Willkommen in Rom. Es ist der Sommer des Jahres 1978 und die Krasnansky Familie, zerstritten, müde und verwirrt, wartet neben tausenden von anderen sowjetischen jüdischen Flüchtlingen - unter ihnen Kriminelle, Dissidenten und Kriegsdienstverweigerer, auf ihre Passage in eine neue Heimat. Doch als ihr Gönner in den USA sie im Stich läßt, stecken sie fest. Willkommen also im Warteraum des Lebens und zu einer tragischkomischen Geschichte von rücksichtslosen Brüder und langmütigen Schwestern, kranken Eltern und unschuldigen Kindern und ihrer epischen Suche nach einem Zuhause: irgendwo und überall.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.04.2012Vorläufig leben
David Bezmozgis’ Debütroman „Die freie Welt“ erzählt vom bizarren Schwebezustand sowjetischer Migranten
Warum nicht Kanada? Dort waren doch kürzlich Olympische Spiele! Im Fernsehen sah Toronto ganz nett aus. Aber genügt das, um binnen Minuten im Treppenhaus einer Behörde in Rom über die Zukunft einer ganzen Familie zu entscheiden? Die hitzige Debatte der jüdischen Emigranten aus Riga kulminiert in dem schlagenden Argument, dass man sich in Kanada zumindest „wie ein Mensch ernähren und kleiden und sich Eishockey anschauen kann, und das alles, ohne Neger und lateinamerikanische Bauern auszubeuten“. Der Entschluss steht, doch die kanadischen Behörden erweisen sich nicht gerade als die Schnellsten. So müssen die Brüder Alec und Karl Krasnansky samt Eltern, Ehefrauen und Karls Kindern die Zeit von Juli bis November 1978 in Italien verbringen – in einem unsicheren Schwebezustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.
Gerade dieses Provisorische interessiert David Bezmozgis in seinem Roman „Die freie Welt“: Die Gegenwart hat hier im Transitland etwas erzwungen Vorläufiges, man lebt, will sich aber nicht wirklich darauf einlassen. Doch das Vertraute wird langsam und unweigerlich zur Erinnerung, und die Zukunft kann noch nicht mehr bieten als verschwommene Wunsch- und Fernsehbilder. Der Fokus auf diese Zeitspanne, in der jeder Einzelne auf sich zurückgeworfen wird, eröffnet Bezmozgis einen besonders nahen Zugang zu den Charakteren. Vergessen geglaubte Erinnerungen, Ängste, aber auch Träume schleichen sich zurück ins Bewusstsein. Zugleich ist jedoch Pragmatismus gefragt – eine Wohnung suchen, mitgebrachten Plunder auf den Flohmärkten verhökern, einen Job finden – und gerade die Jüngeren erkunden voller Neugier, was die Stadt und der Kapitalismus zu bieten haben.
„Die freie Welt“ ist der erste Roman des aus Riga stammenden kanadischen Schriftstellers und Filmemachers David Bezmozgis, der schon für seine Short-Story-Sammlung „Natascha“ diverse Preise erhielt und vom New Yorker 2010 zu einem der zwanzig besten Autoren unter vierzig Jahren gekürt wurde. „Natascha“ porträtiert aus der Sicht und mit der unverfrorenen Attitüde eines Heranwachsenden die russisch-jüdische Community Torontos, in der Bezmozgis aufgewachsen ist. Auch „Die freie Welt“ ist inspiriert von Bezmozgis eigener Erfahrung, doch diesmal splittet er die Erzählperspektive auf: Mal begleitet er Alec, mal dessen Frau Polina, dann wieder den Familienpatriarchen Samuel. Alec ist 26 Jahre alt, schnell begeistert, vor allem von Frauen, und weigert sich, den kindlichen Übermut zugunsten verantwortungsvoller Langeweile aufzugeben. Sein Bruder ist, wie es sich gehört, das Gegenteil: „Wenn Alec einen Zirkus sah, wollte er gleich mit ihm mitziehen, während Karl schon die Kosten für die Fütterung der Elefanten überschlug und verkündete, dass die Akrobaten geschlechtskrank waren.“ Dennoch ist es Karl, der sich bald auf krumme Geschäfte einlässt, um an Geld zu kommen, während Alec sich zum Ausgleich in eine unverbindliche, letztlich fatale Liebschaft stürzt.
