Das geordnete Leben von David Kepesh, dem 60-jährigen, gestandenen Kulturkritiker und Lehrer, gerät aus den Fugen, als er Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines reichen Exil-Kubaners begegnet. Immer hatte er sich schützen können, doch nun im Alter verfällt er einer stark von Eifersucht geprägten sexuellen Besessenheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.2002Kratzspuren einer Löwenpranke
Philip Roth nimmt Rache am Tod / Von Louis Begley
In den letzten acht Jahren hat Philip Roth mit seinen Romanen "Operation Shylock", "Sabbaths Theater", "Amerikanisches Idyll" und zuletzt "Der menschliche Makel" den Nachweis geführt, daß er schlicht und einfach der größte Romancier ist, der heute in englischer Sprache schreibt. Jedes seiner Werke verdient unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Dies gilt natürlich auch für "The Dying Animal", den Kurzroman, welcher die eigenartige Kepesh-Serie fortsetzt.
Roths Leser werden sich erinnern, daß David Kepesh zuerst in einem anderen kurzen Roman in Erscheinung trat: in "Die Brust" (1972), einer brillant komischen und eleganten Geschichte, in welcher die überschwengliche Phantasie des Autors Kafkas "Verwandlung", Gogols "Nase" und Swifts "Gullivers Reisen" quasi paraphrasiert oder ironisch fortsetzt. Vielleicht sogar insgeheim auch Swifts "Märchen von einer Tonne", geschrieben, als Swift alle Bücher gelesen hatte und sich an alle erinnerte. Mit achtunddreißig Jahren verwandelt sich der Erzähler - ein Literaturprofessor, der seit drei Jahren eine eher beiläufige Affäre mit einer Lehrerin namens Claire hat (sie wohnen nicht zusammen, und in den letzten beiden Jahren ihrer Beziehung haben sie nicht öfter als zwei-, dreimal im Monat miteinander geschlafen) - in eine Brust. Eine orgiastische, fünfundsiebzig Kilo schwere Brust, die mindestens fünfzehn Monate lang im Lennox Hill-Krankenhaus liegt und deren sexuelle Energie sich in einer Brustwarze konzentriert, die Kepesh als seinen neuen Phallus in jegliche verfügbare menschliche Körperöffnung schieben möchte.
Erstaunlicherweise kehrte Kepesh fünf Jahre später in "Professor der Begierde" (1977) zurück, einem Text, dessen Handlung vor den Ereignissen spielt, die in "Die Brust" erzählt wurden. Hier ist er renormalisiert zu einer Figur, in der sich Alex Portnoy wiedererkennen könnte (nur, daß Kepesh in den Catskills aufgewachsen ist, wo seine Eltern ein Hotel mit osteuropäischer Küche betrieben haben). Mit ihm kamen auch die Krankenhausbesucher der Kepesh-Brust wieder, Kepeshs Vater und, allen voran, Claire, das üppige WASP-Girl mit den Brüsten, die "groß und weich und verletzlich waren, jede so schwer wie ein Euter auf meinem Gesicht, so warm und schwer in meiner Hand wie ein dickes kleines Tier in festem Schlaf".
Hat sich Kepesh schließlich als "Professor der Begierde" qualifiziert - er bereitet ein Seminar in Vergleichender Literaturwissenschaft vor, das sich mit "beunruhigenden zeitgenössischen Romanen über laszive und unangemessene Sexualität" befaßt -, sind Philip Roths sexuelle Obsessionen allesamt wie Zirkustiere vorgeführt worden: die Unterwerfung der Frau durch gewisse sexuelle Praktiken, andere voyeuristische Praktiken mit einem gewissen sadistischen Zug (Heranziehen einer zweiten Frau, die sich am Geschlechtsakt beteiligt; Tagträume, in denen man sich als Zuhälter der Frau sieht, mit der man zusammenlebt), und Impotenz als Strafe für erotische Übergriffe.
Doch wenn dieser souverän konstruierte Bildungsroman, der auch eine Meditation über Kafka und Tschechow darstellt, sich seinem Ende nähert, finden sich Augenblicke nostalgischer, im Rothschen Kontext wahrhaft bemerkenswerter Zartheit. Kepesh sehnt sich nach jenem Sex, der nicht nach "Mehr" schreien würde. Er denkt melancholisch an den bestimmt bevorstehenden Verlust seines Begehrens nach Claire und damit auch jenes inneren Friedens, den sie ihm beinahe gebracht hat; er hat ein lebhaftes Vorgefühl vom Tod seines Vaters (einem Tod, der sich in seinen Gedanken mit der Ausrottung der europäischen Juden vermengt). Das vierzehn Jahre später in "Mein Leben als Sohn" verzeichnete Sterben von Roths eigenem Vater wirft einen drohenden, von weither schon wahrgenommenen Schatten voraus.
