Eine Hörschule und ein Sprachspielbuch voller Lektionen aus Reimen, Balladen, Theaterstücken und Miniromanen, ein Buch aus Etüden zum Lesen und Lauschen - eine Anleitung, das Wundern über Sprache, Klang und Bedeutung wiederzuentdecken.Ein Buch surrealer Szenen, gebaut auf den Zusammenhängen und Ordnungen der Wörter, in einer iterativ gleitenden, assoziierenden, komischen, anspielungsreichen Sprache - ein Buch von Gertrude Stein. Für Kinder. Und Erwachsene, die lachen können wie Kinder über unsere Regeln, Dramen und die Sprache, die wir zu beidem brauchen. Die mit Willie Caesar W's suchen gehen und von der Mauer fallen können, die Ballade der kleinen Vögel hören wollen oder aus einem Brombeerbusch gerettet worden sind. Ein Buch für alle, die entdecken wollen, was Lesen wirklich heißt: unterscheiden lernen. Wahrnehmen, fragen und lachen können über die Welt. Die es hier, noch einmal, lernen wollen.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Einen Lesegenuss, so der Rezensent Florian Vetsch, hält die soeben zweisprachig erschienene Fibel von Gertrude Stein wohl nicht nur für Abc-Schützen bereit. Schon 1939 hatte die "Mutter der Avantgarde" ein Auftragswerk geschrieben für Kinder im "Geldstil", wie Fetsch Gertude Stein zitiert. Die 1942 in Angriff genommene "Fibel mit literarischem Anspruch" jedoch bietet nach Vetsch Texte, die durch den experimentellen Umgang mit dem Sprachmaterial einer modernen Eigengesetzlichkeit folgen. Alles, was übliche Leselernbücher didaktisch aufbereitet an "benamsten" Gegenständen, Reihen von Wörtern mit gleichen Anfangsbuchstaben, Reimen, Wiederholungen und anderen Langweiligkeiten zu bieten haben, scheint hier, folgt man dem Rezensenten, zu einer "herzerweiternden Übung", zu einem "wunderbaren Gertrude-Stein-Buch" gelungen. "Ein Dokument ihrer frischen literarischen Minimal-Art" findet Vetsch und lobt ebenso die Übersetzung Ulrike Draesners, die durch ihren sprachschöpferischen Ansatz den Sprachexperimenten der Stein gerecht werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2002Kopfreisen mit Zeichenstift
Fragmente, die ein Leben bestimmen: Günter Brus' Autobiographie
Wer Günter Brus als vehement expressiven Zeichner morbid blühender Phantasien und sprühender Farbigkeit kennt, mißtraut dem harmlos märchenhaften Titel seiner Autobiographie "Die gute alte Zeit". Als Tücke der Erinnerung erweist sich eine wilde Bilderflut, die die Sicht auf etwas Ganzes, Zusammenhängendes, Geradliniges, wie sie Lebensläufe vorspiegeln, verhindert. Vergangenheit offenbart sich als Fragment, gespeist aus Erinnerung, Erzählung, Kindheitstraumata, Phantasie, literarischer Kenntnis. Einiges erscheint in diesem Rück- und Zerrspiegel übergroß, anderes verschwindend klein. Bei Brus entsteht daraus ein Kompositionsprinzip nach Art der Collage. Auflösung, Desorientierung, Selbstpreisgabe sind ihr Material.
Mit der Autobiographie lernen wir den Zeichner auch als kongenialen Erzähler kennen. "Ich sehe weiß und beginne meine Reise am Ende von Gordon Pyms Reise. Rundum nimmt die Grelle ab, und es zeigen sich diffuse Schatten, die bald die Form eines beißwütigen Hundes annehmen, vor welchem ich das Weite suche. Ich flüchte durch weitere Schatten, tauche durch Dunkelzeiten und bemerke dann, daß ich auf der Couch eines Psychiaters liege."
