Nach fast fünfzig Jahren als Ehefrau und Mutter ist Enid Lambert entschlossen, ihr Leben ein wenig zu genießen. Alles könnte so angenehm sein, gemütlich, harmonisch - einfach schön. Doch die Parkinsonsche Krankheit hat ihren Mann Alfred immer fester im Griff, und die drei Kinder haben das traute Familienheim längst verlassen - um ihre eigenen tragikomischen Malaisen zu durchleben. Der älteste, Gary, stellvertretender Direktor einer Bank und Familienvater, steckt in einer Ehekrise und versucht mit aller Macht, seine Depressionen kleinzureden. Der mittlere, Chip, steht am Anfang einer vielversprechenden Karriere als Literaturprofessor, aber Liebestollheit wirft ihn aus der Bahn, und er findet sich in Litauen wieder als verlängerter Arm eines Internet-Betrügers.Und das jüngste der Lambert-Kinder, die erfolgreiche Meisterköchin Denise, sinkt ins Bett eines verheirateten Mannes und setzt so, in den Augen der Mutter zumindest, Jugend und Zukunft aufs Spiel. In dem Wunsch, es sich endlich einmal so richtig gutgehen zu lassen - und Alfred aus seinem blauen Sessel zu locken, in dem er immer schläft -, verfolgt Enid nun ein hochgestecktes Ziel: Bald nach der Luxus-Kreuzfahrt, zu der sie voller Vorfreude mit Alfred aufbricht, möchtesie die ganze Familie zu einem letzten Weihnachtsfest zu Hause um sich scharen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.08.2002Das Correx-Phänomen
Aus einer Familie? Der gewaltige Erfolg von Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" erinnert an die "Buddenbrooks"
Das neue Jahrhundert ist noch keine zwei Jahre alt, da erscheint ein Roman, der seinen Autor fast über Nacht berühmt macht. Die Zeiten sind unsicher, in der Wirtschaft geht die Furcht vor einer Rezession um, die Menschen schwanken zwischen Fin-de-siècle-Nervosität und Hoffnung für das neue Jahrhundert. Der Glaube an die bannende Macht von Sprache und Dichtung scheint gebrochen. Im Oktober 1901 erschien mit Thomas Manns "Buddenbrooks" ein Wunder der deutschen Literatur. Hundert Jahre später, im September 2001 erschien in den Vereinigten Staaten mit Jonathan Franzens Roman "The Corrections" ein Werk, das mit dem Label "der neue amerikanische Roman" nur unzureichend benannt ist.
Manns und Franzens Gesellschaftsromane ähneln sich nicht nur, was ihre Erscheinungsumstände betrifft. Beide Bücher sind umfangreich, beide schildern den tragikomischen Verfall einer Familie, aus beiden sprechen tiefer Ernst und eine ungewöhnliche Reife. Dabei verstehen es beide zuvor fast unbekannte Schriftsteller, dem Scheitern ihrer Protagonisten auch witzige Seiten abzugewinnen. Beide Autoren sind sich der außerordentlichen Qualität ihres Werks durchaus bewußt, hatte doch jeder von ihnen zuvor erklärt, ein Meisterwerk verfassen zu wollen, einen Roman, der mit zeitgenössischen Mitteln die großen Themen - Liebe, Krankheit, Tod und finanzieller Ruin - behandeln würde, der seine Leser unterhalten, aber auch fordern sollte. Beiden gelang die Darstellung ihrer Charaktere so gut, daß rasch die Frage nach den realen Vorbildern für ihre Figuren aufkam. In beiden Fällen wandte man ein, der Roman sei zu lang; beide Autoren weigerten sich zu kürzen. Man fürchtete, ihre gewichtigen Anliegen würden die Leserschaft einschüchtern; beide Romane verkaufen sich blendend. Man nannte ihre Autoren vermessen; die Menschen hörten weg und lasen weiter. Inzwischen sind die "Buddenbrooks" in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben auf der ganzen Welt Millionen Leser gefunden, und die "Korrekturen" sind auf dem besten Weg, es ihnen auch in dieser Hinsicht nachzutun.