Und nun ist David Kepesh wieder da. Als dieses neue Kapitel seiner Geschichte beginnt, im Jahre 1992, ist er zweiundsechzig Jahre alt, seit fünfzehn Jahren ist er als Kulturjournalist in NPR und Channel 13 zu sehen, und er unterrichtet Literaturkritik (ein Oberseminar pro Jahr) an einer nicht näher benannten Universität in oder bei New York. Doch sieht sich der Leser gezwungen, nachzudenken, ob das wirklich der wiedergekehrte Kepesh sein kann. Zunächst einmal stimmt sein Lebenslauf nicht mit dem des "Professors der Begierde" überein. Der Kepesh in "The Dying Animal" hat einen Sohn, der entweder im Jahre 1992 oder aber irgendwann um das Ende der Geschichte im Jahr 2000 zweiundvierzig ist - beide Hypothesen sind arithmetisch für den uns bekannten Kepesh unmöglich. Dieser prüde und unzufriedene Abkömmling, den Kepesh ermahnt: "Setz dich nun endlich mit dem Schwanz deines Vaters auseinander", ist, wie wir erfahren, das Produkt der 1956 geschlossenen Ehe Kepeshs, einer katastrophalen Verbindung, die der Leser allerdings trotzdem willkommen heißen muß. Denn sie gibt Roth Anlaß zu einer Abschweifung - einer ungeheuerlichen Philippika, den Sex in den sechziger Jahren betreffend. Doch kann der Kepesh aus "Professor der Begierde" diese Ehe nun einmal nicht eingegangen sein, da er zu jener Zeit mit einem Fulbright-Stipendium in London war und es à trois mit zwei Schwedinnen trieb.
Um zur Handlung des neuen Romans zurückzukehren - in Kepeshs Seminar sitzt eine junge Kubanoamerikanerin, Consuela, ein, zwei Jahre älter als die übrigen Studenten, auffallend durch ihre Schönheit, ihre altmodische Höflichkeit und ihre Kleidung (à la Lord & Taylor, würde ich sagen). Er wartet, bis der Kurs vorbei ist und die Noten erteilt sind, ehe er seinen Verführungsversuch startet - dies ist seine Standardtaktik -, und er kriegt sie auch ins Bett. Ihre Fähigkeiten sind mittelmäßig, wenn es um die fortgeschritteneren Sexualpraktiken geht, die Kepesh braucht, aber ihre Brüste und ihr selbstgewisser Narzißmus fesseln ihn an sie. Ebenso seine quälende Eifersucht, vor allem auf ihre einstigen Liebhaber. Nach anderthalb Jahren kommt die Liaison zu einem törichten Ende: Kepesh erregt Consuelas Zorn, weil er nicht zu ihrer Prüfungsabschlußfeier kommt. Doch steckt hinter alledem mehr: Sowohl Kepesh wie sein Freund O'Hearn (verheiratet, katholisch und wie Kepesh ein Freund junger Mädchen) glauben an die absolute Notwendigkeit, Begehren und Liebe zu trennen. "Wer sich bindet, ist verloren, Anhänglichkeit ist mein größter Feind", sagt Kepesh zu sich selbst, spielt Klavier, denkt an Consuela und onaniert, bis er nicht länger krank vor Begierde ist.
Dann erinnert er sich, woher diese Wörter stammen - aus dem Text, der auch die Quelle für den Titel des ganzen Buches ist. Es ist die Strophe in W. B. Yeats' "Sailing to Byzantium", wo die Weisen angerufen werden, "die ihr da steht in Gottes heiligem Feuer", und aus ihr zitiert er: "Verzehrt mein Herz nun ganz; krank vor Begierde / Und festgebunden an ein Tier, das stirbt, / Weiß es nicht, was es ist ..."
