Als in den dreißiger Jahren in den Wäldern von Berlin ein nacktes Mädchen, nur mit einer Ausgabe der Quantentheorie, gefunden wird, erhält es von der Presse sofort den Namen Einstein-Girl . Ein Psychiater begibt sich auf eine Spur von Serbien bis in eine psychiatrische Klinik in Zürich.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2010Die Unbekannte
von Caputh
Philip Singtons Roman über das
Schicksal von Einsteins Tochter
Das Schicksal von Einsteins Tochter ist bis heute ein Mysterium. Lieserl hieß das kleine Mädchen, das – nach allem, was man weiß – das erste von drei Kindern der beiden Wissenschaftler Albert Einstein und Mileva Maric war und unehelich geboren wurde. Es heißt, sie habe das Down-Syndrom gehabt, es heißt, sie sei zur Adoption freigegeben worden, es heißt, sie sei als Kleinkind an Scharlach gestorben – auf genauere Erkenntnisse hofft die Nachwelt bis heute. Von der Existenz Elisabeths zeugen Briefe zwischen Albert und Mileva Einstein, die erst nach dem Tod des berühmten Physikers veröffentlicht wurden. Seither erscheinen Romane und Sachbücher über dieses Rätsel, die sich vor allem in Mutmaßungen ergehen. Anna McGrail hat 1998 in „Fräulein Einsteins Universum“ die Geschichte einer Tochter erzählt, die Rache nehmen will am Vater, der sein Kind nicht kennen mochte, und ihm mit ihren eigenen Forschungen den Rang abzulaufen sucht. Und Michele Zackheim hat 1999 mit „Einsteins Tochter“ ein viel diskutiertes Sachbuch veröffentlicht, das sich mit der Suche nach dem Geheimnis dieses Kindes befasst und das Geheimnis doch nicht ganz lüften kann.
Nun hat sich der britische Thriller-Autor Philip Sington an den Stoff herangetraut. Er tut das in einer gewagten Konstruktion, halb Krimi, halb historischer Roman, und er tut es mit großem Geschick. Sington ist ein Routinier komplexer Dramaturgie; als Teil eines Autorenduos unter dem Pseudonym Patrick Lynch hat er bereits eine Reihe erfolgreicher Wissenschaftskrimis veröffentlicht. Der Journalist und Drehbuchautor siedelt seine Geschichte in Berlin kurz vor der Machtergreifung der Nazis an. Auf den Straßen randaliert die SA, Juden beginnen vermehrt, über eine Auswanderung nachzudenken. Singtons Szenario folgt dem Vorbild seines berühmten Kollegen Philip Kerr, der seinen abgehalfterten Polizisten Bernhard Gunther in den dreißiger Jahren in Berlin recherchieren lässt; die Mixtur aus Politik und Verbrechen ist besonders aufregend, denn Krimis, die im Dritten Reich angesiedelt sind, leben vom Wissen um die bevorstehenden Katastrophen.
Im Berlin des Jahres 1932 wird eine junge Frau halbnackt im Wald bei Caputh gefunden, sie leidet an Amnesie, ist offenbar traumatisiert, und der Psychiater Martin Kirsch, der sie zufällig kurz zuvor kennengelernt hatte, will herausfinden, wer sie ist. Der Programmzettel eines Vortrags von Albert Einstein wird bei ihr gefunden, die Berliner Medien nennen die Unbekannte: das Einstein-Mädchen. Und in ihren Unterlagen finden sich Berechnungen und Aufzeichnungen, die von großem mathematischem und physikalischem Wissen zeugen. Kirsch gegenüber nennt sich das Mädchen „Maria“, aber eigentlich heißt sie Elisabeth; sie wohnt in einer kleinen Absteige, doch was tut sie hier? Und warum verschwindet sie plötzlich?
Die Kollegen betrachten Kirschs Interesse an der schönen Frau mit Misstrauen; doch es gibt Wichtigeres als das Geheimnis um diese seltsame Patientin: Am Krankenhaus werden heimlich Menschenversuche gemacht, ein berühmter Psychiater entwickelt erste Pläne für ein Euthanasie-Programm, und Kirsch, der das alles ablehnt, wird wider Willen zum Instrument seiner Vorgesetzten, aber, schleichend und unbemerkt, auch zum Werkzeug der jungen Frau, die sich abgesetzt hat. Kirsch sucht in der Schweiz nach ihr, weil er mittlerweile den Verdacht hegt, dass sie die legendäre Tochter Einsteins sein könnte – und zum Schluss begegnet er tatsächlich Albert Einstein. Dem Denkwunder. Dem Egomanen. Dem Frauenheld. Und er findet Lieserl wieder, unter Umständen, die in die Katastrophe führen – in eine persönliche zwar, die aber doch bestimmt ist von den Nazis in Deutschland und dem Wahnsinn dieser Zeit.
