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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.06.2001

Es tut alles, um sich im Rampenlicht zu bewähren
Ein Schauspiel in unendlich vielen Aufzügen: Daniel McNeill schreibt eine sprachlose Naturgeschichte des Gesichts

Das menschliche Gesicht sagt uns alles, und dies sofort - nein: Das Gesicht sagt uns nichts, wenn auch etwas später. Das Lächeln ist weltweit verständlich - nein: Das Lächeln gehört zu den kompliziertesten mimischen Äußerungen. Das Lachen bezeugt soziale Anerkennung und verschafft Macht - nein: Wer Macht besitzt, zeigt ein unbewegtes Gesicht und macht keine Witze. Der Betrüger Arnaud du Tilh konnte drei Jahre lang den Ehemann einer Frau spielen, bevor der echte auftauchte und ihn entlarvte - aber Studien besagen: Wir können Gesichter auch noch nach fünfzig Jahren wiedererkennen. Und so fort.

Paradox wie Daniel McNeill muß man die Sache wohl angehen. Bekannt wurde der Wissenschaftsjournalist mit einem Buch über Fuzzy Logic, die "Logik der Halbwahrheiten" (1996), und damit könnte er im Feld der Gesichter gut residieren. Jedes Vorurteil käme zutage und würde unverzüglich widerlegt, denn Gesichtsdeutung ist eine dilemmatische Wissenschaft. Doch treibt es den Autor diesmal zur Ganzwahrheit: zum Königsweg der Biologie. Eine "Kulturgeschichte" des Gesichts, wie der Titel anzeigt, bietet das Buch höchstens zur Hälfte, die freilich überaus unterhaltsam und belesen, mit zahlreichen Anekdoten und Fabeln die wichtigsten Synapsen zwischen den Wissensfeldern behandelt: Evolution, Mimik, Medizin, Chirurgie, Malerei, Literatur, Ethnologie. Unter dem Beifall der Kosmetikindustrie referiert McNeill aber hauptsächlich den Appell der Gene, die einfach schöne Frauenund kräftige Männergesichter suchen, um sich zu multiplizieren.

Das Gesicht, weiß McNeill, kennt eine lange Evolutionsgeschichte. Von den Fischen, die das Maul nach vorn richten, um Nahrung einzufangen und Gegner zu erledigen, bis zu den Schimpansen und zum Homo habilis, der die Zähne zurücknimmt, die Nase reckt, die Wangen vergrößert und ein profilsüchtiges Kinn dazukomponiert. Dieses "Morphing" hat der holländische Neuroanatom und Kunstlehrer Peter Camper schon in der Aufklärung berühmt gemacht. Die Kunst der Schattenrisse kam ihm emblematisch entgegen. Erst Lavater, dann Grandville umarmten damit ein beliebtes Motiv herrschaftlicher Porträtkunst, die "Ahnherren im Profil", als Karikatur von Leonardo längst vorgezeichnet. Aber Profil ist eben nicht en face. Es verbirgt geradezu die wichtigsten Botschaften des Humangesichts. Wenn McNeill sich detailliert in die Biogeschichte von Mund und Nase, Stirn und Auge, Ohr und Wange vertieft, will er es zum Betrachter wenden. Aber es ist eben an uns nur mäßig interessiert und höchst elusiv.

"Das Gesicht ist alles - und es ist eine Fata Morgana." Fortwährende Selektionen haben es glatt und blank gescheuert und für die Wunschträume zweier ganz konträrer Fakultäten hergerichtet. Die eine heißt Sprache, die andere Ästhetik, und letztere heißt hier, in diesem Buch, immer: Schönheit zwecks Genverbreitung. Glatte und haarlose Gesichter ermöglichen ein Maximum an mimischer Botschaft; sie können schön wie die Sonne sein, man muß sie nur sehen dürfen und nicht wie im Islam verschleiern. Für ebendieses Gesicht, das sich selbst immerzu anstarren möchte, hat die Evolution sinnige Bildschirme aller Art entwickelt, das Denken in Spiegelbildern zur Regel gemacht. "Das Gesicht im Spiegel ist alles - und es ist nichts."