Franzens Roman, dessen Bedeutung für die amerikanische Literatur in den Vereinigten Staaten immer wieder mit jener der "Buddenbrooks" für die deutsche verglichen wurde, erlebt seit seinem Erscheinen vor zehn Monaten eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. In einer Zeit, in der sich die Buchmoden überstürzen und es Verleger, Händler und Leser kaum noch schaffen, die Fülle der Neuerscheinungen zu bewältigen, scheinen es Romane, die keine Zauberlehrlinge vorzuweisen haben und ausschließlich die erwachsene Leserschaft ansprechen, schwerer zu haben denn je, einen Platz im kollektiven Lesegedächtnis zu erringen - es sei denn, sie behandeln ein so geschichtlich bedeutsames Thema wie Günter Grass in seiner Novelle "Im Krebsgang".
Als "Die Korrekturen" Ende Juni in deutscher Übersetzung erschienen, landeten sie prompt unter den ersten zehn der Bestsellerliste. Jetzt steht der Roman in der vierten Woche auf Platz zwei, einstweilen noch von der Spitze verdrängt durch Walsers "Tod eines Kritikers". Die Startauflage betrug 50 000 Exemplare, inzwischen druckt der Rowohlt Verlag die sechste Auflage. In Österreich führt Franzen die Bestseller an. Als das Buch im Herbst in Großbritannien erschien, war es ebenso ein instant No. 1 Bestseller wie in den Vereinigten Staaten, Kanada oder Irland. Er sei zwar sicherlich nicht die beste Person, um Auskunft über das "Correx-Phänomen" zu geben, sagt Jonathan Franzen, listet aber auf Nachfrage bescheiden 27 Länder auf, in denen "The Corrections" entweder bereits erschienen sind oder wo die Übersetzung gerade vorbereitet wird. Die geographische Ausdehnung des Romans ist schier atemberaubend: Die Australier sind von dem Buch ebenso begeistert wie die Norweger oder die Holländer, in Italien führte es die Bestsellerliste für fremdsprachige Literatur an. Ob Frankreich, Griechenland, Türkei, Dänemark, Israel, Polen, China oder Japan - Franzens Buch geht um die Welt. Soeben hat ein thailändischer Verlag sein Interesse bekundet.
Leben, Lieben und Sterben der amerikanischen Familie Lambert sind universell verständlich: Auch darin erweisen sich die Eltern Enid und Lambert und ihre Kinder Gary, Chip und Denise als würdige Nachfolger der Buddenbrooks. Dennoch ist es nicht leicht, eindeutige Gründe für den ungeheuren Erfolg der "Korrekturen" zu benennen - ihre literarische Qualität allein kann es nicht sein, schließlich gibt es viele außerordentliche Bücher, denen kein solcher globaler Kultstatus beschieden ist, auch wenn sie ihn verdienen. Eher fallen Aspekte ins Auge, die gegen einen internationalen Triumphzug sprechen. So ist es nicht in jedem Fall selbstverständlich, daß ein Buch, das in der Vereinigten Staaten für Aufsehen sorgt, auch diesseits des Atlantiks zum Bestseller wird - Jeffrey Lents "In the Fall" etwa war bei uns nicht eben ein Verkaufsschlager. Auch eine Auszeichnung wie der National Book Award, der Franzen verliehen wurde, zieht bei uns keine Massen in die Buchhandlung. Außerdem ist der Roman mit 780 Seiten in der deutschen Übersetzung alles andere als rasch zu lesen. Und schließlich macht Franzen es dem Leser keineswegs leicht, die Lamberts zu lieben: Diese Familie ist weder besonders reich noch besonders arm, ihre Mitglieder sind nicht klüger, schöner oder erfolgreicher als andere Menschen, im Gegenteil. Die Lamberts sind eine amerikanische Durchschnittsfamilie aus dem Mittleren Westen - und sind es doch nicht. Darin liegt der Schlüssel zum Geheimnis ihres Erfolgs.
