Produktdetails
- Verlag: MacMillan
- ISBN-13: 9780330491914
- Artikelnr.: 25149048
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.05.1997Helden des Vormarschs
Englische und andere Patienten: Über Michael Ondaatje
Das Verhältnis zwischen einem Roman und seiner Verfilmung läßt sich ästhetisch, medientheoretisch, kulturkritisch oder misanthropisch abhandeln. Am deutlichsten aber drückt es sich ökonomisch aus: Rund 40000 Exemplare verkaufte der Hanser Verlag von Michael Ondaatjes Roman "Der englische Patient" von der Veröffentlichung im Herbst 1993 bis zum Start des gleichnamigen Films von Anthony Minghella im Februar 1997. Vierzigtausend Stück in mehr als drei Jahren, das ist kein Bestseller, aber für gute Literatur ziemlich ordentlich.
Dann kam der Film. Die Bilder des romantischen Wüstendramas prägen seit Wochen das Straßenbild. In Amerika hatte es begeisterte Kritiken gegeben, in Berlin bekam Juliette Binoche für ihre Rolle einen Silbernen Bären, vorletzten Monat kamen neun Oscars dazu, und innerhalb weniger Wochen waren weitere hunderttausend Stück der gebundenen Ausgabe verkauft. Pünktlich zum Filmstart erschien der Roman bei dtv, und die Farben auf dem Cover signalisieren: "Vom Wüstenwind verweht". Binnen kurzem war der Verkauf des Paperbacks auf über 200000 Stück geklettert. Auch in anderen europäischen Ländern steht Ondaatjes Roman wieder auf der Bestsellerliste.
Was hier mit der Taschenbuchausgabe geschehen ist, heißt im Branchenjargon "movie tie-in". Die Wortschöpfung verrät, wo die Prioritäten liegen. Dabei spielt das ästhetische Verhältnis von Vorlage und Verfilmung erst einmal keine Rolle; das gedruckte Wort ist Material, brauchbar nur als Knetmasse in den Händen des Regisseurs. Gleichgültig ist also auch, ob es sich beim Buch um ein nachträglich zusammengeschustertes Auftragswerk handelt, eine sogenannte "novelization", die das Drehbuch in die Sprache von Gebrauchsanweisungen zurückübersetzt, oder um einen möglicherweise sperrigen Originaltext, der dem Drehbuch ursprünglich zugrunde lag.
Der Roman "Der englische Patient" des 1943 geborenen Michael Ondaatje ist allerdings ein Sonderfall. Die Bücher dieses Autors holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung, der in England zur Schule ging und mit neunzehn Jahren nach Kanada zog, wo er heute Literatur lehrt, galten bisher nämlich als unverfilmbar. Der Grund ist, daß sie selbst so erkennbar "filmisch" operieren: Sie zerlegen die Story in Kleinteile, in gefrorene Bilder und zum Grübeln einladende snapshots. Ondaatje bevorzugt kurze Absätze, schnelle Szenenwechsel, das sprachliche Äquivalent von fade-ins und fade-outs. Daß er nebenbei Gedichte schreibt, merkt man seinen Romanen an. Denn auch in der langen Form denkt er lyrisch und gibt der Zeichnung des Augenblicks immer Vorrang vor dem dicken Stift, der die Handlungslinien zieht. Das Sitten- oder Historiengemälde im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, das in den Büchern der letzten Jahre wieder Konjunktur hat, wäre bei Ondaatje undenkbar.
Das ist bemerkenswert, weil sich jeder seiner drei Romane (von denen der erste überhaupt keine Gattungsbezeichnung trägt) auf zahlreiche historische Werke und stattliches dokumentarisches Material beruft. Ondaatjes frühestes Erzählwerk (davor liegt manches an Lyrik sowie der lyrisch-erzählerische Band "The Collected Works of Billy the Kid") trägt den rätselhaften Titel "Coming through Slaughter" (1976), den die deutsche Fassung von 1995 mit "Buddy Boldens Blues" unnötig verdeutlicht. Gestützt auf die Erinnerung von Zeitgenossen, auf Memoiren und Fotos, erzählt und imaginiert Ondaatje das Leben des Kornettisten Charles "Buddy" Bolden, eines Gründervaters des Jazz, der in seiner kurzen Karriere in New Orleans mehrere Bands ins Leben rief und 1907, das Kornett in der Hand, bei einem Umzug zusammenbrach. Den Rest seines Lebens verbrachte Bolden, als Paranoiker geführt, im East Louisiana State Hospital, wo er 1931 starb.