Edgar Allan Poes phantastische Reisebericht des Schiffsbrüchigen Arthur Gordon Pym endet für Autor und Leser im Nebulösen, in einer Weiß-Vision vom südlichen antarktischen Meer. Dort fällt gewissermaßen der Vorhang in Gestalt einer weißen Nebelwand, einem weißen dunstigen Meer. Das ist die Auslöschung der Phantasie. Die Reise in die Imagination ist zu Ende. Für Günter Brus beginnt seine Reise in die Vergangenheit mit einer Auslöschung, wie sie das Vergessen besorgt, einem Nebelvorhang, der die Schrecken seiner Kindheit verbarg. Er birgt sie wie Wrackteile eines gesunkenen Schiffs. Als Teile eines größeren Ganzen treten sie zutage: Bilderfluten, die immer wieder verblüffende Parallelen zu den Erlebnissen, Visionen, Empfindungen des Schiffbrüchigen Gordon Pym aufweisen. "Ich fuhr mit einem Segelschiff durch Zirruswolken, kenterte in einem Haufen Feuerquallen. Ein Wellensittich ohne Flügel pfiff durch die Lüfte, und ein Pirat mit dem obligaten Holzbein hatte einen Rochen getrocknet und selbigen als schwarze Flagge auf seinem Viermaster gehißt."
Diese "Selbstbiographie" fällt aus dem Muster üblicher Memoiren. Sie folgt keinem kontinuierlichen Erzählfluß, keinem Schema, keinen Stationen des Lebenslaufes, der in Daten zu erfassen wäre. Statt dessen führt sie über vereinzelte Eindrücke aus der Kindheit tief ins Seeleninnere eines Künstlers, der sich zeichnend und schreibend den Schatten der Vergangenheit nähert, um sie zu bannen - Kriegserlebnissen, Kindheitstraumata, Armut, Mißerfolgen, die ihn gleich einem Schiffbrüchigen den wechselhaften Wellenschlägen aussetzten. So wird seine Erzählung zur Reise auf einem trunkenen Schiff in eine zum Ozean gewordene Vergangenheit.
Poe, Baudelaire, Rimbaud sind Brus' geistige Steuermänner. Seine Reise gewährt zunächst Einblicke in namenlose ländliche Landschaften, in denen seine Kindheitsphantasien ihren Lauf nahmen. Man erlebt seine Kindheit als ein Vagabundieren zwischen "Heimat I" und "Heimat II", dem ländlichen Leben der Großeltern und dem seiner Eltern in einem anderen Dorf, und seine Künstlerlaufbahn als ein fortwährendes Scheitern und Weiterkämpfen. Die Familie, in der er aufwuchs, trägt chaotische Züge; Bedeutung gewinnen Fremde, sie heißen Herr Koschak, Herr Holt oder Frau Weinberg und bekommen später alle einen festen Platz in seinem Pantheon. Den Vater lernen wir als "Chefvater" kennen, ein im Gedankengut der Nationalsozialisten Verhafteter, ein "altgermanisches Wisent", ein "Vollkaufmann", an künstlerischen Problemen nicht interessiert. Die Mutter bleibt als Person konturlos.
Großvater I, ein Eisenbahner, der sich später an einem Haken im Schlafzimmer erhängt, gewährt ihm mit seinem großen Fernrohr erste Blicke in die diesseitige Hölle: die Bombardements des "Großen Krieges". Großvater II, nikotin- und alkoholsüchtig, kannte er nur aus Erzählungen und der vergilbten Fotografie auf dem Grabstein, an dem zu Allerheiligen Astern und Wachskerzen abgestellt wurden. Großmutter II hinterläßt ein Kindheitstrauma: eine Moribunde, bettlägerig, in der letzten Begegnung ein halb verwester Leichnam in einem verlassenen Haus, ein "Satan", ein Kahlschädel, von dem Fliegen und Wanzen schon Besitz ergriffen hatten. Das sind Bilder, Traumata, die wie in seinen Zeichnungen immer wieder ins Surreale ausgreifen.
Neben dieser realen Welt gewinnt eine zweite zunehmend an Kontur: die geistige. Es ist das, was ihm Schriftsteller, Maler, Komponisten vermittelten: zum Beispiel Gottfried Benn mit seinem Gedicht "O Nacht! Ich nahm schon Kokain, . . . ich muß im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn." Oder Kleist und Grabbe, die "Reißwölfe des Theaters", Grillparzer, dessen Erzählungen, allen voran "Der arme Spielmann", ihm als Gedichte in Erinnerung blieben, Novalis, der in seine Dichtung "Gott mit einschloß", die literarischen Figuren Brochs, die in Wien dunkle "Löcher" hinterließen, Kokoschka, den er als großen Maler, nicht aber als Memoirenschreiber schätzt, Kubin, an dessen Grenze der "anderen Seite" er geriet: "Patera, Patera murmelte ich." Diese Künstler, Musiker, Schriftsteller haben alle einen Platz in ihm eingenommen wie "Verwandte", wie seine Wahlverwandten Koschak, Holt, Pateisky, Herzl, Weinberg oder Banbauch, die ihm beim Schreiben immer wieder soufflierten.