Man könnte annehmen, das sei's nun auch - Variationen Philip Roths über das Thema der Yeatsschen Dichotomien Liebe/Trieb, Alter/Begierde, Natur/Künstlichkeit, all das, was im Schrei des Dichters in einem anderen Gedicht zusammengefaßt wird: "Was mach ich nun mit der Absurdität - / O Herz, unruhiges Herz - mit diesem Zerrbild, / Hinfälliges Alter, an mir festgebunden wie einem Hund am Schwanz?" Doch es geht weiter.
Am Silvesterabend, der das Jahr 2000 einleitet, taucht Consuela bei Kepesh auf, um ihm zu sagen, daß sie Brustkrebs hat: er kann die harten Knoten spüren. Weil sie möchte, daß er ein Bild ihres Körpers besitzt, wie er ihn einst kannte, photographiert er sie nackt. Sie reißt sich den Fez vom Kopf, den sie ständig trägt, damit er den Flaum berühren und küssen kann, der an Stelle ihres Haares nach der Chemotherapie nachgewachsen ist.
"Consuela kennt nun die Wunde des Alters", vermerkt Kepesh. "Ihr Zeitgefühl ist nun dasselbe wie meines, beschleunigt und noch hilfloser einsam als meins." Er ist sich nicht sicher, ob er eine anhaltende Erektion haben könnte, wenn sie ihn bäte, mit ihm zu schlafen. Solcherart ist die Reaktion der Lebenden. Kepesh aber hat auch gesehen, wie die Sterbenden reagieren. Sein Freund O'Hearn ist nach einem Schlaganfall teilweise gelähmt und kann nicht mehr sprechen; Kepesh sieht ihn auf seinem Totenbett verzweifelt nach der Frau tasten, die er seit Jahren nicht mehr berührt hat. Anhänglichkeit ist der Feind, aber Kepesh, den es verzweifelt nach Consuela verlangt - "Nach ihren Titten? Ihrer Seele? Ihrer Jugend? Ihrem schlichten Gemüt?" - erkennt noch eine andere Wahrheit: "Nun, da ich mich dem Tode nähere, sehne ich mich insgeheim danach, nicht frei zu sein."
Die Widersprüchlichkeiten, die sich zwischen den verschiedenen Kepesh-Geschichten ergeben, erscheinen mir wie die schleifenden Kratzspuren einer zuschlagenden Löwenpranke. Es sind die Spuren der Ungeduld eines Meisters, der sich mit irgendwelchen Konventionen des Geschichtenerzählens nicht mehr aufhalten will. Dieselbe Löwenpranke hat gewaltsam die krumme Form des Romans "The Human Stain" gebildet.
Philip Roth hat in anderen Büchern lyrischer als hier und auch - so werden manche sagen - mit größerer Sympathie über den Kampf der Libido gegen Alter, Krankheit und Tod geschrieben: in "Sabbaths Theater" und in der Tat auch in "The Human Stain". In der klaustrophischen Erzählung, die hier zu besprechen ist, gibt es keinen Raum mehr für Rücksicht, Liebenswürdigkeit, Mitleid. Kepesh selbst ist grobschlächtiger geworden. Fort sind die spielerische Selbsthinterfragung und die Ironie, und mit ihnen das Feuerwerk literarischer Anspielung - wenn wir einmal von der seltsamen Familienähnlichkeit (fast eine liebevolle Parodie) absehen, die den Kepesh in "The Dying Animal" mit bestimmten Figuren bei Saul Bellow verbindet: zwar nicht mit Augie March, Henderson, Herzog oder Sammler, über die Roth in seinem brillanten und generösen Aufsatz zu Bellows Werk im "New Yorker" schrieb, aber mit den mürrischen, den Leser anherrschenden Erzählern in "The Actual" und "Ravelstein".
Der Phallus ist der Rammbock des siebzigjährigen Kepesh, eine Kriegsmaschine, um die Schranken der menschlichen Bedingtheit niederzubrechen. Das ist, glaube ich, der Sinn seines trotzigen Liebestods, des Ratschlags an seinen Sohn: "Nur wenn du fickst, bist du an allem, was du im Leben nicht leiden kannst, und allem, was dich im Leben besiegt, auf reine, wenn auch momentane Weise gerächt. Nur dann ist man ganz und gar am Leben und ganz und gar man selbst. Nicht der Sex ist die Verdorbenheit - der Rest ist es. Sex ist nicht bloß ein Aneinanderreiben von Körpern und ein seichtes Vergnügen. Sex ist auch die Rache am Tod."
Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka.