Denn Jonathan Franzen hat mit seiner Familiengeschichte die Frage beantwortet, warum man heute noch Romane schreiben muß: Weil nur diese literarische Form die großen sozialen Erschütterungen im Zusammenspiel von Individuum und dem großen Ganzen auf tiefgründige Weise entwickeln kann. Und ganz nebenbei beantwortet er damit die Frage, warum man heute noch Romane lesen muß. Denn wer sich auf die Lamberts einläßt, der wird reich beschenkt; er ist froh, dieses Buch gelesen zu haben.
Die These, daß nur die Hälfte der Menschen, die "Die Korrekturen" kaufen, das Buch auch liest, bestätigt eine andere These: daß viele den Roman nicht zuletzt deswegen kaufen, um ihren guten Lesegeschmack zu beweisen. Ein Buch, das von der Kritik fast einhellig als große Literatur gefeiert wird und das es dem Leser zugleich nicht allzu einfach macht, gehört ins Regal jedes intellektuell Interessierten. Mancher will mit dem Kauf wohl nicht zuletzt auch seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe demonstrieren.
Franzen selbst ist noch immer verblüfft über die Begeisterung, mit der sein Buch aufgenommen wird. Und er ist ein bißchen müde von den vielen Werbetourneen. Außerdem möchte er sich endlich in seiner Wohnung in Manhattan einigeln, um an seinem neuen Buch zu arbeiten. Aber das, was ihn erreicht, sind durchweg gute Neuigkeiten. Der Erfolg des Buchs in Deutschland bedeute ihm besonders viel, sagt Franzen, der als Student ein Jahr in Berlin und in München lebte. "Es ist, als ob ich zwanzig Jahre darauf gewartet habe, und jetzt, unglaublicherweise, passiert es endlich." In diesen Tagen feiert er seinen dreiundvierzigsten Geburtstag.
Der Erfolg eines Romans mag nicht planbar sein, dennoch ist der Siegeszug der "Korrekturen" in Deutschland weniger überraschend, als es das Gegenteil gewesen wäre. Vielen literarisch Interessierten war der Name Jonathan Franzen bereits geläufig, bevor dieser Roman, der übrigens sein dritter ist, als erster auf deutsch erschien. Über den Erfolg von "The Corrections" wurde auch in Deutschland extensiv berichtet, nachdem Franzen sich Oprah Winfreys Bookclub verweigert hatte. Als Franzen dann im Januar zehn Tage als Gast der American Academy in Berlin zubrachte, nahm dies fast jede Zeitung zum Anlaß, über den amerikanischen shooting star zu berichten (F.A.Z. vom 26. Januar). Das Interesse war so groß, daß der Verleger Alexander Fest schon befürchtete, später würde sich niemand mehr für die Übersetzung interessieren: Der Roman wurde vorgezogen, erschien nicht, wie geplant, mit anderen wichtigen Neuerscheinungen zur Buchmesse, sondern im Hochsommer. Wichtig war vor allem die Übersetzung des Titels. Die Entscheidung, den Roman als "Die Korrekturen" ins Rennen zu schicken, obwohl der Begriff "Corrections" im englischen Original soviel mehr bedeutet, als es die deutsche Übersetzung auszudrücken vermag, war richtig, weil sie Wiedererkennbarkeit garantiert: Der Titel ist längst zum Markenzeichen des Romans geworden.