Viele poetische Stellen des Buchs beziehen sich auf die Natur, die Brus so liebt. Der Naturbeschreibung räumt er immer wieder kurze Passagen ein. Darauf folgen in harten Schnitten trostlose, schreckliche Begebenheiten: Totschlag, Selbstmord, Unfälle, bei denen einmal ein Kind seinen Unterarm in einer Schneidemaschine verliert und verblutet, ein anderes Mal bei Schlägereien ein Mensch ums Leben kommt, oder im Dachgeschoß einer Jugendstilvilla einer den Gashahn öffnet. Im permanenten Stimmungswechsel erlebt der Leser die Gratwanderung eines Künstlers zwischen Schönheit, Grausamkeit, Verlassenheit, Tod, Verwesung, Humor, Selbstpreisgabe, Selbstironie, Selbstvernichtung und Selbstüberhöhung - zwischen "Nullperson" und "Symphonie der Tausend". "Hin und wieder", kommentiert Brus, werde man manisch-depressiv, pendele zwischen "Größenwahn und Armutszeugnis".
Über seine künstlerische Bemühungen, schreibt Brus lakonisch, gebe es wenig zu berichten. "Immer wieder beschäftigte mich das Problem, vor der Kunst Reißaus zu nehmen, aber Rimbaud kam mir genausowenig zu Hilfe wie Marcel Duchamp. Das Schachspiel ist eben auch eine Art Waffenhandel." So selbstenblößend kann nur schreiben, wer die Misere hinter sich hat. Günter Brus, der 1938 in der Steiermark geboren wurde, in Graz und Wien lebt, schreibt aus der Position eines heute international anerkannten bedeutenden Künstlers, der nicht nur seinen Platz als genialer Zeichner in den großen Sammlungen gefunden hat, sondern auch durch Romane wie "Die Geheimnisträger" (1984) und "Amor und Amok" (1987) hervortrat. Jetzt hat er die erstmals zweisprachig erschienene Ausgabe von Gertrude Steins "The First Reader" mit Zeichnungen aus seinem Zyklus "Stein-Häuser" bereichert, und macht die Fibel, die im Jahr 1939 entstand, so nicht nur zu einem geistreichen Lektürevergnügen, sondern auch zum Augenschmaus.
BARBARA CATOIR
Günter Brus: "Die gute alte Zeit." Selbstbiographie. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2002. 267 S., 13 Abb., geb., 22,- [Euro].
Gertrude Stein: "The First Reader." Illustriert von Günter Brus. Englisch/deutsche Ausgabe. Ritter Verlag, Klagenfurt 2001. 125 S., geb., 19,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fragmente, die ein Leben bestimmen: Günter Brus' Autobiographie
Wer Günter Brus als vehement expressiven Zeichner morbid blühender Phantasien und sprühender Farbigkeit kennt, mißtraut dem harmlos märchenhaften Titel seiner Autobiographie "Die gute alte Zeit". Als Tücke der Erinnerung erweist sich eine wilde Bilderflut, die die Sicht auf etwas Ganzes, Zusammenhängendes, Geradliniges, wie sie Lebensläufe vorspiegeln, verhindert. Vergangenheit offenbart sich als Fragment, gespeist aus Erinnerung, Erzählung, Kindheitstraumata, Phantasie, literarischer Kenntnis. Einiges erscheint in diesem Rück- und Zerrspiegel übergroß, anderes verschwindend klein. Bei Brus entsteht daraus ein Kompositionsprinzip nach Art der Collage. Auflösung, Desorientierung, Selbstpreisgabe sind ihr Material.
Mit der Autobiographie lernen wir den Zeichner auch als kongenialen Erzähler kennen. "Ich sehe weiß und beginne meine Reise am Ende von Gordon Pyms Reise. Rundum nimmt die Grelle ab, und es zeigen sich diffuse Schatten, die bald die Form eines beißwütigen Hundes annehmen, vor welchem ich das Weite suche. Ich flüchte durch weitere Schatten, tauche durch Dunkelzeiten und bemerke dann, daß ich auf der Couch eines Psychiaters liege."