Philip Roth: "The Dying Animal". A Novel. Verlag Houghton Mifflin, Boston 2001. 156 S., geb., $ 23,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philip Roth nimmt Rache am Tod / Von Louis Begley
In den letzten acht Jahren hat Philip Roth mit seinen Romanen "Operation Shylock", "Sabbaths Theater", "Amerikanisches Idyll" und zuletzt "Der menschliche Makel" den Nachweis geführt, daß er schlicht und einfach der größte Romancier ist, der heute in englischer Sprache schreibt. Jedes seiner Werke verdient unsere ungeteilte Aufmerksamkeit. Dies gilt natürlich auch für "The Dying Animal", den Kurzroman, welcher die eigenartige Kepesh-Serie fortsetzt.
Roths Leser werden sich erinnern, daß David Kepesh zuerst in einem anderen kurzen Roman in Erscheinung trat: in "Die Brust" (1972), einer brillant komischen und eleganten Geschichte, in welcher die überschwengliche Phantasie des Autors Kafkas "Verwandlung", Gogols "Nase" und Swifts "Gullivers Reisen" quasi paraphrasiert oder ironisch fortsetzt. Vielleicht sogar insgeheim auch Swifts "Märchen von einer Tonne", geschrieben, als Swift alle Bücher gelesen hatte und sich an alle erinnerte. Mit achtunddreißig Jahren verwandelt sich der Erzähler - ein Literaturprofessor, der seit drei Jahren eine eher beiläufige Affäre mit einer Lehrerin namens Claire hat (sie wohnen nicht zusammen, und in den letzten beiden Jahren ihrer Beziehung haben sie nicht öfter als zwei-, dreimal im Monat miteinander geschlafen) - in eine Brust. Eine orgiastische, fünfundsiebzig Kilo schwere Brust, die mindestens fünfzehn Monate lang im Lennox Hill-Krankenhaus liegt und deren sexuelle Energie sich in einer Brustwarze konzentriert, die Kepesh als seinen neuen Phallus in jegliche verfügbare menschliche Körperöffnung schieben möchte.
Erstaunlicherweise kehrte Kepesh fünf Jahre später in "Professor der Begierde" (1977) zurück, einem Text, dessen Handlung vor den Ereignissen spielt, die in "Die Brust" erzählt wurden. Hier ist er renormalisiert zu einer Figur, in der sich Alex Portnoy wiedererkennen könnte (nur, daß Kepesh in den Catskills aufgewachsen ist, wo seine Eltern ein Hotel mit osteuropäischer Küche betrieben haben). Mit ihm kamen auch die Krankenhausbesucher der Kepesh-Brust wieder, Kepeshs Vater und, allen voran, Claire, das üppige WASP-Girl mit den Brüsten, die "groß und weich und verletzlich waren, jede so schwer wie ein Euter auf meinem Gesicht, so warm und schwer in meiner Hand wie ein dickes kleines Tier in festem Schlaf".
Hat sich Kepesh schließlich als "Professor der Begierde" qualifiziert - er bereitet ein Seminar in Vergleichender Literaturwissenschaft vor, das sich mit "beunruhigenden zeitgenössischen Romanen über laszive und unangemessene Sexualität" befaßt -, sind Philip Roths sexuelle Obsessionen allesamt wie Zirkustiere vorgeführt worden: die Unterwerfung der Frau durch gewisse sexuelle Praktiken, andere voyeuristische Praktiken mit einem gewissen sadistischen Zug (Heranziehen einer zweiten Frau, die sich am Geschlechtsakt beteiligt; Tagträume, in denen man sich als Zuhälter der Frau sieht, mit der man zusammenlebt), und Impotenz als Strafe für erotische Übergriffe.
Doch wenn dieser souverän konstruierte Bildungsroman, der auch eine Meditation über Kafka und Tschechow darstellt, sich seinem Ende nähert, finden sich Augenblicke nostalgischer, im Rothschen Kontext wahrhaft bemerkenswerter Zartheit. Kepesh sehnt sich nach jenem Sex, der nicht nach "Mehr" schreien würde. Er denkt melancholisch an den bestimmt bevorstehenden Verlust seines Begehrens nach Claire und damit auch jenes inneren Friedens, den sie ihm beinahe gebracht hat; er hat ein lebhaftes Vorgefühl vom Tod seines Vaters (einem Tod, der sich in seinen Gedanken mit der Ausrottung der europäischen Juden vermengt). Das vierzehn Jahre später in "Mein Leben als Sohn" verzeichnete Sterben von Roths eigenem Vater wirft einen drohenden, von weither schon wahrgenommenen Schatten voraus.
