Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2000Goldenes Zeitalter des Westens
Auch Pearl Harbour will nicht vergehen: Gore Vidal seziert das amerikanische Weltreich
Einem Gerücht zufolge herrscht die "political correctness" nirgendwo so ausschließlich wie in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten. Wer sich länger im Land aufhält, merkt, daß das Gegenteil der Fall ist: Jede Schranke der Sprachregelungen, die am einen Tag errichtet wird, liegt schon am nächsten in Trümmern. Man sehe sich die böse Zeichentrick-Serie "South Park" an, die ein wenig an die "Simpsons" erinnert, nur ist sie politischer - und man bemerkt, daß in Amerika immer noch das freie, offene Wort höher geschätzt wird als in andern Teilen der Welt.
Auch die Vereinigten Staaten haben eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Mit ein paar Stichworten läßt sie sich umschreiben: Pearl Harbour, Hiroshima, Kennedy-Mord, Vietnam. Ist es nicht überhaupt die Eigenschaft der Vergangenheit, nicht vergehen zu wollen? Wenn die Historiker nicht weiter wissen, helfen Verschwörungstheorien aus, wie sie der Regisseur Oliver Stone in seinem Film über die Ermordung Kennedys wiedererweckt hat. Wie sonst nur in Italien wird den Politikern jede Infamie zugetraut. Und immer wieder gibt es wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Bücher, die den Beginn des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten diskutieren, der durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbour ausgelöst wurde.
War die amerikanische Führung durch die Attacke wirklich überrascht worden, wie es Franklin D. Roosevelt am Tag danach behauptete? Auch Amerika hat seine "Revisionisten". Sie stellen erneut die Fragen, die schon in den vierziger Jahren einen Untersuchungsauschuß beschäftigten: Wie konnte es sein, daß angesichts der Nachrichtenlage im Spätherbst 1941 die Basis im Hafen von Hawaii offenbar gänzlich unvorbereitet war? Waren es wirklich atmosphärische Störungen, die die Weitergabe der Informationen aus Washington behinderten? Oder gab es ein Kalkül, den Angriff in Kauf zu nehmen, weil man damit einen guten Grund zum Kriegseintritt frei Haus geliefert bekam?
Zu den Revisionisten gehören die Nachkommen der Pearl-Habour-Kommandanten, die damals degradiert wurden. Sie kämpfen für die Rehabilierung ihrer Väter und Großväter und wollen den Schwarzen Peter nach Washington weitergeben. Seit geraumer Zeit stehen sie nicht mehr ganz isoliert. Kevin Baker hat in der "New York Times" vom 12. November unter dem Titel "The Guilt Dogging the Greatest Generation" auf die Gefahr hingewiesen, daß "der Kongreß die Geschichte umschreibt". Denn der Kongreß hatte am 30. Oktober den Präsidenten aufgefordert, die damals für die Sicherheit von Pearl Harbour verantwortlichen Militärs, Admiral Husband E. Kimmel und General Walter C. Short, zu rehabilitieren: Ihnen seien Informationen aus Washington über die Sicherheitslage vorenthalten worden. Baker warnt deshalb vor einem Wiederauflegen der "alten, lange entkräfteten Verschwörungstheorie", nach der Roosevelt persönlich das Risiko eingegangen sein soll, einen Teil der Flotte zu opfern, um seinen Plan, die Vereinigten Staaten zur Kriegsteilnahme zu bewegen, verwirklichen zu können.
Es ist eine Theorie, zu der sich jetzt auch der Romancier Gore Vidal bekennt. Sein Roman "The Golden Age" (Doubleday, 2000) macht sich die Sache der Revisionisten zu eigen. Gleichzeitig erschien "Day of Deceit. The truth about FDR and Pearl Harbour" von Robert B. Stinnett (The Free Press, 2000). Gore Vidal kennt die politische Klasse Amerikas, er wuchs in Washington in einer Familie mit guten Beziehungen auf, mit den Kennedys wie mit Al Gore ist er entfernt verwandt. Die Bücher von Vidal und Stinnett erschienen in einer konzertierten Aktion. Auf dem Umschlagtext von Stinnetts Buch wirbt Gore Vidal: "Viele von uns, Veteranen des Pazifischen Kriegs, hatten schon immer den Verdacht, daß der japanische Angriff auf Pearl Harbour provoziert wurde" - Stinnett bringe nun die Beweismittel bei. Und auf dem Umschlag von "The Golden Age" läßt sich Stinnett seinerseits mit einem Lob der historischen Einsichten Vidals vernehmen.