"Coming through Slaughter" ist ein Dokumentarroman, die freie Deutung einer Künstlerexistenz, von der es kaum noch verläßliche Spuren gibt. Die wichtigste Spur führt ins Nichts: Buddy Bolden, der berühmteste Jazzmusiker seiner Zeit, hat in seinem ganzen Leben keine einzige Schallplatte aufgenommen. Er arbeitete als Friseur, sammelte Klatschgeschichten für die Lokalzeitung und spielte seine Musik bei Familienfesten, Hochzeiten und Todesfällen. Ondaatje interpretiert Boldens Kornettspiel als Suche nach Kontrollverlust und Entgrenzung. Wie Kunst und Wahnsinn bei seiner Figur, so laufen beim Autor Fiktion und Faktentreue wie Wasserfarben ineinander.
Ondaatjes nächster Roman, "In der Haut eines Löwen" (In the Skin of a Lion, deutsch 1990), hängt so eng mit dem "Englischen Patienten" zusammen, daß man sich wundert, warum niemand darauf hingewiesen hat. Caravaggio, der kunstfertige Dieb, der im "Englischen Patienten" seine Spionagedienste mit dem Verlust beider Daumen bezahlt, hat hier seinen ersten Auftritt. Zu den Protagonisten zählt auch der Sprengstoffexperte Patrick Lewis, der Vater der kanadischen Krankenschwester Hana, die die letzten Monate des "englischen Patienten" in der Toskana begleitet. Tatsächlich erzählt Ondaatje in dem Roman die unmittelbare kanadische Vorgeschichte einiger Figuren zwischen 1900 und 1938. Zusammen gelesen, geben die beiden Romane ihre Bezüge preis: "In der Haut eines Löwen" schildert die Industrialisierung Kanadas als Geschichte einer gewaltigen Assimilationsleistung der Einwanderer und Zugezogenen, der Bauarbeiter, Brückenbauer und Teerkocher. Es sind Helden des Vormarschs, denen der Roman durch teils anrührende, teils bizarre Legenden ein Denkmal setzt. Im "Englischen Patienten" hat der Krieg die Figuren ihren Heimatländern wieder entrissen und wahllos über zwei Kontinente verstreut.
Gemeinsam ist den Büchern, daß sie versuchen, die Fetzen privater Geschichte vor der Fliehkraft der "großen" Geschichte in Sicherheit zu bringen. In beiden Romanen werden Bücher, Botschaften und Zettelchen herumgeschleppt und durch alle Kalamitäten hindurch bewahrt. Ondaatjes Epiphanien finden statt, wenn einer dem anderen im Halbdunkel aus den Briefen Joseph Conrads vorliest oder Herodot rezitiert. Die Dialoge selbst, früher von knöcherner Strenge, heute mit einem Hang zum Weihevollen, wirken wie Teile eines Chors; wer immer auch nach vorn tritt, um die Stimme zu erheben, die Anwesenheit schweigender Sprecher dicht dahinter bleibt spürbar.
Wegen seiner komplizierten Struktur ist Ondaatjes "Englischer Patient" eine schwierige Vorlage. Ein Buch, das von Krieg und Zerstörung erzählt, von Spionage und Gegenspionage, Loyalität, Liebe, Eifersucht und Verrat, Wildnis und Zivilisation, vom Entziffern der Landschaften, der Winde, der Körper, der Lettern und der Bomben, klingt nach dem Albtraum eines Regisseurs. Wer einen Film daraus machen will, muß den Roman zertrümmern und mit Hilfe einer analogen Technik neu zusammensetzen. Genau das hat Anthony Minghella getan, und es zahlt sich aus, daß er als Autor und Dramatiker mindestens so erfahren ist wie als Regisseur. Ein halbes Jahr vor Fertigstellung hatte er aus dem überbordenden Handlungsmaterial einen Film von vier Stunden und siebzehn Minuten destilliert; am Ende waren es zwei Stunden und fünfundvierzig. Zwar entspricht die Zahl der Szenenwechsel in der fertigen Version genau der Zahl im Drehbuch; doch kaum ein Szenenwechsel blieb an der geplanten Stelle. So ähnelt auch die Entstehung des Films der literarischen Montagetechnik Ondaatjes.