Edgar Allan Poes phantastische Reisebericht des Schiffsbrüchigen Arthur Gordon Pym endet für Autor und Leser im Nebulösen, in einer Weiß-Vision vom südlichen antarktischen Meer. Dort fällt gewissermaßen der Vorhang in Gestalt einer weißen Nebelwand, einem weißen dunstigen Meer. Das ist die Auslöschung der Phantasie. Die Reise in die Imagination ist zu Ende. Für Günter Brus beginnt seine Reise in die Vergangenheit mit einer Auslöschung, wie sie das Vergessen besorgt, einem Nebelvorhang, der die Schrecken seiner Kindheit verbarg. Er birgt sie wie Wrackteile eines gesunkenen Schiffs. Als Teile eines größeren Ganzen treten sie zutage: Bilderfluten, die immer wieder verblüffende Parallelen zu den Erlebnissen, Visionen, Empfindungen des Schiffbrüchigen Gordon Pym aufweisen. "Ich fuhr mit einem Segelschiff durch Zirruswolken, kenterte in einem Haufen Feuerquallen. Ein Wellensittich ohne Flügel pfiff durch die Lüfte, und ein Pirat mit dem obligaten Holzbein hatte einen Rochen getrocknet und selbigen als schwarze Flagge auf seinem Viermaster gehißt."
Diese "Selbstbiographie" fällt aus dem Muster üblicher Memoiren. Sie folgt keinem kontinuierlichen Erzählfluß, keinem Schema, keinen Stationen des Lebenslaufes, der in Daten zu erfassen wäre. Statt dessen führt sie über vereinzelte Eindrücke aus der Kindheit tief ins Seeleninnere eines Künstlers, der sich zeichnend und schreibend den Schatten der Vergangenheit nähert, um sie zu bannen - Kriegserlebnissen, Kindheitstraumata, Armut, Mißerfolgen, die ihn gleich einem Schiffbrüchigen den wechselhaften Wellenschlägen aussetzten. So wird seine Erzählung zur Reise auf einem trunkenen Schiff in eine zum Ozean gewordene Vergangenheit.
Poe, Baudelaire, Rimbaud sind Brus' geistige Steuermänner. Seine Reise gewährt zunächst Einblicke in namenlose ländliche Landschaften, in denen seine Kindheitsphantasien ihren Lauf nahmen. Man erlebt seine Kindheit als ein Vagabundieren zwischen "Heimat I" und "Heimat II", dem ländlichen Leben der Großeltern und dem seiner Eltern in einem anderen Dorf, und seine Künstlerlaufbahn als ein fortwährendes Scheitern und Weiterkämpfen. Die Familie, in der er aufwuchs, trägt chaotische Züge; Bedeutung gewinnen Fremde, sie heißen Herr Koschak, Herr Holt oder Frau Weinberg und bekommen später alle einen festen Platz in seinem Pantheon. Den Vater lernen wir als "Chefvater" kennen, ein im Gedankengut der Nationalsozialisten Verhafteter, ein "altgermanisches Wisent", ein "Vollkaufmann", an künstlerischen Problemen nicht interessiert. Die Mutter bleibt als Person konturlos.
Großvater I, ein Eisenbahner, der sich später an einem Haken im Schlafzimmer erhängt, gewährt ihm mit seinem großen Fernrohr erste Blicke in die diesseitige Hölle: die Bombardements des "Großen Krieges". Großvater II, nikotin- und alkoholsüchtig, kannte er nur aus Erzählungen und der vergilbten Fotografie auf dem Grabstein, an dem zu Allerheiligen Astern und Wachskerzen abgestellt wurden. Großmutter II hinterläßt ein Kindheitstrauma: eine Moribunde, bettlägerig, in der letzten Begegnung ein halb verwester Leichnam in einem verlassenen Haus, ein "Satan", ein Kahlschädel, von dem Fliegen und Wanzen schon Besitz ergriffen hatten. Das sind Bilder, Traumata, die wie in seinen Zeichnungen immer wieder ins Surreale ausgreifen.