Und nun ist David Kepesh wieder da. Als dieses neue Kapitel seiner Geschichte beginnt, im Jahre 1992, ist er zweiundsechzig Jahre alt, seit fünfzehn Jahren ist er als Kulturjournalist in NPR und Channel 13 zu sehen, und er unterrichtet Literaturkritik (ein Oberseminar pro Jahr) an einer nicht näher benannten Universität in oder bei New York. Doch sieht sich der Leser gezwungen, nachzudenken, ob das wirklich der wiedergekehrte Kepesh sein kann. Zunächst einmal stimmt sein Lebenslauf nicht mit dem des "Professors der Begierde" überein. Der Kepesh in "The Dying Animal" hat einen Sohn, der entweder im Jahre 1992 oder aber irgendwann um das Ende der Geschichte im Jahr 2000 zweiundvierzig ist - beide Hypothesen sind arithmetisch für den uns bekannten Kepesh unmöglich. Dieser prüde und unzufriedene Abkömmling, den Kepesh ermahnt: "Setz dich nun endlich mit dem Schwanz deines Vaters auseinander", ist, wie wir erfahren, das Produkt der 1956 geschlossenen Ehe Kepeshs, einer katastrophalen Verbindung, die der Leser allerdings trotzdem willkommen heißen muß. Denn sie gibt Roth Anlaß zu einer Abschweifung - einer ungeheuerlichen Philippika, den Sex in den sechziger Jahren betreffend. Doch kann der Kepesh aus "Professor der Begierde" diese Ehe nun einmal nicht eingegangen sein, da er zu jener Zeit mit einem Fulbright-Stipendium in London war und es à trois mit zwei Schwedinnen trieb.
Um zur Handlung des neuen Romans zurückzukehren - in Kepeshs Seminar sitzt eine junge Kubanoamerikanerin, Consuela, ein, zwei Jahre älter als die übrigen Studenten, auffallend durch ihre Schönheit, ihre altmodische Höflichkeit und ihre Kleidung (à la Lord & Taylor, würde ich sagen). Er wartet, bis der Kurs vorbei ist und die Noten erteilt sind, ehe er seinen Verführungsversuch startet - dies ist seine Standardtaktik -, und er kriegt sie auch ins Bett. Ihre Fähigkeiten sind mittelmäßig, wenn es um die fortgeschritteneren Sexualpraktiken geht, die Kepesh braucht, aber ihre Brüste und ihr selbstgewisser Narzißmus fesseln ihn an sie. Ebenso seine quälende Eifersucht, vor allem auf ihre einstigen Liebhaber. Nach anderthalb Jahren kommt die Liaison zu einem törichten Ende: Kepesh erregt Consuelas Zorn, weil er nicht zu ihrer Prüfungsabschlußfeier kommt. Doch steckt hinter alledem mehr: Sowohl Kepesh wie sein Freund O'Hearn (verheiratet, katholisch und wie Kepesh ein Freund junger Mädchen) glauben an die absolute Notwendigkeit, Begehren und Liebe zu trennen. "Wer sich bindet, ist verloren, Anhänglichkeit ist mein größter Feind", sagt Kepesh zu sich selbst, spielt Klavier, denkt an Consuela und onaniert, bis er nicht länger krank vor Begierde ist.
Dann erinnert er sich, woher diese Wörter stammen - aus dem Text, der auch die Quelle für den Titel des ganzen Buches ist. Es ist die Strophe in W. B. Yeats' "Sailing to Byzantium", wo die Weisen angerufen werden, "die ihr da steht in Gottes heiligem Feuer", und aus ihr zitiert er: "Verzehrt mein Herz nun ganz; krank vor Begierde / Und festgebunden an ein Tier, das stirbt, / Weiß es nicht, was es ist ..."
Man könnte annehmen, das sei's nun auch - Variationen Philip Roths über das Thema der Yeatsschen Dichotomien Liebe/Trieb, Alter/Begierde, Natur/Künstlichkeit, all das, was im Schrei des Dichters in einem anderen Gedicht zusammengefaßt wird: "Was mach ich nun mit der Absurdität - / O Herz, unruhiges Herz - mit diesem Zerrbild, / Hinfälliges Alter, an mir festgebunden wie einem Hund am Schwanz?" Doch es geht weiter.