Ob die Liebesgeschichte, die es in dieser Gefräßigkeit nur auf der Leinwand gibt, wirklich an "Casablanca" herankommt, werden Kinobesucher in dreißig Jahren vielleicht eher beurteilen können. Schon jetzt wissen wir von Frederick Forsyth, daß die Romantik des "Englischen Patienten" sachliche Fehler und haarsträubende Inkonsistenzen geradezu voraussetzt. In seiner Polemik im "Spectator" listet Forsyth die Irrtümer der Verfilmung mit buchhalterischer Genauigkeit auf, angefangen vom Flugzeugtyp "Tiger Moth", der nie in El Alamein zum Einsatz gekommen sei, bis zu dem befremdlichen Umstand, daß die Beduinen den abgeschossenen Flieger in der Wüste nicht nur am Leben lassen, sondern ihm auch noch sein Lieblingsbuch hinterhertragen.
Der Roman gibt dafür eine einleuchtende Erklärung. Der Film - so kurz sind zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten - kann sich keine Erklärungen leisten. Doch verrät selbst dieser Mangel eine gewisse Treue zu Michael Ondaatje, der in all seinen Büchern einschließlich seiner Autobiographie gezeigt hat, daß es ihm weniger auf nachprüfbare Fakten ankommt als auf poetische Verzerrung. Hier darf der Dichter alles. Frederick Forsyth, der Haudegen des politischen Thrillers, steht unterdessen da und wirbt für eine altmodische Idee: nichts außer der Wirklichkeit für wirklich zu halten. PAUL INGENDAAY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Englische und andere Patienten: Über Michael Ondaatje
Das Verhältnis zwischen einem Roman und seiner Verfilmung läßt sich ästhetisch, medientheoretisch, kulturkritisch oder misanthropisch abhandeln. Am deutlichsten aber drückt es sich ökonomisch aus: Rund 40000 Exemplare verkaufte der Hanser Verlag von Michael Ondaatjes Roman "Der englische Patient" von der Veröffentlichung im Herbst 1993 bis zum Start des gleichnamigen Films von Anthony Minghella im Februar 1997. Vierzigtausend Stück in mehr als drei Jahren, das ist kein Bestseller, aber für gute Literatur ziemlich ordentlich.
Dann kam der Film. Die Bilder des romantischen Wüstendramas prägen seit Wochen das Straßenbild. In Amerika hatte es begeisterte Kritiken gegeben, in Berlin bekam Juliette Binoche für ihre Rolle einen Silbernen Bären, vorletzten Monat kamen neun Oscars dazu, und innerhalb weniger Wochen waren weitere hunderttausend Stück der gebundenen Ausgabe verkauft. Pünktlich zum Filmstart erschien der Roman bei dtv, und die Farben auf dem Cover signalisieren: "Vom Wüstenwind verweht". Binnen kurzem war der Verkauf des Paperbacks auf über 200000 Stück geklettert. Auch in anderen europäischen Ländern steht Ondaatjes Roman wieder auf der Bestsellerliste.
Was hier mit der Taschenbuchausgabe geschehen ist, heißt im Branchenjargon "movie tie-in". Die Wortschöpfung verrät, wo die Prioritäten liegen. Dabei spielt das ästhetische Verhältnis von Vorlage und Verfilmung erst einmal keine Rolle; das gedruckte Wort ist Material, brauchbar nur als Knetmasse in den Händen des Regisseurs. Gleichgültig ist also auch, ob es sich beim Buch um ein nachträglich zusammengeschustertes Auftragswerk handelt, eine sogenannte "novelization", die das Drehbuch in die Sprache von Gebrauchsanweisungen zurückübersetzt, oder um einen möglicherweise sperrigen Originaltext, der dem Drehbuch ursprünglich zugrunde lag.