Alecs unbekümmerte, meist ironisch distanzierte Haltung setzt die Grundstimmung des Romans vor, auch wenn der Erzähler sich keine der Figurenperspektiven ganz zu eigen macht. Vordergründig passiert nicht viel, die Tage schleppen sich in der flirrenden Sommerhitze dahin. Doch so beiläufig, als wären es die eigenen Gedanken, die beim Lesen abschweifen, webt Bezmozgis Erinnerungen und Rückblenden ein. So entsteht ohne großes Aufhebens ein facettenreiches, hintergründiges Bild sehr unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten in der damaligen Sowjetunion.
Für den unerschütterlichen Kommunisten Samuel beispielsweise bedeutet Emigration immer noch Verrat. Irritiert muss er zur Kenntnis nehmen, wie seine Ehefrau Emma plötzlich mit Begeisterung die neue Möglichkeit nutzt, ganz legal jüdische Kulturveranstaltungen zu besuchen. Er boykottiert alles, was Spaß machen könnte, zieht sich zurück und spricht wenig, außer mit seinem neuen Bekannten, dem hochdekorierten, einbeinigen Sowjet-Veteranen Roidman. Sobald der Familientrubel es erlaubt, versinkt Samuel in den Bildern der Vergangenheit. Dort ist er zu Hause, erlebt noch einmal die kommunistischen Anfänge, kämpft wieder gegen die Deutschen, verliert abermals den geliebten Bruder.
Auch Polina trägt zunehmend schwer an ihrer Entscheidung, je weiter sich Alec von ihr entfernt. Die anderen reisen als Großfamilie, doch sie hat alle Verwandten und Freunde zurückgelassen. Erst der erzwungene Stillstand lässt sie die Tragweite des Verlusts spüren. Bezmozgis braucht keine lauten Gefühlsausbrüche. Er weiß, dass es nicht die Erinnerungen an große Momente aus dem Familienalbum sind, sondern an kleine Gesten, Schusseligkeiten sogar, die einem so schmerzlich bewusst machen, dass „vorbei“, zumal während des Kalten Krieges, auch wirklich vorbei bedeutet. Als Polina sich vor der Abreise mit ihrer jüngeren Schwester Nadja im Park getroffen hatte, um sich zu verabschieden, stellte diese ihre kleine Handtasche wie immer so ab, dass sie diese vergessen musste. Es war das letzte Mal, dass Polina sie daran erinnern konnte. Dieser Moment, so banal er ist, hat bei Bezmozgis etwas unendlich Trauriges.
Auffällig ist der Respekt des Autors vor seinen Figuren. Die erniedrigende Behandlung bei der Ausreise etwa, die bittere Erfahrung des Ausgeliefertseins schildert er ruhig, intensiv, aber nie sensationsheischend. Das Gleiche gilt für die absurde Komik vieler Situationen, sie wird trocken konstatiert, aber nie überreizt. Nebenbei schließt „Die freie Welt“ eine Lücke in der Migrationsliteratur, die viel von Aufbruch und Ankommen, aber noch kaum vom bizarren Dazwischen erzählt.
CORNELIA FIEDLER
DAVID BEZMOZGIS: Die freie Welt. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 352 Seiten, 22,99 Euro.
Es sind banale Situationen
aus dem Alltag, die von der Trauer
des Abschieds erzählen
Im Wartezustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht befinden sich Bezmozgis’ Auswanderer, die im Transitland festhängen. Foto: Jens Klein
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
David Bezmozgis’ Debütroman „Die freie Welt“ erzählt vom bizarren Schwebezustand sowjetischer Migranten
Warum nicht Kanada? Dort waren doch kürzlich Olympische Spiele! Im Fernsehen sah Toronto ganz nett aus. Aber genügt das, um binnen Minuten im Treppenhaus einer Behörde in Rom über die Zukunft einer ganzen Familie zu entscheiden? Die hitzige Debatte der jüdischen Emigranten aus Riga kulminiert in dem schlagenden Argument, dass man sich in Kanada zumindest „wie ein Mensch ernähren und kleiden und sich Eishockey anschauen kann, und das alles, ohne Neger und lateinamerikanische Bauern auszubeuten“. Der Entschluss steht, doch die kanadischen Behörden erweisen sich nicht gerade als die Schnellsten. So müssen die Brüder Alec und Karl Krasnansky samt Eltern, Ehefrauen und Karls Kindern die Zeit von Juli bis November 1978 in Italien verbringen – in einem unsicheren Schwebezustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht.
