Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2024Bitte bleiben Sie unter allen Umständen nüchtern und diskret
Peter Ackroyd geht den Eigenheiten der englischen Seele auf den Grund und befasst sich dabei vor allem mit Glaubensfragen
Peter Ackroyd hat einmal bemerkt, die zahlreichen Titel aus seiner Feder bildeten im Grunde ein einziges Werk, dem er stets fehlende Kapitel hinzufüge. Seine Bücher über den großen Bogen der Entwicklung Englands von den frühesten Anfängen bis ins zwanzigste Jahrhundert, über die vielen Gesichter Londons oder Autoren wie Chaucer und Shakespeare, Milton, Dickens und den Wahlengländer T. S. Eliot lassen sich in Abwandlung des Titels von Nikolaus Pevsners Vorlesungen über das Englische an der englischen Kunst unter den Begriff des Englischen an England bringen. In der Form von Romanen, Biographien und historischen Betrachtungen hat sich der fast 75 Jahre alte Ackroyd verschiedenen Facetten dieses Themas gewidmet.
Sein jüngstes Buch, "The English Soul", ergänzt das Opus magnum um ein weiteres Kapitel. So wie er sich vor mehr als zwanzig Jahren mit "Albion", seiner ungewöhnlichen Kulturgeschichte Englands, vornahm, das Wesen der englischen Phantasie zu erkunden, setzt Ackroyd sich in nun mit den Eigenschaften des Glaubens in England auseinander. Der Untertitel, "Der Glaube der Nation", ist irreführend, denn das Buch befasst sich ausschließlich mit den christlichen Konfessionen, als könnten in diesen säkularen Zeiten, in denen sich weniger als die Hälfte aller Briten zum Christentum bekennt - ein Rückgang von 13 Prozent seit der Volksbefragung von 2011, nur Christen eine englische Seele besitzen.
Dass die nationale Psyche im Zentrum dieser Charakterisierung der "englischen Seele" steht, ergibt sich nicht zuletzt aus der Verknüpfung der anglikanischen Kirche mit dem Staat. Ackroyd macht allerdings Formen der "englischen Befindlichkeit" in allen Konfessionen aus. Refrainartig kommt er darauf zurück, wie sich die Bevorzugung des praktischen, konkreten und individuellen Denkens über Dogma, Spekulation und theologische Abstraktion auf die verschiedenen Formen des fragmentierten christlichen Glaubens in England auswirkte. Immer wieder hebt er den Pragmatismus der englischen Spiritualität hervor, der die Kirche von England auf die Via media zwischen reformatorischer Lehre und römischem Katholizismus brachte, aber auch für die soziale Mission nonkonformistischer Glaubensgemeinschaften bestimmend gewesen sei.
Als entscheidende Elemente der englischen Seele bezeichnet Ackroyd Nüchternheit und Diskretion, die mit einer Abneigung gegen Obsession und Extreme einhergingen. Das lässt sich schwer in Einklang bringen mit öffentlichen Verbrennungen, mit den zahlreichen sektiererischen Bewegungen von den Levellers über die Diggers bis hin zu den Ranters und den Muggletoniern oder mit der Hysterie der Menge bei Wesleys Erweckungspredigten.
Aber dann stellt Ackroyd im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg im siebzehnten Jahrhundert fest, dass heftiger Glaube und Eifer ebenfalls als Eigenschaften des nationalen Charakters anerkannt werden müssten. Wie die Kirche von England ist die englische Seele offenbar auch eine "broad church". Unterdrückung und Verfolgung hätten Feuer, Zorn und apokalyptische Warnungen gemäßigt und in toleranten Pragmatismus gelenkt, schreibt Ackroyd über die Quäker. Das sei stets der auf dem Zeugnis der individuellen Erfahrung basierende englische Weg gewesen.
Wie zur Illustration der englischen Neigung zum Konkreten versucht Ackroyd, Geist und Wesen des englischen Christentums durch Kurzporträts maßgeblicher, aber auch weniger bedeutender Persönlichkeiten zu erfassen, die seiner Meinung nach im breiten Spektrum von Anglokatholiken bis zu protestantischen Reformern, Abweichlern und auch Atheisten wie Richard Dawkins Aspekte der englischen Seele verkörpern. Die Auswahl spiegelt Ackroyds Vorliebe für skurrile Individualisten wie Abiezer Coppe, dem nachgesagt wurde, den Antinomismus seiner Sekte so weit zu treiben, dass er tagsüber nackt predigte und nachts betrunken mit Frauen schlief.
