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Rens Hoffnungen scheinen erfüllt: er wird vom Bruder aus dem Waisenhaus abgeholt. Doch statt nach Hause bringt sein Bruder ihn in Gefahr.

Produktbeschreibung
Rens Hoffnungen scheinen erfüllt: er wird vom Bruder aus dem Waisenhaus abgeholt. Doch statt nach Hause bringt sein Bruder ihn in Gefahr.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.2009

Oliver Twist in der Falle

Barmherzige Schwestern und bigotte Patres: Hannah Tintis Waisenkindgeschichte "Die linke Hand" versucht vergeblich, an die Sozial- und Abenteuerromane des neunzehnten Jahrhunderts anzuknüpfen.

Ren wurde als Kind durch die Säuglingsklappe des katholischen Waisenhauses St. Anthony geschoben. Der heilige Antonius ist der Schutzpatron der verlorenen Sachen, und dazu gehört auch die linke Hand, die dem Bastard gleich nach der Geburt ruchlos abgetrennt und in einem Zauberwürfel konserviert wurde. Bevor der verlorene Sohn seine verlorene Hand und seinen Vater wiederfindet, muss er den mit guten Vorsätzen und grotesken Figuren gepflasterten Leidensweg eines Dickens-Waisenkindes bis zum bitteren Ende abschreiten: Prügel, Lieblosigkeit, Hunger, Elend, Amputationen ohne Narkose. Dunkle Kaschemmen, Krankenhäuser und Fabriken sind seine Schulzimmer, Gauner, Diebe und Säufer seine Erzieher: Ren glaubt unbeirrt an das Wunder, aber er bekommt von seinem Wohltäter, einem herumziehenden Quacksalber, nur die "Opiumtinktur für unartige Kinder" oder bestenfalls "Doktor Fausts medizinisches Salz für angenehme Träume".

Benjamin Nab, der Ren vor dem Prügelschemel der Patres, einem Los als Soldat oder skalpierter Siedler rettete, entpuppt sich rasch als notorischer Lügner, Dieb und Leichenfledderer. In einem der Gräber, die der Tunichtgut zusammen mit seinem Komplizen Tom in Doktor Miltons Auftrag aushebt, liegt Dolly, lebendig begraben in seinem violetten Anzug: Der von den Toten auferstandene gutmütige Riese nimmt Ren unter seine Fittiche und lässt seinetwegen sogar von seinem bösen Tun als Auftragskiller ab. Die Ersatzmutter der Kinder, eine rauhe, aber herzliche Pensionswirtin, hält sich, vermutlich aus Gründen der Symmetrie, einen buckligen Zwerg, der nachts durch den Kamin in ihre Küche klettert. Tom wiederum, der verkommene Lehrer, entwickelt eine väterliche Zuneigung zu Rens Freunden Brom und Ichy.

North Umbrage, das schmutzig graue Hafendorf in Neuengland, ist voll bizarrer Patchworkfamilien und schaurig missgebildeter Kreaturen: Alle sind mit Gebresten und exzentrischen Tics geschlagen, gefühlsamputiert und immer auf der Suche nach Geborgenheit und elterlicher Zuneigung. König im Reich des Bösen ist ein ehemaliger Rattenfänger, der seinem Neffen Ren einst die linke Hand abschnitt und heute in seiner Mausefallenfabrik hasenschartige Mädchen zu Krüppeln macht und die Stadt mit seiner Reitermiliz terrorisiert. Nachdem alle Missetaten gesühnt und alle offenen Wunden vernarbt sind, findet Ren auch noch seinen Vater, wenn auch nur, um ihn gleich wieder zu verlieren. Aber der aufgeweckte Junge ist durch Verluste, Elend und Wunder längst so weit gereift, dass er sein Leben nun auch ohne die Linke meistern kann.

Barmherzige Schwestern und bigotte Patres, die arme Waisenkinder mit der Rute und frommen Sprüchen traktieren; hartherzige Fabrikherren, die sie als Arbeitssklaven und gern auch sexuell missbrauchen; verschrobene Matronen, die Findelkinder des Unglücks an ihren weichherzigen Busen drücken, und am Ende, nach einer Odyssee durch alle Höllen schwarzer Pädagogik, wunderbare Errettungen, unverhoffte Erbschaften und herzergreifende Familienzusammenführungen: Was die junge New Yorker Autorin Hannah Tinti, viel gefeiert für ihren Erzählband "Tanz der Tiere", in ihrem ersten Roman auffährt, erinnert stark an Dickens-Romane wie "Oliver Twist" oder "David Copperfield".

"Die linke Hand" ist kein rasant und vital erzählter "Slumdog Millionaire", sondern der gescheiterte Versuch, die Sozial-, Abenteuer- und Coming-of-Age-Romane des frühen neunzehnten Jahrhunderts durch behäbige Mimikry von den Toten aufzuerwecken. Die "ungeschminkte soziale Realität" ist eingebettet in betuliche Heiligenlegenden, Märchenmotive und makabren Humor. Die Springteufel, Hexen und guten Feen, die in dieser düsteren Spielzeugwelt leben, sind so leblos wie die von Spinnweb überzogenen Mumien, Wachspuppen, in Paraffin eingelegten und ausgestopften Missgeburten einer viktorianischen Rumpelwunderkammer.

Tinti, in der Hexenstadt Salem mit Grimms Märchen aufgewachsen, kann den Grusel- und Märchenton der alten Vorlagen perfekt imitieren: Die Achterbahnfahrten des Schicksals auf dem Rummelplatz des Frühkapitalismus enden stilecht in einem leicht verkitschten Happy End. Nur eines fehlt diesem Waisenkindroman: die Seele, wenigstens ein Muster, das diesen Flickenteppich aus Secondhand-Fummeln strukturieren könnte. Tinti gräbt bei Dickens, Robert Louis Stevensons "Leichenräubern" und natürlich auch bei Huckleberry Finn und Tom Sawyer. Sie flickt die ausgebuddelten Leichenteile mit gemütlicher Brutalität, biederen Merksprüchen und sentimentalem Kitt zusammen, steckt sie in abenteuerliche Kostüme und nostalgische Kulissen, aber ihre "Linke Hand" bleibt doch nur ein an Leib und Seele amputiertes Frankenstein-Monster.

MARTIN HALTER

Hannah Tinti: "Die linke Hand". Roman. Aus dem Amerikanischen von Irene Rumler. Luchterhand Verlag, München 2009., 367 S., geb., 19,95 [Euro].

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