Der Roman "Der englische Patient" des 1943 geborenen Michael Ondaatje ist allerdings ein Sonderfall. Die Bücher dieses Autors holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung, der in England zur Schule ging und mit neunzehn Jahren nach Kanada zog, wo er heute Literatur lehrt, galten bisher nämlich als unverfilmbar. Der Grund ist, daß sie selbst so erkennbar "filmisch" operieren: Sie zerlegen die Story in Kleinteile, in gefrorene Bilder und zum Grübeln einladende snapshots. Ondaatje bevorzugt kurze Absätze, schnelle Szenenwechsel, das sprachliche Äquivalent von fade-ins und fade-outs. Daß er nebenbei Gedichte schreibt, merkt man seinen Romanen an. Denn auch in der langen Form denkt er lyrisch und gibt der Zeichnung des Augenblicks immer Vorrang vor dem dicken Stift, der die Handlungslinien zieht. Das Sitten- oder Historiengemälde im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, das in den Büchern der letzten Jahre wieder Konjunktur hat, wäre bei Ondaatje undenkbar.
Das ist bemerkenswert, weil sich jeder seiner drei Romane (von denen der erste überhaupt keine Gattungsbezeichnung trägt) auf zahlreiche historische Werke und stattliches dokumentarisches Material beruft. Ondaatjes frühestes Erzählwerk (davor liegt manches an Lyrik sowie der lyrisch-erzählerische Band "The Collected Works of Billy the Kid") trägt den rätselhaften Titel "Coming through Slaughter" (1976), den die deutsche Fassung von 1995 mit "Buddy Boldens Blues" unnötig verdeutlicht. Gestützt auf die Erinnerung von Zeitgenossen, auf Memoiren und Fotos, erzählt und imaginiert Ondaatje das Leben des Kornettisten Charles "Buddy" Bolden, eines Gründervaters des Jazz, der in seiner kurzen Karriere in New Orleans mehrere Bands ins Leben rief und 1907, das Kornett in der Hand, bei einem Umzug zusammenbrach. Den Rest seines Lebens verbrachte Bolden, als Paranoiker geführt, im East Louisiana State Hospital, wo er 1931 starb.
"Coming through Slaughter" ist ein Dokumentarroman, die freie Deutung einer Künstlerexistenz, von der es kaum noch verläßliche Spuren gibt. Die wichtigste Spur führt ins Nichts: Buddy Bolden, der berühmteste Jazzmusiker seiner Zeit, hat in seinem ganzen Leben keine einzige Schallplatte aufgenommen. Er arbeitete als Friseur, sammelte Klatschgeschichten für die Lokalzeitung und spielte seine Musik bei Familienfesten, Hochzeiten und Todesfällen. Ondaatje interpretiert Boldens Kornettspiel als Suche nach Kontrollverlust und Entgrenzung. Wie Kunst und Wahnsinn bei seiner Figur, so laufen beim Autor Fiktion und Faktentreue wie Wasserfarben ineinander.
Ondaatjes nächster Roman, "In der Haut eines Löwen" (In the Skin of a Lion, deutsch 1990), hängt so eng mit dem "Englischen Patienten" zusammen, daß man sich wundert, warum niemand darauf hingewiesen hat. Caravaggio, der kunstfertige Dieb, der im "Englischen Patienten" seine Spionagedienste mit dem Verlust beider Daumen bezahlt, hat hier seinen ersten Auftritt. Zu den Protagonisten zählt auch der Sprengstoffexperte Patrick Lewis, der Vater der kanadischen Krankenschwester Hana, die die letzten Monate des "englischen Patienten" in der Toskana begleitet. Tatsächlich erzählt Ondaatje in dem Roman die unmittelbare kanadische Vorgeschichte einiger Figuren zwischen 1900 und 1938. Zusammen gelesen, geben die beiden Romane ihre Bezüge preis: "In der Haut eines Löwen" schildert die Industrialisierung Kanadas als Geschichte einer gewaltigen Assimilationsleistung der Einwanderer und Zugezogenen, der Bauarbeiter, Brückenbauer und Teerkocher. Es sind Helden des Vormarschs, denen der Roman durch teils anrührende, teils bizarre Legenden ein Denkmal setzt. Im "Englischen Patienten" hat der Krieg die Figuren ihren Heimatländern wieder entrissen und wahllos über zwei Kontinente verstreut.
