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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2005

Vor den Stapeln in den Supermärkten der Daten
Thales trifft Katrina: Das Rohstoffjahrbuch 2005 eignet sich als Lektüre für Philosophen

Katastrophen und Wettleidenschaft unterhalten in unserer Kultur eine intime Beziehung. Der Wirbelsturm "Katrina" zerstörte die Hütten der Armen und die Spielcasinos der Reichen. "Die Croupiers haben sich rechtzeitig davongemacht, das zumeist schwarze Hilfspersonal nicht", so ein deutscher Reporter. Obszöner als die weißen Croupiers sind wohl nur die Spekulanten, die sich mit "Katrina" und "Rita" ins Lotterbett legen, indem sie sich mit Aktien von Baumärkten bereichern oder auf weiter steigende Ölpreise wetten.

Mit einer Spekulation auf Öl beginnt die Geschichte der westlichen Philosophie. Um zu beweisen, daß ein weltfremder Philosoph leicht reich werden kann, mietete Thales einst zu Tiefstpreisen alle Olivenölpressen in Milet und Chios. Als die Erntezeit kam und die Nachfrage stieg, so erzählt Aristoteles, verpachtete Thales seine Pressen so teuer, wie er wollte. Thales wurde reich wie Krösus, zu dessen Zeit er lebte. Thales war es auch, der das Ansehen der Götter zersetzte, indem er sie inflationierte: Alles sei voll von ihnen. Er wettete lieber auf die Macht natürlicher Ursachen: Erdbeben oder Stürme erklärte er mit der stürmischen Natur des Wassers, auf dem alle Dinge schwankten wie ein Schiff.

Der Thales unserer Tage hätte nicht mehr die Vernunft gegen den Aberglauben zu verteidigen, sondern die Wissenschaft vor der Illusion der Planbarkeit. Alles ist voll von Wissenschaftlern. Sie wissen heute mehr über die Ursachen von Erdbeben oder Wirbelstürmen als Thales, und deutsche Umweltminister wissen es sogar noch besser. Aber um die Folgen der unausweichlichen, manchmal katastrophalen Schwankungen des Schicksals zu beherrschen, verlassen wir uns so wenig auf die Wissenschaft (oder gar die Politik), wie Thales sich auf die Götter verlassen wollte.

Wir suchen unser Heil in der Wettleidenschaft der Spekulation. Die Versicherungen und Pensionsfonds, die bedeutende Teile unserer Altersrücklagen verwalten, sichern ihre Portfolios mit Futures und Optionen. Bauern und Lebensmittelfabriken verkaufen und kaufen an Terminmärkten Monate im voraus Weizen, Kartoffeln, Orangensaftkonzentrat oder Mastvieh. Die einen stellen sicher, daß sie für die Ernte genug erlösen, um die Bankkredite für das Saatgut bezahlen zu können, die anderen schützen sich gegen unverhofft erhöhte Rohstoffpreise, die den kalkulierten Gewinn auffressen würden. Banken verleihen unsere Einlagen an Spekulanten, die damit auf die steigenden oder fallenden Preise dieses oder jenes Rohstoffs, Wertpapierindizes, Devise oder Anleihe wetten. Immer wenn einzelne das besonders erfolgreich tun - etwa wenn George Soros die Bank von England knackt oder die Kurse von Internet- oder Solaraktien sich innerhalb kurzer Zeit vervielfachen -, dann erscheinen Börsen und Terminmärkte als Spielcasinos, an denen wir dann auch gern unser Glück versuchen.

Für den Philosophen ist es ein Anlaß nicht enden wollenden Staunens, wie sich der Pöbel in Milet immer erst während der Erntezeit von scheinbar unaufhörlich steigenden Preisen zur Spekulation in Olivenölpressen verlocken läßt. Die Öffentlichkeit ist das schwarze Hilfspersonal der Spekulation, das vom Wirbel fallender Preise nach der Ernte überrascht wird, nachdem sich die Croupiers bereits ihre Jetons in Bargeld getauscht haben. Zur Zeit ist dieses Verhalten an den Märkten für Rohstoffe zu beobachten. Keine Anlegerzeitschrift, die ihren Lesern nicht Zucker-, Öl- oder Goldzertifikate empfiehlt. Die von den Medien wiederholten Argumente der Rohstoff-"Bullen" - die steigende Nachfrage in China, die vernachlässigte Infrastruktur im Ölsektor, die Stärke der amerikanischen Wirtschaft - findet der Thales unserer Tage zusammengefaßt im "CRB Commodity Yearbook 2005" des Commodity Research Bureau in Chikago.

Das Rohstoff-Jahrbuch gibt es seit 1939, die der aktuellen Ausgabe beigelegte CD-ROM archiviert die Beschreibung der weltweiten Situation von Angebot und Nachfrage von zur Zeit 104 Rohstoffen und Indizes zurück bis 1965. Aluminium und Arsen, Devisen und Diamanten, Heizöl und Honig, Kupfer und Kaffee, Zinssätze und Zwiebeln stapeln sich in den Tabellen dieses Supermarkts der Daten - als Angaben über weltweite Produktion, Vorräte und Verbrauch, Import und Export, Preise und Umsätze an mehr als sechzig Terminbörsen und unzähligen Spotmärkten.

Der ganze Weltkreis eröffnet sich hier dem Philosophen als Schauplatz der Spekulation, wo Planungsbedürfnis und Risikobereitschaft in einem fort ihre Prämien untereinander austauschen. Die Schwankungen der Preise, so lernt der moderne Thales aus den Tabellen, Charts und Berichten, folgen saisonalen Mustern, langfristigen Investitionszyklen oder katastrophalen Ereignissen. Im Jahr 2003 standen einem Angebot von 2,92 Millionen Tonnen Olivenöl ein Verbrauch von 2,88 Millionen Tonnen gegenüber. Thales würde heute nicht auf steigende Preise setzen. Anders dagegen vor vierzig Jahren, als Regen in Italien, die Fruchtfliege in Griechenland und Stürme in Portugal die Ernten von 1963/64 dezimiert hatten (ein Hurrikan in der Karibik und in Louisiana verknappte zur selben Zeit das Angebot an Zucker). Knappheit hingegen zieht herauf beim Rohstoff schlechthin, für Thales der Ursprung des Lebens und der Katastrophen: Vielleicht finden wir das Wasser als 105. Element schon in der nächsten Auflage dieses Periodensystems des Weltmarkts.

CHRISTOPH ALBRECHT

Commodity Research Bureau Inc. (Ed.): "The CRB Commodity Yearbook 2005". John Wiley & Sons, Hoboken, New Jersey 2005. 322 S., geb., mit CD-ROM, 125,- $.

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