The Decadent Republic of Letters revises the longstanding view of decadence as a movement defined by escapism and sociopolitical withdrawal. The book argues that decadent writers and artists from Charles Baudelaire to Aubrey Beardsley addressed a cosmopolitan audience united by taste rather than language, geography, or national identity.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2015Wie rebellisch war die Geschmacksaristokratie?
Sind so viele Leerstellen in der Republik der Poeten: Matthew Potolsky übersieht bei seiner Analyse der literarischen Dekadenz zahlreiche wichtige Akteure
Als der Publizist Fritz von Ostini 1898 die "allgemeine Müdigkeitsbruderschaft der Dekadenten" kritisierte, steckte dahinter keine literatursoziologische Analyse, sondern ein Schlachtruf: "Anti-Fin de siècle". Dass der böse Begriff der "Müdigkeitsbruderschaft" eine tragfähige, soziale Struktur beschreiben könnte, hat die Literaturgeschichte lange übersehen. Stattdessen hat sie die dekadente Selbststilisierung wörtlich genommen. Sie hat die Verfeinerung des Kunstsinns, die elitäre Absonderung, den Luxus und die Einsamkeit der Dichter beschrieben oder beklagt, ohne Verdacht zu schöpfen. Maurice Blanchot stellte in seinem berühmten Aufsatz über das Scheitern Baudelaires einen Dichter in den Mittelpunkt, der "nur für sich selbst groß sein wollte".
Nur für sich selbst? Die These von der Sozialmüdigkeit gehört der Vergangenheit an, das Studium der dekadenten "Bruderschaft" hat begonnen. Das jedenfalls signalisieren die aktuellen Ausgaben des "Modern Language Review", der "French Studies" und des "H-France Review". Sie machen in diesem Jahr auf die neue Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Matthew Potolsky aufmerksam, die nichts weniger als eine Revision der Erzählung von der einsamen Dekadenz anstrebt. Der Titel "The Decadent Republic of Letters" zitiert die klassische, wenngleich umstrittene Arbeit von Pascale Casanova, deren englische Übersetzung 2004 erschien: "The World Republic of Letters".
Casanova argumentiert aus der Tradition der französischen Aufklärung, wenn sie Weltliteratur als Welt der Literaten begreift, die, natürlich vorzugsweise auf Französisch, grenzüberschreitend kommunizieren. Potolsky erprobt den Begriff der "République des lettres" für die Phase zwischen Baudelaire und Mallarmé, Walter Pater und Oscar Wilde. Haben die Dandys des späten neunzehnten Jahrhunderts möglicherweise mehr gemeinsam als Raffinesse und Erschlaffung? Verfügen sie über einen Begriff von ästhetischer Gemeinschaft, von Gabentausch und Memorialkultur, von Kanon und Erziehung?
Baudelaires Verständnis von der "République des lettres" weist Potolsky überzeugend in dem Plan für die Zeitschrift "Le Hibou philosophe" nach. Er geht von Baudelaires Verhältnis zu Poe aus, analysiert den Umgang mit Buchobjekten bei Huysmans, die pädagogischen Szenen bei Pater und zuletzt Mallarmés "Tombeau de Charles Baudelaire". Die Dekadenten hassen die bürgerliche Mittelmäßigkeit, die nationalistische Rhetorik, das öffentliche Schulsystem. Sie geben sich kosmopolitisch, experimentell, elitär. Die Begriffe von "Publics and Counterpublics", geprägt von Michael Warner, helfen Potolsky beim Aufbau seines gewagten Arguments: Die dekadenten Autoren ziehen sich nicht in ästhetische Nischen zurück, sondern arbeiten in ihren eigenen, internationalen Netzwerken, die durch die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Texten definiert sind. Walter Pater und Stéphane Mallarmé als Wegbereiter der virtuellen Communities des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Die These ist reizvoll. Aber ist sie auch zutreffend?
Warum kommen die Übersetzer, Verleger und Journalisten in der Literaturrepublik nicht vor, fragen die "French Studies" (2014) zu Recht? Weil sie nicht in das aristokratische Konzept passen? Auch die Begriffe von Gesellschaft und Gemeinschaft, politischem und sozialem Körper bleiben im nächtlichen Nebel von Baudelaires Paris und Oscar Wildes London unterbelichtet. Potolskys Literaturrepublik ist, gegen die kosmopolitische Programmatik ihrer Helden, in den britisch-französischen Grenzen befangen. Findet die Wagner-Rezeption Eingang in die Untersuchung, so sucht man Hugo von Hofmannsthal oder Stefan George vergeblich. Dabei ließe sich am Kreis der "Blätter für die Kunst" kritisch prüfen, wie es um die von Potolsky verwendeten Begriffe von "Gemeinschaft" und "Jüngerschaft" bestellt ist.