Gemeinsam ist den Büchern, daß sie versuchen, die Fetzen privater Geschichte vor der Fliehkraft der "großen" Geschichte in Sicherheit zu bringen. In beiden Romanen werden Bücher, Botschaften und Zettelchen herumgeschleppt und durch alle Kalamitäten hindurch bewahrt. Ondaatjes Epiphanien finden statt, wenn einer dem anderen im Halbdunkel aus den Briefen Joseph Conrads vorliest oder Herodot rezitiert. Die Dialoge selbst, früher von knöcherner Strenge, heute mit einem Hang zum Weihevollen, wirken wie Teile eines Chors; wer immer auch nach vorn tritt, um die Stimme zu erheben, die Anwesenheit schweigender Sprecher dicht dahinter bleibt spürbar.
Wegen seiner komplizierten Struktur ist Ondaatjes "Englischer Patient" eine schwierige Vorlage. Ein Buch, das von Krieg und Zerstörung erzählt, von Spionage und Gegenspionage, Loyalität, Liebe, Eifersucht und Verrat, Wildnis und Zivilisation, vom Entziffern der Landschaften, der Winde, der Körper, der Lettern und der Bomben, klingt nach dem Albtraum eines Regisseurs. Wer einen Film daraus machen will, muß den Roman zertrümmern und mit Hilfe einer analogen Technik neu zusammensetzen. Genau das hat Anthony Minghella getan, und es zahlt sich aus, daß er als Autor und Dramatiker mindestens so erfahren ist wie als Regisseur. Ein halbes Jahr vor Fertigstellung hatte er aus dem überbordenden Handlungsmaterial einen Film von vier Stunden und siebzehn Minuten destilliert; am Ende waren es zwei Stunden und fünfundvierzig. Zwar entspricht die Zahl der Szenenwechsel in der fertigen Version genau der Zahl im Drehbuch; doch kaum ein Szenenwechsel blieb an der geplanten Stelle. So ähnelt auch die Entstehung des Films der literarischen Montagetechnik Ondaatjes.
Ob die Liebesgeschichte, die es in dieser Gefräßigkeit nur auf der Leinwand gibt, wirklich an "Casablanca" herankommt, werden Kinobesucher in dreißig Jahren vielleicht eher beurteilen können. Schon jetzt wissen wir von Frederick Forsyth, daß die Romantik des "Englischen Patienten" sachliche Fehler und haarsträubende Inkonsistenzen geradezu voraussetzt. In seiner Polemik im "Spectator" listet Forsyth die Irrtümer der Verfilmung mit buchhalterischer Genauigkeit auf, angefangen vom Flugzeugtyp "Tiger Moth", der nie in El Alamein zum Einsatz gekommen sei, bis zu dem befremdlichen Umstand, daß die Beduinen den abgeschossenen Flieger in der Wüste nicht nur am Leben lassen, sondern ihm auch noch sein Lieblingsbuch hinterhertragen.
Der Roman gibt dafür eine einleuchtende Erklärung. Der Film - so kurz sind zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten - kann sich keine Erklärungen leisten. Doch verrät selbst dieser Mangel eine gewisse Treue zu Michael Ondaatje, der in all seinen Büchern einschließlich seiner Autobiographie gezeigt hat, daß es ihm weniger auf nachprüfbare Fakten ankommt als auf poetische Verzerrung. Hier darf der Dichter alles. Frederick Forsyth, der Haudegen des politischen Thrillers, steht unterdessen da und wirbt für eine altmodische Idee: nichts außer der Wirklichkeit für wirklich zu halten. PAUL INGENDAAY
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