Gerade dieses Provisorische interessiert David Bezmozgis in seinem Roman „Die freie Welt“: Die Gegenwart hat hier im Transitland etwas erzwungen Vorläufiges, man lebt, will sich aber nicht wirklich darauf einlassen. Doch das Vertraute wird langsam und unweigerlich zur Erinnerung, und die Zukunft kann noch nicht mehr bieten als verschwommene Wunsch- und Fernsehbilder. Der Fokus auf diese Zeitspanne, in der jeder Einzelne auf sich zurückgeworfen wird, eröffnet Bezmozgis einen besonders nahen Zugang zu den Charakteren. Vergessen geglaubte Erinnerungen, Ängste, aber auch Träume schleichen sich zurück ins Bewusstsein. Zugleich ist jedoch Pragmatismus gefragt – eine Wohnung suchen, mitgebrachten Plunder auf den Flohmärkten verhökern, einen Job finden – und gerade die Jüngeren erkunden voller Neugier, was die Stadt und der Kapitalismus zu bieten haben.
„Die freie Welt“ ist der erste Roman des aus Riga stammenden kanadischen Schriftstellers und Filmemachers David Bezmozgis, der schon für seine Short-Story-Sammlung „Natascha“ diverse Preise erhielt und vom New Yorker 2010 zu einem der zwanzig besten Autoren unter vierzig Jahren gekürt wurde. „Natascha“ porträtiert aus der Sicht und mit der unverfrorenen Attitüde eines Heranwachsenden die russisch-jüdische Community Torontos, in der Bezmozgis aufgewachsen ist. Auch „Die freie Welt“ ist inspiriert von Bezmozgis eigener Erfahrung, doch diesmal splittet er die Erzählperspektive auf: Mal begleitet er Alec, mal dessen Frau Polina, dann wieder den Familienpatriarchen Samuel. Alec ist 26 Jahre alt, schnell begeistert, vor allem von Frauen, und weigert sich, den kindlichen Übermut zugunsten verantwortungsvoller Langeweile aufzugeben. Sein Bruder ist, wie es sich gehört, das Gegenteil: „Wenn Alec einen Zirkus sah, wollte er gleich mit ihm mitziehen, während Karl schon die Kosten für die Fütterung der Elefanten überschlug und verkündete, dass die Akrobaten geschlechtskrank waren.“ Dennoch ist es Karl, der sich bald auf krumme Geschäfte einlässt, um an Geld zu kommen, während Alec sich zum Ausgleich in eine unverbindliche, letztlich fatale Liebschaft stürzt.
Alecs unbekümmerte, meist ironisch distanzierte Haltung setzt die Grundstimmung des Romans vor, auch wenn der Erzähler sich keine der Figurenperspektiven ganz zu eigen macht. Vordergründig passiert nicht viel, die Tage schleppen sich in der flirrenden Sommerhitze dahin. Doch so beiläufig, als wären es die eigenen Gedanken, die beim Lesen abschweifen, webt Bezmozgis Erinnerungen und Rückblenden ein. So entsteht ohne großes Aufhebens ein facettenreiches, hintergründiges Bild sehr unterschiedlicher Lebenswirklichkeiten in der damaligen Sowjetunion.
Für den unerschütterlichen Kommunisten Samuel beispielsweise bedeutet Emigration immer noch Verrat. Irritiert muss er zur Kenntnis nehmen, wie seine Ehefrau Emma plötzlich mit Begeisterung die neue Möglichkeit nutzt, ganz legal jüdische Kulturveranstaltungen zu besuchen. Er boykottiert alles, was Spaß machen könnte, zieht sich zurück und spricht wenig, außer mit seinem neuen Bekannten, dem hochdekorierten, einbeinigen Sowjet-Veteranen Roidman. Sobald der Familientrubel es erlaubt, versinkt Samuel in den Bildern der Vergangenheit. Dort ist er zu Hause, erlebt noch einmal die kommunistischen Anfänge, kämpft wieder gegen die Deutschen, verliert abermals den geliebten Bruder.