Dass Potolsky sich auf ein Kernkorpus konzentriert, könnte ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn nicht auch auf der Forschungsseite der Blick national verengt wäre. Neuere Studien wie die von Caroline Pross ("Dekadenz", Göttingen 2013) und Li Shuangzhi ("Die Narziss-Jugend", Heidelberg 2013) konnte Potolsky nicht mehr einbeziehen. Potolskys Bibliographie freilich, die auf deutscher Seite nicht über Benjamin, Adorno und Bloch hinausgeht, sich allenfalls an zwei Punkten zu Habermas und Iser vorwagt, zeigt anschaulich die Falle des amerikanischen Kanons. Aktuelle Dekadenz-Studien aus Frankreich bleiben bei Potolsky ebenfalls unberücksichtigt, wie die Romanistin Jennifer Forrest ("H-France Review", 2014) bemerkt.
Potolskys Buch, von der University of Pennsylvania Press mit diskreter Eleganz ausgestattet, bereichert gleichwohl die Debatte um die Literatur des späten neunzehnten Jahrhunderts um ein bemerkenswertes Argument. Es verbindet Gelehrsamkeit mit klugen Detailbeobachtungen. Den Autoren der britischen und französischen Dekadenz verhilft es zur Aktualität, indem es nicht deren allgemeinen Überdruss, sonderen deren konkrete Praktiken bewertet. Richard Hibbitt stellt im "Modern Language Review" (2014) fest, dass sich Potolsky mit dem Buch "erfolgreich selbst in die dekadente Gemeinschaft hineingeschrieben habe". Ob den Autor das nur freuen darf?
Maurice Blanchot sprach 1949 in dem von Potolsky unbeachteten Baudelaire-Aufsatz vom "Konformismus in der Revolte", von der "Untreue" und dem "Verrat" der Dichtung. Blanchot wusste nur zu gut, wovon er sprach. Bezieht sich Potolsky auf Jacques Rancières Begriff der "Literaturpolitik", dann schöpft er dessen politische, sprachliche und ästhetische Ambivalenz nicht aus. Könnte es nicht sein, dass die dekadenten Texte weniger republikanisch geraten sind als ihre Autoren? Wie rebellisch ist die Geschmacksaristokratie wirklich? Potolsky unterschätzt am Ende den Vitriolgehalt der Dekadenz. Er unterschätzt auch das reaktionäre Moment. Die Poetenrepublik bleibt eine Metapher. Mit der "Verbrüderung in der Verachtung" ist keine Politik zu machen.
MARCEL LEPPER
Matthew Potolsky: "The Decadent Republic of Letters". Taste, Politics, and Cosmopolitan Community from Baudelaire to Beardsley. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2014. 240 S., geb., 45,- [Euro].
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Sind so viele Leerstellen in der Republik der Poeten: Matthew Potolsky übersieht bei seiner Analyse der literarischen Dekadenz zahlreiche wichtige Akteure
Als der Publizist Fritz von Ostini 1898 die "allgemeine Müdigkeitsbruderschaft der Dekadenten" kritisierte, steckte dahinter keine literatursoziologische Analyse, sondern ein Schlachtruf: "Anti-Fin de siècle". Dass der böse Begriff der "Müdigkeitsbruderschaft" eine tragfähige, soziale Struktur beschreiben könnte, hat die Literaturgeschichte lange übersehen. Stattdessen hat sie die dekadente Selbststilisierung wörtlich genommen. Sie hat die Verfeinerung des Kunstsinns, die elitäre Absonderung, den Luxus und die Einsamkeit der Dichter beschrieben oder beklagt, ohne Verdacht zu schöpfen. Maurice Blanchot stellte in seinem berühmten Aufsatz über das Scheitern Baudelaires einen Dichter in den Mittelpunkt, der "nur für sich selbst groß sein wollte".
Nur für sich selbst? Die These von der Sozialmüdigkeit gehört der Vergangenheit an, das Studium der dekadenten "Bruderschaft" hat begonnen. Das jedenfalls signalisieren die aktuellen Ausgaben des "Modern Language Review", der "French Studies" und des "H-France Review". Sie machen in diesem Jahr auf die neue Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Matthew Potolsky aufmerksam, die nichts weniger als eine Revision der Erzählung von der einsamen Dekadenz anstrebt. Der Titel "The Decadent Republic of Letters" zitiert die klassische, wenngleich umstrittene Arbeit von Pascale Casanova, deren englische Übersetzung 2004 erschien: "The World Republic of Letters".
Casanova argumentiert aus der Tradition der französischen Aufklärung, wenn sie Weltliteratur als Welt der Literaten begreift, die, natürlich vorzugsweise auf Französisch, grenzüberschreitend kommunizieren. Potolsky erprobt den Begriff der "République des lettres" für die Phase zwischen Baudelaire und Mallarmé, Walter Pater und Oscar Wilde. Haben die Dandys des späten neunzehnten Jahrhunderts möglicherweise mehr gemeinsam als Raffinesse und Erschlaffung? Verfügen sie über einen Begriff von ästhetischer Gemeinschaft, von Gabentausch und Memorialkultur, von Kanon und Erziehung?