Ein Grund für den enormen Erfolg mag auch darin liegen, daß sich Familiengeschichten immer noch besonderer Beliebtheit beim Publikum erfreuen, ganz gleich, aus welchem Kulturkreis sie kommen. Familien, reich an Persönlichkeiten, bieten einen unerschöpflichen literarischen Kosmos - und sind in unserer Welt, in der Beziehungen selten von Dauer sind, die zwischenmenschliche Zone, der keiner entrinnen kann.
Viele Leser mißtrauen der Schnellkanonisierung eines erfolgreichen Buchs zum Klassiker. Die Lamberts, diese grandios desolate, eigenwillige und doch angepaßte Familie um den Patriarchen Alfred, erweisen sich als so zeitgenössisch, daß sie einstweilen keinen Staub ansetzen werden. Daß Franzens Roman schon jetzt seinen festen Platz unter den Klassikern der amerikanischen Literatur hat, muß also niemanden schrecken.
FELICITAS VON LOVENBERG
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Aus einer Familie? Der gewaltige Erfolg von Jonathan Franzens Roman "Die Korrekturen" erinnert an die "Buddenbrooks"
Das neue Jahrhundert ist noch keine zwei Jahre alt, da erscheint ein Roman, der seinen Autor fast über Nacht berühmt macht. Die Zeiten sind unsicher, in der Wirtschaft geht die Furcht vor einer Rezession um, die Menschen schwanken zwischen Fin-de-siècle-Nervosität und Hoffnung für das neue Jahrhundert. Der Glaube an die bannende Macht von Sprache und Dichtung scheint gebrochen. Im Oktober 1901 erschien mit Thomas Manns "Buddenbrooks" ein Wunder der deutschen Literatur. Hundert Jahre später, im September 2001 erschien in den Vereinigten Staaten mit Jonathan Franzens Roman "The Corrections" ein Werk, das mit dem Label "der neue amerikanische Roman" nur unzureichend benannt ist.
Manns und Franzens Gesellschaftsromane ähneln sich nicht nur, was ihre Erscheinungsumstände betrifft. Beide Bücher sind umfangreich, beide schildern den tragikomischen Verfall einer Familie, aus beiden sprechen tiefer Ernst und eine ungewöhnliche Reife. Dabei verstehen es beide zuvor fast unbekannte Schriftsteller, dem Scheitern ihrer Protagonisten auch witzige Seiten abzugewinnen. Beide Autoren sind sich der außerordentlichen Qualität ihres Werks durchaus bewußt, hatte doch jeder von ihnen zuvor erklärt, ein Meisterwerk verfassen zu wollen, einen Roman, der mit zeitgenössischen Mitteln die großen Themen - Liebe, Krankheit, Tod und finanzieller Ruin - behandeln würde, der seine Leser unterhalten, aber auch fordern sollte. Beiden gelang die Darstellung ihrer Charaktere so gut, daß rasch die Frage nach den realen Vorbildern für ihre Figuren aufkam. In beiden Fällen wandte man ein, der Roman sei zu lang; beide Autoren weigerten sich zu kürzen. Man fürchtete, ihre gewichtigen Anliegen würden die Leserschaft einschüchtern; beide Romane verkaufen sich blendend. Man nannte ihre Autoren vermessen; die Menschen hörten weg und lasen weiter. Inzwischen sind die "Buddenbrooks" in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben auf der ganzen Welt Millionen Leser gefunden, und die "Korrekturen" sind auf dem besten Weg, es ihnen auch in dieser Hinsicht nachzutun.
Franzens Roman, dessen Bedeutung für die amerikanische Literatur in den Vereinigten Staaten immer wieder mit jener der "Buddenbrooks" für die deutsche verglichen wurde, erlebt seit seinem Erscheinen vor zehn Monaten eine Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht. In einer Zeit, in der sich die Buchmoden überstürzen und es Verleger, Händler und Leser kaum noch schaffen, die Fülle der Neuerscheinungen zu bewältigen, scheinen es Romane, die keine Zauberlehrlinge vorzuweisen haben und ausschließlich die erwachsene Leserschaft ansprechen, schwerer zu haben denn je, einen Platz im kollektiven Lesegedächtnis zu erringen - es sei denn, sie behandeln ein so geschichtlich bedeutsames Thema wie Günter Grass in seiner Novelle "Im Krebsgang".