Auch Polina trägt zunehmend schwer an ihrer Entscheidung, je weiter sich Alec von ihr entfernt. Die anderen reisen als Großfamilie, doch sie hat alle Verwandten und Freunde zurückgelassen. Erst der erzwungene Stillstand lässt sie die Tragweite des Verlusts spüren. Bezmozgis braucht keine lauten Gefühlsausbrüche. Er weiß, dass es nicht die Erinnerungen an große Momente aus dem Familienalbum sind, sondern an kleine Gesten, Schusseligkeiten sogar, die einem so schmerzlich bewusst machen, dass „vorbei“, zumal während des Kalten Krieges, auch wirklich vorbei bedeutet. Als Polina sich vor der Abreise mit ihrer jüngeren Schwester Nadja im Park getroffen hatte, um sich zu verabschieden, stellte diese ihre kleine Handtasche wie immer so ab, dass sie diese vergessen musste. Es war das letzte Mal, dass Polina sie daran erinnern konnte. Dieser Moment, so banal er ist, hat bei Bezmozgis etwas unendlich Trauriges.
Auffällig ist der Respekt des Autors vor seinen Figuren. Die erniedrigende Behandlung bei der Ausreise etwa, die bittere Erfahrung des Ausgeliefertseins schildert er ruhig, intensiv, aber nie sensationsheischend. Das Gleiche gilt für die absurde Komik vieler Situationen, sie wird trocken konstatiert, aber nie überreizt. Nebenbei schließt „Die freie Welt“ eine Lücke in der Migrationsliteratur, die viel von Aufbruch und Ankommen, aber noch kaum vom bizarren Dazwischen erzählt.
CORNELIA FIEDLER
DAVID BEZMOZGIS: Die freie Welt. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 352 Seiten, 22,99 Euro.
Es sind banale Situationen
aus dem Alltag, die von der Trauer
des Abschieds erzählen
Im Wartezustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht befinden sich Bezmozgis’ Auswanderer, die im Transitland festhängen. Foto: Jens Klein
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.09.2012Stalins verlorene Juden in der freien Welt
Mit liebevoller Ironie begleitet David Bezmozgis eine russische Familie auf dem Weg ins kanadische Exil
Es könnte die Geschichte von David Bezmozgis eigener Familie sein: 1978 erhält die achtköpfige jüdische Familie Kransnansky endlich ihre Ausreisegenehmigung. Sie stammt aus Riga und trifft im Juli, nach demütigenden Grenzschikanen, in Rom ein. Auch der 1980 im lettischen Riga geborene Filmemacher und Schriftsteller David Bezmozgis wanderte als Kind mit seiner Familie aus der Sowjetunion aus, und seine eigenen Erfahrungen spiegeln sich in der zärtlichen Genauigkeit, mit der er nicht nur seine heimatlos gewordenen Figuren schildert, sondern auch die problematische Heimat, die sie gerade verloren haben. Von Juli bis November, bis sie nach Kanada aufbrechen können, leben die acht in einem Provisorium, in dem jeder einer schonungslosen Inventur unterzogen wird: Können und Leidenschaften, Familiengefühle und Hoffnungen müssen sich an einem Nullpunkt der Existenz beweisen und neu ordnen - ein exemplarisches Schicksal. Es ist eindrucksvoll, wie lebensklug und liebevoll ironisch dieses Debüt von seelischen Irrwegen erzählt.
Scheinbar beiläufig beschreibt Bezmozgis die Angst und Unsicherheit, den Zorn und die Schuldgefühle seiner Figuren, während sie durch Rom und den nahen Badeort Ladispoli irren - das Zentrum des russischen Exillebens. Bei der fast hoffnungslosen Suche nach einer günstigen Wohnung oder mitten im Kampf um einen Platz auf dem Flohmarkt, um die mitgebrachten Ballettschuhe und Schallplatten zu verkaufen, verfangen sie sich immer wieder in ihren Erinnerungen. Die Sehnsucht nach den zurückgelassenen Verwandten wird in diesen Sommerwochen qualvoll körperlich: in jedem beobachteten Alltagsritual spüren sie die eigenen Verluste und trauern der zwar mangelhaften und grauen, aber vertrauten Welt nach.