Neben dieser realen Welt gewinnt eine zweite zunehmend an Kontur: die geistige. Es ist das, was ihm Schriftsteller, Maler, Komponisten vermittelten: zum Beispiel Gottfried Benn mit seinem Gedicht "O Nacht! Ich nahm schon Kokain, . . . ich muß im Überschwange noch einmal vorm Vergängnis blühn." Oder Kleist und Grabbe, die "Reißwölfe des Theaters", Grillparzer, dessen Erzählungen, allen voran "Der arme Spielmann", ihm als Gedichte in Erinnerung blieben, Novalis, der in seine Dichtung "Gott mit einschloß", die literarischen Figuren Brochs, die in Wien dunkle "Löcher" hinterließen, Kokoschka, den er als großen Maler, nicht aber als Memoirenschreiber schätzt, Kubin, an dessen Grenze der "anderen Seite" er geriet: "Patera, Patera murmelte ich." Diese Künstler, Musiker, Schriftsteller haben alle einen Platz in ihm eingenommen wie "Verwandte", wie seine Wahlverwandten Koschak, Holt, Pateisky, Herzl, Weinberg oder Banbauch, die ihm beim Schreiben immer wieder soufflierten.
Viele poetische Stellen des Buchs beziehen sich auf die Natur, die Brus so liebt. Der Naturbeschreibung räumt er immer wieder kurze Passagen ein. Darauf folgen in harten Schnitten trostlose, schreckliche Begebenheiten: Totschlag, Selbstmord, Unfälle, bei denen einmal ein Kind seinen Unterarm in einer Schneidemaschine verliert und verblutet, ein anderes Mal bei Schlägereien ein Mensch ums Leben kommt, oder im Dachgeschoß einer Jugendstilvilla einer den Gashahn öffnet. Im permanenten Stimmungswechsel erlebt der Leser die Gratwanderung eines Künstlers zwischen Schönheit, Grausamkeit, Verlassenheit, Tod, Verwesung, Humor, Selbstpreisgabe, Selbstironie, Selbstvernichtung und Selbstüberhöhung - zwischen "Nullperson" und "Symphonie der Tausend". "Hin und wieder", kommentiert Brus, werde man manisch-depressiv, pendele zwischen "Größenwahn und Armutszeugnis".
Über seine künstlerische Bemühungen, schreibt Brus lakonisch, gebe es wenig zu berichten. "Immer wieder beschäftigte mich das Problem, vor der Kunst Reißaus zu nehmen, aber Rimbaud kam mir genausowenig zu Hilfe wie Marcel Duchamp. Das Schachspiel ist eben auch eine Art Waffenhandel." So selbstenblößend kann nur schreiben, wer die Misere hinter sich hat. Günter Brus, der 1938 in der Steiermark geboren wurde, in Graz und Wien lebt, schreibt aus der Position eines heute international anerkannten bedeutenden Künstlers, der nicht nur seinen Platz als genialer Zeichner in den großen Sammlungen gefunden hat, sondern auch durch Romane wie "Die Geheimnisträger" (1984) und "Amor und Amok" (1987) hervortrat. Jetzt hat er die erstmals zweisprachig erschienene Ausgabe von Gertrude Steins "The First Reader" mit Zeichnungen aus seinem Zyklus "Stein-Häuser" bereichert, und macht die Fibel, die im Jahr 1939 entstand, so nicht nur zu einem geistreichen Lektürevergnügen, sondern auch zum Augenschmaus.
BARBARA CATOIR
Günter Brus: "Die gute alte Zeit." Selbstbiographie. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2002. 267 S., 13 Abb., geb., 22,- [Euro].
Gertrude Stein: "The First Reader." Illustriert von Günter Brus. Englisch/deutsche Ausgabe. Ritter Verlag, Klagenfurt 2001. 125 S., geb., 19,50 [Euro].
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"Nehmen Wandervokale und Wortlautgeschwister aus dem Fluss der gesprochenen Rede auf ihren Buchstabensesseln Platz, ergibt sich so mancher feine Unterschied: Wieder und immer wieder neu hat Gertrude Stein mit Wort(aber)witz das Letternwerk gewandt und in Sinne und Widersinne gewendet: Mit ihrem FIRST READER setzt sie die Urszene vom Aufstieg und Fall sprachlicher Unschuld beim kindlichen Lesenlernen an und demonstriert dabei auch dem linguistisch ausgewachsenen Leser, welche Lust dieser Verlust freizusetzen vermag. Dass dabei der integrale Text in englischer und deutscher Sprache parallel vor Augen kommt, verdoppelt den verlautierenden Reiz - mit Esprit und Demut bringt die Übersetzung Ulrike Dreasners im Spielmodell der Steinschen Girlandensätze das Wortwerk gehörig auf Trab. Ästhetik als Epistem. Und Günter Brus' infam fröhliche Zeichnungen machen dieses Buch zu einem portablen Gesamtkunstwerk: zwingend." (Der Standard/Christiane Zintzen)