine Geschichte des Dritten Reiches, für die das Jahr 1933 den Fluchtpunkt, also den epochalen Bruch bedeutet.
Man könnte das vielleicht auch etwas einfacher formulieren: Wer andere Fragen stellt, erhält andere Antworten. Die Frage, die das Jahr 1933 der historischen Erkenntnis stellt, ist die nach den Ursachen für den Zusammenbruch eines rechtsstaatlichen Staatswesens. Die unmittelbaren Umstände – der verlorene Weltkrieg, eine Wirtschaftskrise, ein blockiertes Parteiensystem, Revolutionsängste beim Bürgertum, selbst eine problematische Verfassung – sind dabei weniger interessant als die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass innerhalb von wenigen Monaten in einem zivilisierten Staat generationenlang eingeübte Rechtsprinzipien aufgegeben werden konnten.
Wer so fragt – immer noch mit Blick auf den Fluchtpunkt 1933 –, wird sich mit der Schwäche der liberalen Überzeugungen in der deutschen Gesellschaft, mit der besonderen Gestalt der Nationalstaatsbildung, mangelnder Zivilicourage, lange eingeübter Staatshörigkeit, Militarismus, kurzum mit dem Syndrom befassen, das lange Zeit als politisch-kultureller „Sonderweg“ der deutschen Geschichte begriffen wurde. Der Befund, dass 1933 eine elementare Immunisierung gegen die Bedrohung bürgerlicher Freiheiten in allen Teilen des deutschen Staats- und Beamtenapparats fehlte, steht, wie immer man über Vorgeschichten urteilt, auf solidem Fundament.
Es ist diese politische Vorgeschichte, die über eine Generation die Erforschung des Dritten Reiches als eines diktatorischen Systems beherrschte. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten wird nach den Tätern des Massenmords und nach ihrem gesellschaftlichen Milieu gefragt, am plakativsten in Daniel Goldhagens Buch über „Hitlers willige Vollstrecker“, wissenschaftlich am folgenreichsten in Christopher Brownings Untersuchung der „ganz normalen Männer“ eines Polizeibataillons, die schrittweise zu Massenmördern wurden. Für Goldhagen agierten die Täter in dem nährenden Umfeld eines generationenlangen, spezifisch deutschen Judenhasses, während Browning kühler die zeitlosen Mechanismen moralischer Enthemmung herausarbeitet, also auch ein anthropologisches Potential freilegt.
Walser Smith spitzt diese Fragen zu. 1941 bedeutet für ihn den „Zusammenbruch der Mitmenschlichkeit“, zumal, wie er betont, die Mehrzahl der jüdischen Opfer eben nicht „großtechnologisch“, sondern in durchaus archaischen Tötungsarten unter Beteiligung von Tausenden umgebracht wurde. Der Untertitel von den Kontinuitäten der deutschen Geschichte lässt eine Fortsetzung der Goldhagen-These erwarten. Am Ende aber kommt doch etwas anderes heraus.
Der amerikanische Historiker fragt nach der langen Geschichte religiöser Gewalt in Deutschland und Europa; und er untersucht den Übergang von der religiösen Ausgrenzung in rassischen Antisemitismus, danach dessen Verbindung mit Vertreibungsideen und Vernichtungsplänen. Es geht also um die tiefgestaffelten Voraussetzungen jenes menschlichen Zusammenbruchs von 1941, den wir plakativ „Holocaust“ nennen.
Dabei kann nicht alles Einzelne neu sein, wohl aber die Anordnung der Sachverhalte, getreu der Metapher vom Fluchtpunkt. Walser Smith blickt zurück auf eine verheerende religiöse Gewalt unter den christlichen Konfessionen, vor allem im Dreißigjährigen Krieg (in Frankreich fanden vergleichbare Massaker eine Generation früher statt). Diese Gewalt wurde – im Westfälischen Frieden sogar ausdrücklich – dem Vergessen überantwortet, um den Hass zu begraben. Nicht so die Gewalt gegen Juden, die bis ins Mittelalter zurückreicht: An sie wurde in zahllosen christlichen Gedenkorten und Wallfahrten, vor allem im katholischen Raum erinnert. Diese Gewalt hatte nicht nur eine religiöse, sondern auch eine kommunale, gemeinschaftsbildende Funktion: In ihr zeigte sich auch das Recht von Städten und Gemeinden selbst zu bestimmen, wer zu ihnen gehören sollte und wer nicht.