Vidals Buch ist ein politischer Thesenroman mit allen Unarten der Gattung. Er erinnert an "Mein Jahrhundert" von Günter Grass: Hier wie dort sind es die Siebzigjährigen, die noch einmal Rechenschaft über ihre Zeit geben wollen. Ihre Erkenntnisse legen sie den literarischen Figuren in den Mund, denen man allerdings auch den Zweck schon von weitem ansieht. Gore kennt den Klatsch der Ostküsten-Elite, den er genüßlich ausbreitet, und er kennt das amerikanische Imperium, die Schattenseite des Universalismus der Menschenrechte.
"The Golden Age" setzt im Herbst 1939 ein. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung dachte isolationistisch und wollte in den europäischen Krieg nicht verwickelt werden. Vidal glaubt, daß es nur mit Tricks und Manipulationen der Regierung Roosevelt möglich war, einen Wandel der öffentlichen Meinung zu bewirken. Packend sind seine Schilderungen des amerikanischen Wahlkampfes 1940, die sich vor allem im Wahljahr gut machen. Überall sieht Vidal Einflußagenten - die der Achsenmächte Deutschland und Italien, vor allem aber die der Briten, die Heldin des Buches schließlich arbeitet für die Franzosen. Beim Parteitag der Republikaner tritt der ehemalige Präsident Herbert Hoover auf, der vor einem europäischen Engagement warnt. Im Saal kann ihn keiner hören: Vidal glaubt zu wissen, wer an dem Mikrophon gedreht hat.
Schließlich läuft alles auf die Listen und Ränke des charismatischen Roosevelt hinaus. Vidal beruft sich auf ein Dokument, das auch bei Stinnett eine Rolle als Beweisstück spielt: A. H. McCollum analysierte für das Verteidigungsministerium im Jahr 1940 die strategische Lage und kam zu dem Schluß, daß ein Krieg mit Japan wünschenswert sei - allerdings sei er beim gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung nicht zu führen ("It is not believed that in the present state of political opinion the United States government is capable of declaring war against Japan without more ado"). Mc Collum schlug deshalb umfassende, mit Großbritannien, den Niederlanden und den Nationalchinesen abgestimmte Maßnahmen vor, um Japan durch ein Handelsembargo in die Knie zu zwingen. Und er schloß seine Analyse mit dem Satz: Wenn dadurch Japan zu offenen Kriegshandlungen verleitet werden könne, sei dies nur um so besser. McCollum war 1898 als Sohn baptistischer Missionare in Nagasaki geboren worden, der Stadt, die später zum Ziel der zweiten Atombombe wurde, Vidal läßt sich die ironische Pointe nicht entgehen.
Nein, nicht die "political correctness" herrscht in Amerika, sie ist nur das letzte Mittel, die harten und notwendigen Debatten zu zähmen. Die Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten ist anders beschaffen als die deutsche. Weil der Patriotismus so massiv ist wie kaum sonst irgendwo in der Welt, ist auch der "Revisionismus" legitim. Weil der multikulturelle Charakter der Gesellschaft außer Frage steht, kann sie so unbefangen betrachtet werden wie in Tom Wolfes "Fegefeuer der Eitelkeiten", einer unübertroffenen Schilderung der Klassenkämpfe im "Schmelztiegel" von New York. Weil es ein starkes und selbstbewußtes Judentum gibt, kann eine so freimütige Geschichte wie Norman Cantors "The Sacred Chain" geschrieben und veröffentlicht werden. Wer nach einem Bild für die Verlaufsform amerikanischer Debatten sucht, mag an das Football-Spiel der muskulösen, schwergerüsteten Athleten denken.