Dabei schelten sie sich selbst für ihre "pathologischen" Gefühle. Jeder hadert auf seine ganz spezielle Weise mit der Entwurzelung, was ganz nebenbei ein vielschichtiges Bild der sowjetischen Gesellschaft ergibt: Samuel, der hochdekorierte Kriegsveteran und Parteifunktionär, wirft sich vor, seine Hoffnungen und seinen Glauben verraten und den geliebten, im Krieg gefallenen Bruder endgültig verlassen zu haben. Seine Frau Emma tröstet sich mit der Vorstellung, sie seien einfach wieder evakuiert worden, wie damals im Krieg. Dagegen trifft ihren Sohn Alec, der in jeder attraktiven Frau ein zu ergründendes Geheimnis sieht, in einem Pornokino die erschütternde Erkenntnis, dass es in seinem bisherigen Leben weder Lust noch Phantasie gab.
Durch eine Nebentür lässt der Autor sehr geschickt das Problem ihres jüdischen Selbstgefühls auftreten: Aus Langeweile besuchen sie öfter den jüdischen Klub, und während die Kinder begeistert jüdische Lieder lernen und die Frauen der Familie sentimental auf die kaum bekannten Rituale reagieren, gewinnt Samuel einen letzten Freund. Der invalide, unverbesserlich optimistische Geiger Roidman, der eine Oper über seine Großtante, die Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan, komponiert, erklärt, er habe während der Monate in Italien mehr über die Sowjetunion erfahren als in seinem ganzen dortigen Leben.
In ihren lakonischen, großartig beschriebenen Streitgesprächen tut sich Samuel schwer mit seiner Selbstgerechtigkeit - und wirkt immer sympathischer. Er denkt an die Pogrome im Schtetl seines Großvaters zurück und hört wieder das leise Stöhnen seines Vaters, während die "Weißen" ihn erschlagen. Die Intensität und Lebendigkeit seiner Erinnerungen erschreckt ihn, und als er seine Lebensgeschichte zu schreiben beginnt, besuchen ihn Mutter und Bruder im Traum, redselig und gealtert, als wären sie nie gestorben. Er ist stolz auf seine sowjetischen Orden - die ihm, der "verlogenen Judenvisage", der Zöllner an der Grenze höhnisch abnahm - und steht zu seinen Missetaten (seinen zionistischen Cousin hatte er denunziert). Voll wütender Scham leiht er sich von Roidman dessen Orden, um trotz seiner schlechten Gesundheit ein Visum für Kanada zu bekommen. Aber was hatten er und Emma schon zu erwarten?, kommentiert er bitter: "Sie waren überholt, eine Wanderausstellung der Aussichtslosigkeit: Stalins verlorene Juden, die das Rendezvous mit dem Tod mehrmals überlebt hatten."
Das empfinden seine Söhne, die gegen Samuels Willen auf der Auswanderung bestanden, ganz anders: Sie stürzen sich in die kapitalistische Welt, der eine, um Geschäfte zu machen, der andere, um die freie Liebe zu genießen. Alec zerstört damit fast seine Ehe, wehrt sich aber mit lebenslang eingeübter Ironie gegen jede Verantwortung: In der Sowjetunion war Spott für ihn die einzig angemessene Art, dem sowjetischen Selbstüberschätzungspathos zu begegnen.
Der Konflikt zwischen Vater und Söhnen wird hart und mit viel Bitterkeit ausgetragen, denn jeder der (früher sehr erfolgreichen) Familie steckt in seinen Beschädigungen und Demütigungen fest wie in einem eigenen kleinen Kosmos. Polina beispielsweise, Alecs junge Ehefrau, wird von den sachlich-kühlen Berührungen des Amtsarztes in die traumatischen Empfindungen während ihrer zwei Abtreibungen zurückgeschleudert, eine wortlose, körperliche Verzweiflung, die Alec nicht versteht. Doch der erstaunlichste Fall ist Emma, die in der Fremde zu einer panischen und hilflosen Schein-Glucke mutiert, während sie als Medizinerin in Riga noch klug und selbstbewusst die Familiengeschicke lenkte. An ihrer Wandlung zeigt sich die seelische Gebrochenheit der Exilanten, die diese auf anrührende Weise zu verbergen suchen, besonders krass.