Der launenhafte Streifzug beginnt nicht mit Augustinus, dem "Apostel der Angelsachsen", der als Erster den erzbischöflichen Stuhl von Canterbury innehatte. Ackroyd findet wohl, dass der aus Rom entsandte Missionar keine englische Seele besaß. Stattdessen setzt das Buch bei Beda an, der mit seiner in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts verfassten "Kirchengeschichte des englischen Volkes" als Begründer eines nationalen englischen Geschichtsbewusstseins gilt. Der Benediktinermönch aus Northumbria gehört zu den Figuren, die Ackroyd bereits in "Albion" porträtiert hat und hier wieder in religiös-kulturellem Zusammenhang vorstellt. Die Überschneidungen bekräftigen die Verquickung von Glaube und Kultur mit einer Vorstellung von "Englishness", die, wie Beda zeigt, bereits vorhanden war, bevor England zu Beginn des zehnten Jahrhunderts die Oberherrschaft über die angelsächsischen Kleinkönigreiche erlangte. Sie hat den englischen Sonderweg bis in die heutige Zeit bestimmt.
Ackroyd streift die Folgen der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen an die Staatskirche im neunzehnten Jahrhundert. Neuere Debatten um die englische Seele, angestoßen durch die Zuwanderung und die wachsende Zahl der Muslime, durch die Entkolonialisierung und "Wokeness" sowie das Thema Homosexualität, werden nicht in Angriff genommen. Bis auf einige engagierte Passagen über das spezifisch Englische der Sprache und Rhetorik von Geistlichen wie John Donne und George Herbert, die sich auch als große Dichter des britischen Kanons hervorgetan haben, bleibt dieser Versuch, der englischen Seele auf den Grund zu gehen, im klischeehaft Oberflächlichen. GINA THOMAS
Peter Ackroyd: "The English Soul". Faith of a Nation.
Reaktion Books, London 2024. 384 S.,
Abb., geb., 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Peter Ackroyd geht den Eigenheiten der englischen Seele auf den Grund und befasst sich dabei vor allem mit Glaubensfragen
Peter Ackroyd hat einmal bemerkt, die zahlreichen Titel aus seiner Feder bildeten im Grunde ein einziges Werk, dem er stets fehlende Kapitel hinzufüge. Seine Bücher über den großen Bogen der Entwicklung Englands von den frühesten Anfängen bis ins zwanzigste Jahrhundert, über die vielen Gesichter Londons oder Autoren wie Chaucer und Shakespeare, Milton, Dickens und den Wahlengländer T. S. Eliot lassen sich in Abwandlung des Titels von Nikolaus Pevsners Vorlesungen über das Englische an der englischen Kunst unter den Begriff des Englischen an England bringen. In der Form von Romanen, Biographien und historischen Betrachtungen hat sich der fast 75 Jahre alte Ackroyd verschiedenen Facetten dieses Themas gewidmet.
Sein jüngstes Buch, "The English Soul", ergänzt das Opus magnum um ein weiteres Kapitel. So wie er sich vor mehr als zwanzig Jahren mit "Albion", seiner ungewöhnlichen Kulturgeschichte Englands, vornahm, das Wesen der englischen Phantasie zu erkunden, setzt Ackroyd sich in nun mit den Eigenschaften des Glaubens in England auseinander. Der Untertitel, "Der Glaube der Nation", ist irreführend, denn das Buch befasst sich ausschließlich mit den christlichen Konfessionen, als könnten in diesen säkularen Zeiten, in denen sich weniger als die Hälfte aller Briten zum Christentum bekennt - ein Rückgang von 13 Prozent seit der Volksbefragung von 2011, nur Christen eine englische Seele besitzen.
