The original three-volume anthology The Graphic Canon presented the world's classic literature--from ancient times to the late twentieth century--as eye-popping comics, illustrations, and other visual forms. In this follow-up volume, young people's literature through the ages is given new life by the best comics artists and illustrators. Fairy tales, fables, fantastical adventures, young adult novels, swashbuckling yarns, your favorite stories from childhood and your teenage years . . . they're all here, in all their original complexity and strangeness, before they were censored or sanitized.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2013Ist der "Werther" wertlos?
Mach es neu: Die alten "Illustrierten Klassiker" wollten noch reine Lesehilfe sein, jetzt soll große Literatur den Comic adeln: Der erste Band des "Graphic Canon" erscheint auf Deutsch.
Heute erscheint ein fünfhundert Seiten dicker gebundener Comic-Band im Überformat, der nicht nur in einem literarischen Verlag herauskommt (Galiani, Berlin), sondern auch große Literatur sein will. Genauer gesagt: "Weltliteratur als Graphic Novel" oder noch etwas großspuriger mit dem englischen Originaltitel: "The Graphic Canon". Der amerikanische Publizist Russ Kick hat im vergangenen Jahr auf einen Schlag gleich drei solcher Bände herausgebracht, zusammen mehr als 1500 Seiten mit gezeichneten Versionen literarischer Meisterwerke vom Gilgamesch-Epos bis zum Roman "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace. Nun ist der erste Teil ins Deutsche übersetzt; er umfasst Bücher, die vor der Französischen Revolution erschienen sind.
Eine gute Idee angesichts des derzeitigen Booms von Graphic Novels, möchte man meinen, schließlich nimmt Russ Kick diese Bezeichnung wörtlich und damit ernst. Allerdings sind neben Romanen auch Dramen, Komödien, Erzählungen, Gedichte, Briefe und Satiren zu finden. Die meisten Comics wurden eigens für den "Graphic Canon" gezeichnet, und unter den aus anderen Publikationen übernommenen Werken ist keines älter als zwanzig Jahre. So hat man ein Kompendium, das nicht nur einen bebilderten Literaturkanon darstellt, sondern auch ein Generationenporträt heutiger Comic-Zeichner: Was können sie graphisch, und - kaum weniger interessant - was interessiert sie literarisch?
Der Versuch allerdings, große Literatur in Comics zu fassen, ist nicht neu. Er ist vielmehr so alt wie die Verachtung der Bildergeschichten. Solange die Comics in Zeitungen abgedruckt wurden und sich damit an ein erwachsenes Publikum richteten, gab es keine Probleme. Erst als Ende der dreißiger Jahre die Superhelden und damit die neue Form des am Kiosk gehandelten Comic-Hefts mit jugendlicher Zielgruppe populär wurden, wuchs der Widerstand. Amerikanische Elternverbände liefen Sturm gegen eine Erzählform, die ihre Kinder angeblich verdummte. Doch es gab auch Verteidiger. Einer von ihnen war Albert L. Kanter, der 1941 das erste Heft von "Classics Illustrated" publizierte: eine Adaption des Abenteuerromans "Die drei Musketiere" von Alexandre Dumas. Bis 1969 erschienen in dieser Serie fast 170 Hefte mit Comicfassungen des westlichen Literaturkanons; eines der letzten war Goethes "Faust".
Aber "Classics Illustrated", die am Schluss in mehr als zwanzig Ländern erschienen, setzten allein auf den Ruhm der Vorlagen, nicht auf eigenständige Qualitäten. Die Zeichnungen waren bestenfalls solides Handwerk, und mit abwechslungsreicher Seitenarchitektur war gar nicht zu rechnen: Je konventioneller erzählt wurde, desto besser, die Geschichten waren ja außergewöhnlich genug. Homer, Cervantes, Mark Twain oder Jules Verne für die Jugend der Welt - das musste doch reichen.