Als "Die Korrekturen" Ende Juni in deutscher Übersetzung erschienen, landeten sie prompt unter den ersten zehn der Bestsellerliste. Jetzt steht der Roman in der vierten Woche auf Platz zwei, einstweilen noch von der Spitze verdrängt durch Walsers "Tod eines Kritikers". Die Startauflage betrug 50 000 Exemplare, inzwischen druckt der Rowohlt Verlag die sechste Auflage. In Österreich führt Franzen die Bestseller an. Als das Buch im Herbst in Großbritannien erschien, war es ebenso ein instant No. 1 Bestseller wie in den Vereinigten Staaten, Kanada oder Irland. Er sei zwar sicherlich nicht die beste Person, um Auskunft über das "Correx-Phänomen" zu geben, sagt Jonathan Franzen, listet aber auf Nachfrage bescheiden 27 Länder auf, in denen "The Corrections" entweder bereits erschienen sind oder wo die Übersetzung gerade vorbereitet wird. Die geographische Ausdehnung des Romans ist schier atemberaubend: Die Australier sind von dem Buch ebenso begeistert wie die Norweger oder die Holländer, in Italien führte es die Bestsellerliste für fremdsprachige Literatur an. Ob Frankreich, Griechenland, Türkei, Dänemark, Israel, Polen, China oder Japan - Franzens Buch geht um die Welt. Soeben hat ein thailändischer Verlag sein Interesse bekundet.
Leben, Lieben und Sterben der amerikanischen Familie Lambert sind universell verständlich: Auch darin erweisen sich die Eltern Enid und Lambert und ihre Kinder Gary, Chip und Denise als würdige Nachfolger der Buddenbrooks. Dennoch ist es nicht leicht, eindeutige Gründe für den ungeheuren Erfolg der "Korrekturen" zu benennen - ihre literarische Qualität allein kann es nicht sein, schließlich gibt es viele außerordentliche Bücher, denen kein solcher globaler Kultstatus beschieden ist, auch wenn sie ihn verdienen. Eher fallen Aspekte ins Auge, die gegen einen internationalen Triumphzug sprechen. So ist es nicht in jedem Fall selbstverständlich, daß ein Buch, das in der Vereinigten Staaten für Aufsehen sorgt, auch diesseits des Atlantiks zum Bestseller wird - Jeffrey Lents "In the Fall" etwa war bei uns nicht eben ein Verkaufsschlager. Auch eine Auszeichnung wie der National Book Award, der Franzen verliehen wurde, zieht bei uns keine Massen in die Buchhandlung. Außerdem ist der Roman mit 780 Seiten in der deutschen Übersetzung alles andere als rasch zu lesen. Und schließlich macht Franzen es dem Leser keineswegs leicht, die Lamberts zu lieben: Diese Familie ist weder besonders reich noch besonders arm, ihre Mitglieder sind nicht klüger, schöner oder erfolgreicher als andere Menschen, im Gegenteil. Die Lamberts sind eine amerikanische Durchschnittsfamilie aus dem Mittleren Westen - und sind es doch nicht. Darin liegt der Schlüssel zum Geheimnis ihres Erfolgs.
Denn Jonathan Franzen hat mit seiner Familiengeschichte die Frage beantwortet, warum man heute noch Romane schreiben muß: Weil nur diese literarische Form die großen sozialen Erschütterungen im Zusammenspiel von Individuum und dem großen Ganzen auf tiefgründige Weise entwickeln kann. Und ganz nebenbei beantwortet er damit die Frage, warum man heute noch Romane lesen muß. Denn wer sich auf die Lamberts einläßt, der wird reich beschenkt; er ist froh, dieses Buch gelesen zu haben.