Baudelaires Verständnis von der "République des lettres" weist Potolsky überzeugend in dem Plan für die Zeitschrift "Le Hibou philosophe" nach. Er geht von Baudelaires Verhältnis zu Poe aus, analysiert den Umgang mit Buchobjekten bei Huysmans, die pädagogischen Szenen bei Pater und zuletzt Mallarmés "Tombeau de Charles Baudelaire". Die Dekadenten hassen die bürgerliche Mittelmäßigkeit, die nationalistische Rhetorik, das öffentliche Schulsystem. Sie geben sich kosmopolitisch, experimentell, elitär. Die Begriffe von "Publics and Counterpublics", geprägt von Michael Warner, helfen Potolsky beim Aufbau seines gewagten Arguments: Die dekadenten Autoren ziehen sich nicht in ästhetische Nischen zurück, sondern arbeiten in ihren eigenen, internationalen Netzwerken, die durch die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Texten definiert sind. Walter Pater und Stéphane Mallarmé als Wegbereiter der virtuellen Communities des einundzwanzigsten Jahrhunderts? Die These ist reizvoll. Aber ist sie auch zutreffend?
Warum kommen die Übersetzer, Verleger und Journalisten in der Literaturrepublik nicht vor, fragen die "French Studies" (2014) zu Recht? Weil sie nicht in das aristokratische Konzept passen? Auch die Begriffe von Gesellschaft und Gemeinschaft, politischem und sozialem Körper bleiben im nächtlichen Nebel von Baudelaires Paris und Oscar Wildes London unterbelichtet. Potolskys Literaturrepublik ist, gegen die kosmopolitische Programmatik ihrer Helden, in den britisch-französischen Grenzen befangen. Findet die Wagner-Rezeption Eingang in die Untersuchung, so sucht man Hugo von Hofmannsthal oder Stefan George vergeblich. Dabei ließe sich am Kreis der "Blätter für die Kunst" kritisch prüfen, wie es um die von Potolsky verwendeten Begriffe von "Gemeinschaft" und "Jüngerschaft" bestellt ist.
Dass Potolsky sich auf ein Kernkorpus konzentriert, könnte ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn nicht auch auf der Forschungsseite der Blick national verengt wäre. Neuere Studien wie die von Caroline Pross ("Dekadenz", Göttingen 2013) und Li Shuangzhi ("Die Narziss-Jugend", Heidelberg 2013) konnte Potolsky nicht mehr einbeziehen. Potolskys Bibliographie freilich, die auf deutscher Seite nicht über Benjamin, Adorno und Bloch hinausgeht, sich allenfalls an zwei Punkten zu Habermas und Iser vorwagt, zeigt anschaulich die Falle des amerikanischen Kanons. Aktuelle Dekadenz-Studien aus Frankreich bleiben bei Potolsky ebenfalls unberücksichtigt, wie die Romanistin Jennifer Forrest ("H-France Review", 2014) bemerkt.
Potolskys Buch, von der University of Pennsylvania Press mit diskreter Eleganz ausgestattet, bereichert gleichwohl die Debatte um die Literatur des späten neunzehnten Jahrhunderts um ein bemerkenswertes Argument. Es verbindet Gelehrsamkeit mit klugen Detailbeobachtungen. Den Autoren der britischen und französischen Dekadenz verhilft es zur Aktualität, indem es nicht deren allgemeinen Überdruss, sonderen deren konkrete Praktiken bewertet. Richard Hibbitt stellt im "Modern Language Review" (2014) fest, dass sich Potolsky mit dem Buch "erfolgreich selbst in die dekadente Gemeinschaft hineingeschrieben habe". Ob den Autor das nur freuen darf?
Maurice Blanchot sprach 1949 in dem von Potolsky unbeachteten Baudelaire-Aufsatz vom "Konformismus in der Revolte", von der "Untreue" und dem "Verrat" der Dichtung. Blanchot wusste nur zu gut, wovon er sprach. Bezieht sich Potolsky auf Jacques Rancières Begriff der "Literaturpolitik", dann schöpft er dessen politische, sprachliche und ästhetische Ambivalenz nicht aus. Könnte es nicht sein, dass die dekadenten Texte weniger republikanisch geraten sind als ihre Autoren? Wie rebellisch ist die Geschmacksaristokratie wirklich? Potolsky unterschätzt am Ende den Vitriolgehalt der Dekadenz. Er unterschätzt auch das reaktionäre Moment. Die Poetenrepublik bleibt eine Metapher. Mit der "Verbrüderung in der Verachtung" ist keine Politik zu machen.
MARCEL LEPPER
Matthew Potolsky: "The Decadent Republic of Letters". Taste, Politics, and Cosmopolitan Community from Baudelaire to Beardsley. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2014. 240 S., geb., 45,- [Euro].
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