Am Silvesterabend, der das Jahr 2000 einleitet, taucht Consuela bei Kepesh auf, um ihm zu sagen, daß sie Brustkrebs hat: er kann die harten Knoten spüren. Weil sie möchte, daß er ein Bild ihres Körpers besitzt, wie er ihn einst kannte, photographiert er sie nackt. Sie reißt sich den Fez vom Kopf, den sie ständig trägt, damit er den Flaum berühren und küssen kann, der an Stelle ihres Haares nach der Chemotherapie nachgewachsen ist.
"Consuela kennt nun die Wunde des Alters", vermerkt Kepesh. "Ihr Zeitgefühl ist nun dasselbe wie meines, beschleunigt und noch hilfloser einsam als meins." Er ist sich nicht sicher, ob er eine anhaltende Erektion haben könnte, wenn sie ihn bäte, mit ihm zu schlafen. Solcherart ist die Reaktion der Lebenden. Kepesh aber hat auch gesehen, wie die Sterbenden reagieren. Sein Freund O'Hearn ist nach einem Schlaganfall teilweise gelähmt und kann nicht mehr sprechen; Kepesh sieht ihn auf seinem Totenbett verzweifelt nach der Frau tasten, die er seit Jahren nicht mehr berührt hat. Anhänglichkeit ist der Feind, aber Kepesh, den es verzweifelt nach Consuela verlangt - "Nach ihren Titten? Ihrer Seele? Ihrer Jugend? Ihrem schlichten Gemüt?" - erkennt noch eine andere Wahrheit: "Nun, da ich mich dem Tode nähere, sehne ich mich insgeheim danach, nicht frei zu sein."
Die Widersprüchlichkeiten, die sich zwischen den verschiedenen Kepesh-Geschichten ergeben, erscheinen mir wie die schleifenden Kratzspuren einer zuschlagenden Löwenpranke. Es sind die Spuren der Ungeduld eines Meisters, der sich mit irgendwelchen Konventionen des Geschichtenerzählens nicht mehr aufhalten will. Dieselbe Löwenpranke hat gewaltsam die krumme Form des Romans "The Human Stain" gebildet.
Philip Roth hat in anderen Büchern lyrischer als hier und auch - so werden manche sagen - mit größerer Sympathie über den Kampf der Libido gegen Alter, Krankheit und Tod geschrieben: in "Sabbaths Theater" und in der Tat auch in "The Human Stain". In der klaustrophischen Erzählung, die hier zu besprechen ist, gibt es keinen Raum mehr für Rücksicht, Liebenswürdigkeit, Mitleid. Kepesh selbst ist grobschlächtiger geworden. Fort sind die spielerische Selbsthinterfragung und die Ironie, und mit ihnen das Feuerwerk literarischer Anspielung - wenn wir einmal von der seltsamen Familienähnlichkeit (fast eine liebevolle Parodie) absehen, die den Kepesh in "The Dying Animal" mit bestimmten Figuren bei Saul Bellow verbindet: zwar nicht mit Augie March, Henderson, Herzog oder Sammler, über die Roth in seinem brillanten und generösen Aufsatz zu Bellows Werk im "New Yorker" schrieb, aber mit den mürrischen, den Leser anherrschenden Erzählern in "The Actual" und "Ravelstein".
Der Phallus ist der Rammbock des siebzigjährigen Kepesh, eine Kriegsmaschine, um die Schranken der menschlichen Bedingtheit niederzubrechen. Das ist, glaube ich, der Sinn seines trotzigen Liebestods, des Ratschlags an seinen Sohn: "Nur wenn du fickst, bist du an allem, was du im Leben nicht leiden kannst, und allem, was dich im Leben besiegt, auf reine, wenn auch momentane Weise gerächt. Nur dann ist man ganz und gar am Leben und ganz und gar man selbst. Nicht der Sex ist die Verdorbenheit - der Rest ist es. Sex ist nicht bloß ein Aneinanderreiben von Körpern und ein seichtes Vergnügen. Sex ist auch die Rache am Tod."
Aus dem Amerikanischen von Joachim Kalka.
Philip Roth: "The Dying Animal". A Novel. Verlag Houghton Mifflin, Boston 2001. 156 S., geb., $ 23,-.
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Brief and brilliant Frank Kermode London Review of Books