Sington fängt stark an und überzeugend; solange er sich in Berlin bei Kirsch und dem Mädchen aufhält, solange sein Kosmos überschaubar bleibt, ist auch sein Buch dicht und spannungsreich. Allein die Begegnung mit dem Verfasser der Relativitätstheorie, die Sington dem Leser gewährt, allein die kleinen Bosheiten, die schillernden Charakteristika dieses großen Geistes und dennoch kleinmütigen Mannes zeigen, was für ein Meister der Autor aus London ist. Er hat seine Recherche-Hausaufgaben gemacht; Eduard, der Sohn Einstein, taucht als genialisch-wahnsinniger Insasse einer Nervenklinik auf, Einsteins erste Frau Mileva wird in ihrem Salon und in ihrer Trauer um eine verflossene Liebe elegisch porträtiert, und er reist im Geist mit dem Leser zu den Schauplätzen – Zürich, Burghölzli, Novi Sad –, an denen sich die Einsteins aufhielten, bevor sich der Starphysiker nach Amerika entzieht und Lieserl ihre Ruhe findet.
Gegen Ende franst die Geschichte aus, die Dramaturgie wirkt erratisch, die Abläufe sind verwirrend. Das nimmt dem „Einstein-Mädchen“ die Wucht, aber nicht den Charme, schließlich sind auch die Zeiten verwirrend, in denen Lieserl ihren Vater sucht, in denen Hitlers Schergen ein Land umkrempeln und ein kranker, einsamer Psychiater nach der Wahrheit forscht. CATHRIN KAHLWEIT
PHILIP SINGTON: Das Einstein-Mädchen. DTV, München 2010. 450 Seiten, 14,90 Euro.
Ein großer Geist und kleinmütiger
Mann ist hier der Starphysiker
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von Caputh
Philip Singtons Roman über das
Schicksal von Einsteins Tochter
Das Schicksal von Einsteins Tochter ist bis heute ein Mysterium. Lieserl hieß das kleine Mädchen, das – nach allem, was man weiß – das erste von drei Kindern der beiden Wissenschaftler Albert Einstein und Mileva Maric war und unehelich geboren wurde. Es heißt, sie habe das Down-Syndrom gehabt, es heißt, sie sei zur Adoption freigegeben worden, es heißt, sie sei als Kleinkind an Scharlach gestorben – auf genauere Erkenntnisse hofft die Nachwelt bis heute. Von der Existenz Elisabeths zeugen Briefe zwischen Albert und Mileva Einstein, die erst nach dem Tod des berühmten Physikers veröffentlicht wurden. Seither erscheinen Romane und Sachbücher über dieses Rätsel, die sich vor allem in Mutmaßungen ergehen. Anna McGrail hat 1998 in „Fräulein Einsteins Universum“ die Geschichte einer Tochter erzählt, die Rache nehmen will am Vater, der sein Kind nicht kennen mochte, und ihm mit ihren eigenen Forschungen den Rang abzulaufen sucht. Und Michele Zackheim hat 1999 mit „Einsteins Tochter“ ein viel diskutiertes Sachbuch veröffentlicht, das sich mit der Suche nach dem Geheimnis dieses Kindes befasst und das Geheimnis doch nicht ganz lüften kann.
Nun hat sich der britische Thriller-Autor Philip Sington an den Stoff herangetraut. Er tut das in einer gewagten Konstruktion, halb Krimi, halb historischer Roman, und er tut es mit großem Geschick. Sington ist ein Routinier komplexer Dramaturgie; als Teil eines Autorenduos unter dem Pseudonym Patrick Lynch hat er bereits eine Reihe erfolgreicher Wissenschaftskrimis veröffentlicht. Der Journalist und Drehbuchautor siedelt seine Geschichte in Berlin kurz vor der Machtergreifung der Nazis an. Auf den Straßen randaliert die SA, Juden beginnen vermehrt, über eine Auswanderung nachzudenken. Singtons Szenario folgt dem Vorbild seines berühmten Kollegen Philip Kerr, der seinen abgehalfterten Polizisten Bernhard Gunther in den dreißiger Jahren in Berlin recherchieren lässt; die Mixtur aus Politik und Verbrechen ist besonders aufregend, denn Krimis, die im Dritten Reich angesiedelt sind, leben vom Wissen um die bevorstehenden Katastrophen.