LORENZ JÄGER
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Auch Pearl Harbour will nicht vergehen: Gore Vidal seziert das amerikanische Weltreich
Einem Gerücht zufolge herrscht die "political correctness" nirgendwo so ausschließlich wie in der Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten. Wer sich länger im Land aufhält, merkt, daß das Gegenteil der Fall ist: Jede Schranke der Sprachregelungen, die am einen Tag errichtet wird, liegt schon am nächsten in Trümmern. Man sehe sich die böse Zeichentrick-Serie "South Park" an, die ein wenig an die "Simpsons" erinnert, nur ist sie politischer - und man bemerkt, daß in Amerika immer noch das freie, offene Wort höher geschätzt wird als in andern Teilen der Welt.
Auch die Vereinigten Staaten haben eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Mit ein paar Stichworten läßt sie sich umschreiben: Pearl Harbour, Hiroshima, Kennedy-Mord, Vietnam. Ist es nicht überhaupt die Eigenschaft der Vergangenheit, nicht vergehen zu wollen? Wenn die Historiker nicht weiter wissen, helfen Verschwörungstheorien aus, wie sie der Regisseur Oliver Stone in seinem Film über die Ermordung Kennedys wiedererweckt hat. Wie sonst nur in Italien wird den Politikern jede Infamie zugetraut. Und immer wieder gibt es wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Bücher, die den Beginn des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten diskutieren, der durch den japanischen Angriff auf Pearl Harbour ausgelöst wurde.
War die amerikanische Führung durch die Attacke wirklich überrascht worden, wie es Franklin D. Roosevelt am Tag danach behauptete? Auch Amerika hat seine "Revisionisten". Sie stellen erneut die Fragen, die schon in den vierziger Jahren einen Untersuchungsauschuß beschäftigten: Wie konnte es sein, daß angesichts der Nachrichtenlage im Spätherbst 1941 die Basis im Hafen von Hawaii offenbar gänzlich unvorbereitet war? Waren es wirklich atmosphärische Störungen, die die Weitergabe der Informationen aus Washington behinderten? Oder gab es ein Kalkül, den Angriff in Kauf zu nehmen, weil man damit einen guten Grund zum Kriegseintritt frei Haus geliefert bekam?
Zu den Revisionisten gehören die Nachkommen der Pearl-Habour-Kommandanten, die damals degradiert wurden. Sie kämpfen für die Rehabilierung ihrer Väter und Großväter und wollen den Schwarzen Peter nach Washington weitergeben. Seit geraumer Zeit stehen sie nicht mehr ganz isoliert. Kevin Baker hat in der "New York Times" vom 12. November unter dem Titel "The Guilt Dogging the Greatest Generation" auf die Gefahr hingewiesen, daß "der Kongreß die Geschichte umschreibt". Denn der Kongreß hatte am 30. Oktober den Präsidenten aufgefordert, die damals für die Sicherheit von Pearl Harbour verantwortlichen Militärs, Admiral Husband E. Kimmel und General Walter C. Short, zu rehabilitieren: Ihnen seien Informationen aus Washington über die Sicherheitslage vorenthalten worden. Baker warnt deshalb vor einem Wiederauflegen der "alten, lange entkräfteten Verschwörungstheorie", nach der Roosevelt persönlich das Risiko eingegangen sein soll, einen Teil der Flotte zu opfern, um seinen Plan, die Vereinigten Staaten zur Kriegsteilnahme zu bewegen, verwirklichen zu können.
Es ist eine Theorie, zu der sich jetzt auch der Romancier Gore Vidal bekennt. Sein Roman "The Golden Age" (Doubleday, 2000) macht sich die Sache der Revisionisten zu eigen. Gleichzeitig erschien "Day of Deceit. The truth about FDR and Pearl Harbour" von Robert B. Stinnett (The Free Press, 2000). Gore Vidal kennt die politische Klasse Amerikas, er wuchs in Washington in einer Familie mit guten Beziehungen auf, mit den Kennedys wie mit Al Gore ist er entfernt verwandt. Die Bücher von Vidal und Stinnett erschienen in einer konzertierten Aktion. Auf dem Umschlagtext von Stinnetts Buch wirbt Gore Vidal: "Viele von uns, Veteranen des Pazifischen Kriegs, hatten schon immer den Verdacht, daß der japanische Angriff auf Pearl Harbour provoziert wurde" - Stinnett bringe nun die Beweismittel bei. Und auf dem Umschlag von "The Golden Age" läßt sich Stinnett seinerseits mit einem Lob der historischen Einsichten Vidals vernehmen.