Letztlich zeigt Bezmozgis Mitleid mit seinen Figuren, denn sie haben Glück mit ihren Bekanntschaften im Schlangennest der russischen Community. Der Moldawier Ljowa, der Alec und Polina als Untermieter aufnimmt, ist ein Seelenverwandter des Schlehmil, des jüdischen Narren und Weisen, der sie Bescheidenheit und selbstbewussten Pragmatismus lehrt. Von Israel, wo er als Offizier gelebt hat, rät er ab: "Bis jetzt war ich Bürger von zwei Utopien. Heute sind meine Erwartungen bescheiden. Im Grunde möchte ich in das Land mit den wenigsten Paraden." Von der Ankunft in Kanada erzählt der Roman nicht mehr, davon handelte Bezmozgis vielfach preisgekrönter Erzählungsband "Natascha" .
NICOLE HENNEBERG
David Bezmozgis: "Die freie Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012. 350 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit liebevoller Ironie begleitet David Bezmozgis eine russische Familie auf dem Weg ins kanadische Exil
Es könnte die Geschichte von David Bezmozgis eigener Familie sein: 1978 erhält die achtköpfige jüdische Familie Kransnansky endlich ihre Ausreisegenehmigung. Sie stammt aus Riga und trifft im Juli, nach demütigenden Grenzschikanen, in Rom ein. Auch der 1980 im lettischen Riga geborene Filmemacher und Schriftsteller David Bezmozgis wanderte als Kind mit seiner Familie aus der Sowjetunion aus, und seine eigenen Erfahrungen spiegeln sich in der zärtlichen Genauigkeit, mit der er nicht nur seine heimatlos gewordenen Figuren schildert, sondern auch die problematische Heimat, die sie gerade verloren haben. Von Juli bis November, bis sie nach Kanada aufbrechen können, leben die acht in einem Provisorium, in dem jeder einer schonungslosen Inventur unterzogen wird: Können und Leidenschaften, Familiengefühle und Hoffnungen müssen sich an einem Nullpunkt der Existenz beweisen und neu ordnen - ein exemplarisches Schicksal. Es ist eindrucksvoll, wie lebensklug und liebevoll ironisch dieses Debüt von seelischen Irrwegen erzählt.
Scheinbar beiläufig beschreibt Bezmozgis die Angst und Unsicherheit, den Zorn und die Schuldgefühle seiner Figuren, während sie durch Rom und den nahen Badeort Ladispoli irren - das Zentrum des russischen Exillebens. Bei der fast hoffnungslosen Suche nach einer günstigen Wohnung oder mitten im Kampf um einen Platz auf dem Flohmarkt, um die mitgebrachten Ballettschuhe und Schallplatten zu verkaufen, verfangen sie sich immer wieder in ihren Erinnerungen. Die Sehnsucht nach den zurückgelassenen Verwandten wird in diesen Sommerwochen qualvoll körperlich: in jedem beobachteten Alltagsritual spüren sie die eigenen Verluste und trauern der zwar mangelhaften und grauen, aber vertrauten Welt nach.
Dabei schelten sie sich selbst für ihre "pathologischen" Gefühle. Jeder hadert auf seine ganz spezielle Weise mit der Entwurzelung, was ganz nebenbei ein vielschichtiges Bild der sowjetischen Gesellschaft ergibt: Samuel, der hochdekorierte Kriegsveteran und Parteifunktionär, wirft sich vor, seine Hoffnungen und seinen Glauben verraten und den geliebten, im Krieg gefallenen Bruder endgültig verlassen zu haben. Seine Frau Emma tröstet sich mit der Vorstellung, sie seien einfach wieder evakuiert worden, wie damals im Krieg. Dagegen trifft ihren Sohn Alec, der in jeder attraktiven Frau ein zu ergründendes Geheimnis sieht, in einem Pornokino die erschütternde Erkenntnis, dass es in seinem bisherigen Leben weder Lust noch Phantasie gab.