Im Berlin des Jahres 1932 wird eine junge Frau halbnackt im Wald bei Caputh gefunden, sie leidet an Amnesie, ist offenbar traumatisiert, und der Psychiater Martin Kirsch, der sie zufällig kurz zuvor kennengelernt hatte, will herausfinden, wer sie ist. Der Programmzettel eines Vortrags von Albert Einstein wird bei ihr gefunden, die Berliner Medien nennen die Unbekannte: das Einstein-Mädchen. Und in ihren Unterlagen finden sich Berechnungen und Aufzeichnungen, die von großem mathematischem und physikalischem Wissen zeugen. Kirsch gegenüber nennt sich das Mädchen „Maria“, aber eigentlich heißt sie Elisabeth; sie wohnt in einer kleinen Absteige, doch was tut sie hier? Und warum verschwindet sie plötzlich?
Die Kollegen betrachten Kirschs Interesse an der schönen Frau mit Misstrauen; doch es gibt Wichtigeres als das Geheimnis um diese seltsame Patientin: Am Krankenhaus werden heimlich Menschenversuche gemacht, ein berühmter Psychiater entwickelt erste Pläne für ein Euthanasie-Programm, und Kirsch, der das alles ablehnt, wird wider Willen zum Instrument seiner Vorgesetzten, aber, schleichend und unbemerkt, auch zum Werkzeug der jungen Frau, die sich abgesetzt hat. Kirsch sucht in der Schweiz nach ihr, weil er mittlerweile den Verdacht hegt, dass sie die legendäre Tochter Einsteins sein könnte – und zum Schluss begegnet er tatsächlich Albert Einstein. Dem Denkwunder. Dem Egomanen. Dem Frauenheld. Und er findet Lieserl wieder, unter Umständen, die in die Katastrophe führen – in eine persönliche zwar, die aber doch bestimmt ist von den Nazis in Deutschland und dem Wahnsinn dieser Zeit.
Sington fängt stark an und überzeugend; solange er sich in Berlin bei Kirsch und dem Mädchen aufhält, solange sein Kosmos überschaubar bleibt, ist auch sein Buch dicht und spannungsreich. Allein die Begegnung mit dem Verfasser der Relativitätstheorie, die Sington dem Leser gewährt, allein die kleinen Bosheiten, die schillernden Charakteristika dieses großen Geistes und dennoch kleinmütigen Mannes zeigen, was für ein Meister der Autor aus London ist. Er hat seine Recherche-Hausaufgaben gemacht; Eduard, der Sohn Einstein, taucht als genialisch-wahnsinniger Insasse einer Nervenklinik auf, Einsteins erste Frau Mileva wird in ihrem Salon und in ihrer Trauer um eine verflossene Liebe elegisch porträtiert, und er reist im Geist mit dem Leser zu den Schauplätzen – Zürich, Burghölzli, Novi Sad –, an denen sich die Einsteins aufhielten, bevor sich der Starphysiker nach Amerika entzieht und Lieserl ihre Ruhe findet.
Gegen Ende franst die Geschichte aus, die Dramaturgie wirkt erratisch, die Abläufe sind verwirrend. Das nimmt dem „Einstein-Mädchen“ die Wucht, aber nicht den Charme, schließlich sind auch die Zeiten verwirrend, in denen Lieserl ihren Vater sucht, in denen Hitlers Schergen ein Land umkrempeln und ein kranker, einsamer Psychiater nach der Wahrheit forscht. CATHRIN KAHLWEIT
PHILIP SINGTON: Das Einstein-Mädchen. DTV, München 2010. 450 Seiten, 14,90 Euro.
Ein großer Geist und kleinmütiger
Mann ist hier der Starphysiker
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"A serious, well-informed and interesting thriller about the private life and family of an undoubted genius. Excellent period setting in Berlin in 1932 and numerous psychological insights... highly recommended" Jessica Mann Literary Review