Vidals Buch ist ein politischer Thesenroman mit allen Unarten der Gattung. Er erinnert an "Mein Jahrhundert" von Günter Grass: Hier wie dort sind es die Siebzigjährigen, die noch einmal Rechenschaft über ihre Zeit geben wollen. Ihre Erkenntnisse legen sie den literarischen Figuren in den Mund, denen man allerdings auch den Zweck schon von weitem ansieht. Gore kennt den Klatsch der Ostküsten-Elite, den er genüßlich ausbreitet, und er kennt das amerikanische Imperium, die Schattenseite des Universalismus der Menschenrechte.
"The Golden Age" setzt im Herbst 1939 ein. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung dachte isolationistisch und wollte in den europäischen Krieg nicht verwickelt werden. Vidal glaubt, daß es nur mit Tricks und Manipulationen der Regierung Roosevelt möglich war, einen Wandel der öffentlichen Meinung zu bewirken. Packend sind seine Schilderungen des amerikanischen Wahlkampfes 1940, die sich vor allem im Wahljahr gut machen. Überall sieht Vidal Einflußagenten - die der Achsenmächte Deutschland und Italien, vor allem aber die der Briten, die Heldin des Buches schließlich arbeitet für die Franzosen. Beim Parteitag der Republikaner tritt der ehemalige Präsident Herbert Hoover auf, der vor einem europäischen Engagement warnt. Im Saal kann ihn keiner hören: Vidal glaubt zu wissen, wer an dem Mikrophon gedreht hat.
Schließlich läuft alles auf die Listen und Ränke des charismatischen Roosevelt hinaus. Vidal beruft sich auf ein Dokument, das auch bei Stinnett eine Rolle als Beweisstück spielt: A. H. McCollum analysierte für das Verteidigungsministerium im Jahr 1940 die strategische Lage und kam zu dem Schluß, daß ein Krieg mit Japan wünschenswert sei - allerdings sei er beim gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung nicht zu führen ("It is not believed that in the present state of political opinion the United States government is capable of declaring war against Japan without more ado"). Mc Collum schlug deshalb umfassende, mit Großbritannien, den Niederlanden und den Nationalchinesen abgestimmte Maßnahmen vor, um Japan durch ein Handelsembargo in die Knie zu zwingen. Und er schloß seine Analyse mit dem Satz: Wenn dadurch Japan zu offenen Kriegshandlungen verleitet werden könne, sei dies nur um so besser. McCollum war 1898 als Sohn baptistischer Missionare in Nagasaki geboren worden, der Stadt, die später zum Ziel der zweiten Atombombe wurde, Vidal läßt sich die ironische Pointe nicht entgehen.
Nein, nicht die "political correctness" herrscht in Amerika, sie ist nur das letzte Mittel, die harten und notwendigen Debatten zu zähmen. Die Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten ist anders beschaffen als die deutsche. Weil der Patriotismus so massiv ist wie kaum sonst irgendwo in der Welt, ist auch der "Revisionismus" legitim. Weil der multikulturelle Charakter der Gesellschaft außer Frage steht, kann sie so unbefangen betrachtet werden wie in Tom Wolfes "Fegefeuer der Eitelkeiten", einer unübertroffenen Schilderung der Klassenkämpfe im "Schmelztiegel" von New York. Weil es ein starkes und selbstbewußtes Judentum gibt, kann eine so freimütige Geschichte wie Norman Cantors "The Sacred Chain" geschrieben und veröffentlicht werden. Wer nach einem Bild für die Verlaufsform amerikanischer Debatten sucht, mag an das Football-Spiel der muskulösen, schwergerüsteten Athleten denken.
LORENZ JÄGER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main