Die These, daß nur die Hälfte der Menschen, die "Die Korrekturen" kaufen, das Buch auch liest, bestätigt eine andere These: daß viele den Roman nicht zuletzt deswegen kaufen, um ihren guten Lesegeschmack zu beweisen. Ein Buch, das von der Kritik fast einhellig als große Literatur gefeiert wird und das es dem Leser zugleich nicht allzu einfach macht, gehört ins Regal jedes intellektuell Interessierten. Mancher will mit dem Kauf wohl nicht zuletzt auch seine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe demonstrieren.
Franzen selbst ist noch immer verblüfft über die Begeisterung, mit der sein Buch aufgenommen wird. Und er ist ein bißchen müde von den vielen Werbetourneen. Außerdem möchte er sich endlich in seiner Wohnung in Manhattan einigeln, um an seinem neuen Buch zu arbeiten. Aber das, was ihn erreicht, sind durchweg gute Neuigkeiten. Der Erfolg des Buchs in Deutschland bedeute ihm besonders viel, sagt Franzen, der als Student ein Jahr in Berlin und in München lebte. "Es ist, als ob ich zwanzig Jahre darauf gewartet habe, und jetzt, unglaublicherweise, passiert es endlich." In diesen Tagen feiert er seinen dreiundvierzigsten Geburtstag.
Der Erfolg eines Romans mag nicht planbar sein, dennoch ist der Siegeszug der "Korrekturen" in Deutschland weniger überraschend, als es das Gegenteil gewesen wäre. Vielen literarisch Interessierten war der Name Jonathan Franzen bereits geläufig, bevor dieser Roman, der übrigens sein dritter ist, als erster auf deutsch erschien. Über den Erfolg von "The Corrections" wurde auch in Deutschland extensiv berichtet, nachdem Franzen sich Oprah Winfreys Bookclub verweigert hatte. Als Franzen dann im Januar zehn Tage als Gast der American Academy in Berlin zubrachte, nahm dies fast jede Zeitung zum Anlaß, über den amerikanischen shooting star zu berichten (F.A.Z. vom 26. Januar). Das Interesse war so groß, daß der Verleger Alexander Fest schon befürchtete, später würde sich niemand mehr für die Übersetzung interessieren: Der Roman wurde vorgezogen, erschien nicht, wie geplant, mit anderen wichtigen Neuerscheinungen zur Buchmesse, sondern im Hochsommer. Wichtig war vor allem die Übersetzung des Titels. Die Entscheidung, den Roman als "Die Korrekturen" ins Rennen zu schicken, obwohl der Begriff "Corrections" im englischen Original soviel mehr bedeutet, als es die deutsche Übersetzung auszudrücken vermag, war richtig, weil sie Wiedererkennbarkeit garantiert: Der Titel ist längst zum Markenzeichen des Romans geworden.
Ein Grund für den enormen Erfolg mag auch darin liegen, daß sich Familiengeschichten immer noch besonderer Beliebtheit beim Publikum erfreuen, ganz gleich, aus welchem Kulturkreis sie kommen. Familien, reich an Persönlichkeiten, bieten einen unerschöpflichen literarischen Kosmos - und sind in unserer Welt, in der Beziehungen selten von Dauer sind, die zwischenmenschliche Zone, der keiner entrinnen kann.
Viele Leser mißtrauen der Schnellkanonisierung eines erfolgreichen Buchs zum Klassiker. Die Lamberts, diese grandios desolate, eigenwillige und doch angepaßte Familie um den Patriarchen Alfred, erweisen sich als so zeitgenössisch, daß sie einstweilen keinen Staub ansetzen werden. Daß Franzens Roman schon jetzt seinen festen Platz unter den Klassikern der amerikanischen Literatur hat, muß also niemanden schrecken.
FELICITAS VON LOVENBERG
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