Durch eine Nebentür lässt der Autor sehr geschickt das Problem ihres jüdischen Selbstgefühls auftreten: Aus Langeweile besuchen sie öfter den jüdischen Klub, und während die Kinder begeistert jüdische Lieder lernen und die Frauen der Familie sentimental auf die kaum bekannten Rituale reagieren, gewinnt Samuel einen letzten Freund. Der invalide, unverbesserlich optimistische Geiger Roidman, der eine Oper über seine Großtante, die Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan, komponiert, erklärt, er habe während der Monate in Italien mehr über die Sowjetunion erfahren als in seinem ganzen dortigen Leben.
In ihren lakonischen, großartig beschriebenen Streitgesprächen tut sich Samuel schwer mit seiner Selbstgerechtigkeit - und wirkt immer sympathischer. Er denkt an die Pogrome im Schtetl seines Großvaters zurück und hört wieder das leise Stöhnen seines Vaters, während die "Weißen" ihn erschlagen. Die Intensität und Lebendigkeit seiner Erinnerungen erschreckt ihn, und als er seine Lebensgeschichte zu schreiben beginnt, besuchen ihn Mutter und Bruder im Traum, redselig und gealtert, als wären sie nie gestorben. Er ist stolz auf seine sowjetischen Orden - die ihm, der "verlogenen Judenvisage", der Zöllner an der Grenze höhnisch abnahm - und steht zu seinen Missetaten (seinen zionistischen Cousin hatte er denunziert). Voll wütender Scham leiht er sich von Roidman dessen Orden, um trotz seiner schlechten Gesundheit ein Visum für Kanada zu bekommen. Aber was hatten er und Emma schon zu erwarten?, kommentiert er bitter: "Sie waren überholt, eine Wanderausstellung der Aussichtslosigkeit: Stalins verlorene Juden, die das Rendezvous mit dem Tod mehrmals überlebt hatten."
Das empfinden seine Söhne, die gegen Samuels Willen auf der Auswanderung bestanden, ganz anders: Sie stürzen sich in die kapitalistische Welt, der eine, um Geschäfte zu machen, der andere, um die freie Liebe zu genießen. Alec zerstört damit fast seine Ehe, wehrt sich aber mit lebenslang eingeübter Ironie gegen jede Verantwortung: In der Sowjetunion war Spott für ihn die einzig angemessene Art, dem sowjetischen Selbstüberschätzungspathos zu begegnen.
Der Konflikt zwischen Vater und Söhnen wird hart und mit viel Bitterkeit ausgetragen, denn jeder der (früher sehr erfolgreichen) Familie steckt in seinen Beschädigungen und Demütigungen fest wie in einem eigenen kleinen Kosmos. Polina beispielsweise, Alecs junge Ehefrau, wird von den sachlich-kühlen Berührungen des Amtsarztes in die traumatischen Empfindungen während ihrer zwei Abtreibungen zurückgeschleudert, eine wortlose, körperliche Verzweiflung, die Alec nicht versteht. Doch der erstaunlichste Fall ist Emma, die in der Fremde zu einer panischen und hilflosen Schein-Glucke mutiert, während sie als Medizinerin in Riga noch klug und selbstbewusst die Familiengeschicke lenkte. An ihrer Wandlung zeigt sich die seelische Gebrochenheit der Exilanten, die diese auf anrührende Weise zu verbergen suchen, besonders krass.
Letztlich zeigt Bezmozgis Mitleid mit seinen Figuren, denn sie haben Glück mit ihren Bekanntschaften im Schlangennest der russischen Community. Der Moldawier Ljowa, der Alec und Polina als Untermieter aufnimmt, ist ein Seelenverwandter des Schlehmil, des jüdischen Narren und Weisen, der sie Bescheidenheit und selbstbewussten Pragmatismus lehrt. Von Israel, wo er als Offizier gelebt hat, rät er ab: "Bis jetzt war ich Bürger von zwei Utopien. Heute sind meine Erwartungen bescheiden. Im Grunde möchte ich in das Land mit den wenigsten Paraden." Von der Ankunft in Kanada erzählt der Roman nicht mehr, davon handelte Bezmozgis vielfach preisgekrönter Erzählungsband "Natascha" .
NICOLE HENNEBERG
David Bezmozgis: "Die freie Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2012. 350 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main