In Buchform kehrt hier also Rudolf Kassners Pointierung wieder: "Der Mensch sieht so aus, wie er ist, weil er nicht so ist, wie er aussieht." Kassner, ein halbes Leben mit dem Menschengesicht befaßt, nannte diese Obsession bekanntlich Physiognomik. Zu Recht, denn seit Aristoteles wird das europäische Räsonnieren über die menschliche Körpererscheinung, und besonders ebendes Gesichts, unter diesem Titel verhandelt. McNeill tut die Physiognomik auf wenigen Seiten ab. Zwar treten die Halbwahrheiten hier kraß zutage, aber im Grunde ist sie ihm peinlich, bietet sie in ihrer Geschichte doch Rassismus und Kriminalanthropologie, Krankheit und Judenhaß.

Wer die Geschichte des Gesichts erzählt, hat nichts Häßliches zu berichten, besonders dann nicht, wenn es eine Naturgeschichte ist. So rühmte Peter Sloterdijk jüngst das Gesicht als Vollendung des aufrechten Gangs, das als Leistung der Evolution allein schon Freudenstrahlen ins Auge des Betrachters zaubert. Mutter und Kind strahlen einander an. Sloterdijk hat ja recht, es ist eine Urszene, aber eben keine bloß anatomische, sondern immer auch eine mimische, und die schließt das Weinen ein, den Zorn, den Ekel und alles andere, was am Anfang der Sprache steht.

So lacht und lächelt, weint und ächzt das Gesicht bei McNeill, aber von Sprache ist keine Rede. Dabei wimmelt es von Kulturinformationen aller Art. Der Autor hat sich um die Kunstgeschichte bemüht, er kennt Theorien über das Porträt und Beispiele berühmter Bilder (natürlich: Mona Lisa); er nennt Märchen und Romane, zitiert Philosophen und Essayisten wie Diderot und Georg Simmel.

Ethnologische Berichte, die den naturalistischen meist widersprechen, umgeben nahezu jeden Befund. Archaische Kulturen beispielsweise lieben die Maske. Nichts scheint naturferner - aber nein, sie zeigen nur animalische Überlebenstechnik. Animalische? Ist nicht der Mensch auch ein Tier? Wie konnte dann die Schauspielerin Shi Peipu ihrem Liebhaber in Peking jahrelang vortäuschen, sie sei eine Frau? "Es gibt keinen Lackmustest, mit dem man männliche Gesichter säuberlich von weiblichen separieren könnte." Oh doch. Wenige Zeilen später weiß eine Studie, "daß wir problemlos männliche und weibliche Gesichter voneinander zu trennen vermögen". Darf kulturell sein, was naturwissenschaftlich nicht sein kann?

Vielleicht wußte der Autor wirklich nicht, in welche Fallstricke er sich mit seinem Thema begab. Vielleicht sah er sich als Herkules im Augiasstall der Physiognomik. Denn gerade weil er die Fülle des kulturellen Codes einbezieht, kann er auf einschleichende Weise immer wieder das einfältige "fünfte Evangelium" von der Weisheit der Natur vortragen und schließlich des Pudels Kern heraus- und die Kultur entlassen. Die Vorstellung von kultureller Konstruktion, sagt McNeill, "verhinderte jahrzehntelang seriöse Untersuchungen, bis die Genetik sich in den sechziger Jahren mit Nachdruck Geltung verschaffte".

Drei Seiten vor Schluß dieses erstaunlich spärlich und lieblos illustrierten Bandes gedenkt McNeill der Tatsache, daß die Menschengesellschaft nicht nur von visuellen Instinkten geleitet sein kann, wie einer archaischen Rarität. Nach fast fünfhundert Seiten Schönheitskurs lernen wir, daß "Schönheit nicht mehr ist als eine tiefe Morgenröte", daß womöglich und in Wahrheit die gutherzige Person genetisch viel wichtiger ist, weil sie sich wirklich um ihre Nachkommen kümmert und, statt sie nur anzusehen, mit ihnen spricht.

CLAUDIA SCHMÖLDERS.

Daniel McNeill: "Das Gesicht". Eine Kulturgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Michael Müller. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2001. 512 S., Abb., geb., 48,- DM.

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