Die Geschichte judenfeindlicher Einstellungen und antijüdischer Gewalt in der Moderne hat mit der Aufhebung solcher lokaler Gemeinschaftsbildung im Zuge der modernen Staatsbildung, in Deutschland vor allem seit der napoleonischen Zeit, zu tun. Hamburger Bürger sahen sich auf einmal mit jüdischen Mitmenschen in ihren exklusiven Cafés konfrontiert, und preußische Junker erlebten jüdische Nachbarn, die nicht nur adelige Landgüter, sondern sogar die dazu gehörigen Kirchenpatronate erwarben. Dass die Emanzipation der Juden Folge einer Niederlage gegen einen äußeren Feind war, erschwerte die Situation. Parallel zu dieser Staatsbildung verwandelte sich der vormoderne, auf Koexistenz verschiedener Völker geeichte Begriff der Nation in einen integralen Nationalismus, der auch innerliche, auf Sprache gegründete Gleichheit und Homogenität erwartete.
Doch waren dergleichen Tendenzen keine deutsche Besonderheit. Je länger Smith’ Buch fortschreitet, umso breiter, gesamteuropäischer wird das Bild. Judenfeindliche Volkskrawalle gab es im 19. Jahrhundert von Frankreich bis Russland, der Schwerpunkt lag vor allem seit 1880 in Osteuropa, wo Tausende, vom staatlichen Gewaltmonopol nicht geschützt, in mehreren Pogromwellen dem Mob erlagen. Smith achtet auch bei dieser gräßlichen Materie sorgfältig auf die Unterschiede: Der Volkskrawall ist etwas anderes als staatliche Zwangsmaßnahmen, ja der Staat der bürgerlichen Epoche erwies sich meist doch als Beschützer der jüdischen Bürger, in Russland weniger als in Österreich-Ungarn, am ehesten aber in Deutschland und Frankreich.
Der nächste Schritt kommt mit dem Aufstieg des modernen Rassedenkens und der letzten Phase des europäischen Kolonialismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Hier werden Vertreibungsphantasien und ethnische Reinheitskonzepte entwickelt, deren stufenweise Radikalisierung Smith am Beispiel von Heinrich von Treitschke, Friedrich Ratzel, Paul Rohrbach und Heinrich Class nun ganz auf Deutschland konzentriert nachzeichnet. Über die „longue durée“ eines volkstümlichen Gemeindeantisemitismus legte sich bis zum Ersten Weltkrieg der Intellektuellenglaube an die kulturelle Hierarchie von Nationen und die Ungleichwertigkeit der Menschenrassen. Vor 1914 kam dazu in Deutsch- Südwestafrika zum ersten Mal auch eine eliminatorische Praxis.
Trotzdem hütet sich Smith peinlich vor Rückdatierungen des Holocaust. So geläufig in ganz Europa – man denke an den Lausanner Vertrag zwischen Griechenland und der Türkei von 1923 – Konzepte ethnischer Homogenität mit entsprechenden Bevölkerungstransfers inzwischen waren, der Schritt zur endgültigen Vernichtung wurde erst am Ende getan, so Walser Smith’ These. Diese Entscheidung bezeichnet der Autor auf der vorletzten Seite seines Buches sogar als „einen Bruch in der deutschen Geschichte“. Der Weg, die Fluchtlinie, von gemeindlicher Ausgrenzung mit ritueller Gewalt in Alteuropa, religiöser Gewalterinnerung über kulturell-nationale Homogenitätsideale zu rassistischen und eliminatorischen Konzepten, ist lang und windungsreich. Der „Zusammenbruch der Mitmenschlichkeit fand 1941 nicht ohne vielfache Voraussetzungen statt; doch war er Zugleich das Produkt konkreter Entscheidungen in besonderen Umständen. Das aber relativiert Kontinuitätsthesen und Fluchtpunktmetaphorik. Walser Smith zeigt keine Notwendigkeiten, wohl aber ein Schreckenspotential, an dessen Aufhäufung die Jahrhunderte gearbeitet haben. GUSTAV SEIBT
HELMUT WALSER SMITH: Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte. Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart 2010. 326 Seiten, 24,95 Euro.
Die Mehrzahl wurde durchaus
archaisch erschlagen
Der entscheidende Schritt wurde
erst am Ende getan
Durch eine Polizeiverordnung, die am 19.09.1941 in Kraft trat, wurde das Tragen des Sterns für alle Juden über sechs Jahren verpflichtend. Foto: Scherl
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"Taking 1941 as the decisive culmination point in modern German history, this book offers a truly masterful analysis of the links between nationalism, racism and anti-Semitism. I know of no other study that examines in a more circumspect way and within a broad comparative framework the complex and controversial subject of how earlier discourses about the exclusion of Jews are ultimately related to their mass murder. A major scholarly achievement and challenge to both pre- and post-Goldhagen historiography." -V.R. Berghahn, Columbia University