Dass die nationale Psyche im Zentrum dieser Charakterisierung der "englischen Seele" steht, ergibt sich nicht zuletzt aus der Verknüpfung der anglikanischen Kirche mit dem Staat. Ackroyd macht allerdings Formen der "englischen Befindlichkeit" in allen Konfessionen aus. Refrainartig kommt er darauf zurück, wie sich die Bevorzugung des praktischen, konkreten und individuellen Denkens über Dogma, Spekulation und theologische Abstraktion auf die verschiedenen Formen des fragmentierten christlichen Glaubens in England auswirkte. Immer wieder hebt er den Pragmatismus der englischen Spiritualität hervor, der die Kirche von England auf die Via media zwischen reformatorischer Lehre und römischem Katholizismus brachte, aber auch für die soziale Mission nonkonformistischer Glaubensgemeinschaften bestimmend gewesen sei.
Als entscheidende Elemente der englischen Seele bezeichnet Ackroyd Nüchternheit und Diskretion, die mit einer Abneigung gegen Obsession und Extreme einhergingen. Das lässt sich schwer in Einklang bringen mit öffentlichen Verbrennungen, mit den zahlreichen sektiererischen Bewegungen von den Levellers über die Diggers bis hin zu den Ranters und den Muggletoniern oder mit der Hysterie der Menge bei Wesleys Erweckungspredigten.
Aber dann stellt Ackroyd im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg im siebzehnten Jahrhundert fest, dass heftiger Glaube und Eifer ebenfalls als Eigenschaften des nationalen Charakters anerkannt werden müssten. Wie die Kirche von England ist die englische Seele offenbar auch eine "broad church". Unterdrückung und Verfolgung hätten Feuer, Zorn und apokalyptische Warnungen gemäßigt und in toleranten Pragmatismus gelenkt, schreibt Ackroyd über die Quäker. Das sei stets der auf dem Zeugnis der individuellen Erfahrung basierende englische Weg gewesen.
Wie zur Illustration der englischen Neigung zum Konkreten versucht Ackroyd, Geist und Wesen des englischen Christentums durch Kurzporträts maßgeblicher, aber auch weniger bedeutender Persönlichkeiten zu erfassen, die seiner Meinung nach im breiten Spektrum von Anglokatholiken bis zu protestantischen Reformern, Abweichlern und auch Atheisten wie Richard Dawkins Aspekte der englischen Seele verkörpern. Die Auswahl spiegelt Ackroyds Vorliebe für skurrile Individualisten wie Abiezer Coppe, dem nachgesagt wurde, den Antinomismus seiner Sekte so weit zu treiben, dass er tagsüber nackt predigte und nachts betrunken mit Frauen schlief.
Der launenhafte Streifzug beginnt nicht mit Augustinus, dem "Apostel der Angelsachsen", der als Erster den erzbischöflichen Stuhl von Canterbury innehatte. Ackroyd findet wohl, dass der aus Rom entsandte Missionar keine englische Seele besaß. Stattdessen setzt das Buch bei Beda an, der mit seiner in der ersten Hälfte des achten Jahrhunderts verfassten "Kirchengeschichte des englischen Volkes" als Begründer eines nationalen englischen Geschichtsbewusstseins gilt. Der Benediktinermönch aus Northumbria gehört zu den Figuren, die Ackroyd bereits in "Albion" porträtiert hat und hier wieder in religiös-kulturellem Zusammenhang vorstellt. Die Überschneidungen bekräftigen die Verquickung von Glaube und Kultur mit einer Vorstellung von "Englishness", die, wie Beda zeigt, bereits vorhanden war, bevor England zu Beginn des zehnten Jahrhunderts die Oberherrschaft über die angelsächsischen Kleinkönigreiche erlangte. Sie hat den englischen Sonderweg bis in die heutige Zeit bestimmt.
Ackroyd streift die Folgen der gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen an die Staatskirche im neunzehnten Jahrhundert. Neuere Debatten um die englische Seele, angestoßen durch die Zuwanderung und die wachsende Zahl der Muslime, durch die Entkolonialisierung und "Wokeness" sowie das Thema Homosexualität, werden nicht in Angriff genommen. Bis auf einige engagierte Passagen über das spezifisch Englische der Sprache und Rhetorik von Geistlichen wie John Donne und George Herbert, die sich auch als große Dichter des britischen Kanons hervorgetan haben, bleibt dieser Versuch, der englischen Seele auf den Grund zu gehen, im klischeehaft Oberflächlichen. GINA THOMAS
Peter Ackroyd: "The English Soul". Faith of a Nation.
Reaktion Books, London 2024. 384 S.,
Abb., geb., 24,90 Euro.
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