Es reichte nicht, die Reihe scheiterte, als der Comic sich im Laufe der sechziger Jahre wieder aus der Schmuddelecke befreite und mit Serien wie "Tim und Struppi", "Asterix" oder "Spirou" vor allem in Europa eigene Legenden entstanden waren, an deren Qualität kein Zweifel mehr bestand. Fortan gab es kaum etwas Peinlicheres als Comics, die nach literarischen Erfolgen schielten. Die Zeit der Literaturadaptionen schien ein für alle Mal vorbei. Bis vor etwa fünfzehn Jahren.
Da erschien in Frankreich etwas, was man für völlig unmöglich gehalten und auch "Classics Illustrated" nicht gewagt hatte: eine Comic-Adaption von Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Bis heute arbeitet der Zeichner Stéphane Heuet immer noch daran, länger mittlerweile als Proust selbst. Er hat gerade einmal sechs Alben geschafft, die aber nur die ersten beiden Bände des siebenteiligen Romanzyklus abdecken.
Der Versuch fand geteilte Aufnahme: Die Proustianer waren begeistert, die Comic-Freunde meist entsetzt. Denn Heuet stellte seine Kunst ganz in den Dienst der Vorlage, er interpretierte nicht, er bebilderte - ganz wie ehedem "Classics Illustrated". Doch die Kritiker übersahen, dass er dabei Prousts Anspruch treu bleibt, indem auch er keine Rücksicht auf Umfang und Arbeitsdauer nimmt. Die gezeichnete "Suche nach der verlorenen Zeit" ist ein ebenso maßlos-meisterliches Vorhaben wie das Original.
Mittlerweile ist dank der Welle anspruchsvoller Comics alles vorstellbar. Der "Ulysses" als Comic? Die beiden Amerikaner Robert Berry und John Levitas arbeiten seit einigen Jahren im Netz daran. "Der Mann ohne Eigenschaften"? Er erscheint noch in diesem Monat bei Suhrkamp, gezeichnet von Nicolas Mahler, der schon Thomas Bernhard und Lewis Carroll kongenial in Bilder gesetzt hat. Und nun eben der "Graphic Canon", der noch mehr will, nämlich alles, die ganze Weltliteratur als Comic.
Im ersten Band sind 57 Bücher enthalten (wenn man eine nur aus drei Bildern bestehende "Hamlet"-Adaption mitzählt). Shakespeare ist ansonsten noch viermal vertreten, mit zwei weiteren Stücken und zwei Sonetten. Und eines dieser Gedichte, das berühmte achtzehnte Sonett, ist auch das Meisterstück dieses Auftaktbandes. Robert Berry und John Levitas - ja, die beiden mit der "Ulysses"-Hybris - haben sich eine Auszeit von ihrem Mammutprojekt genommen, um vierzehn Zeilen Text zu zeichnen. Und wie sie das tun, ist allein schon die fünfzig Euro wert, die das Buch kostet: Sie gewinnen Shakespeares großem Hymnus auf die Schönheit eine konsequente Deutung ab, die ganz neu ist. Und sie schaffen es, zu den Versen "Nie prahle Tod, du gingst in seinem Schatten, / In ewigen Reimen ragst du in die Zeit" (so die in der deutschen Ausgabe benutzte Übersetzung von Stefan George) Shakespeares Werk selbst ins Bild zu setzen - ein Virtuosenstück gezeichneter Intertextualität.
So klug sind indes die wenigsten Adaptionen. Abgesehen von dem Problem, dass natürlich nur selten das ganze Original bebildert werden konnte, weil man sonst die fünfhundert Seiten allein für die "Odyssee" gebraucht hätte oder für den "Lear" (der aber immerhin auf dreizehn Seiten mit der kompletten vierten Szene des zweiten Aufzugs vertreten ist), gefallen sich viele Zeichner in bloßer Illustration. Zumal Russ Kick den Begriff "Graphic Novel" derart weit fasst, dass auch ein textloses Einzelbild wie etwa das von Courtney Skinner zu Benjamin Franklins Brief von 1745, in dem er die Vorzüge einer Eheschließung mit reifen Frauen erläutert, hier als Comic durchgeht. Formal hat Kick gar nichts verstanden.
Von Weltliteratur versteht er auch nicht gerade viel. Der erste Band ist noch der beste, denn er enthält immerhin Adaptionen aus siebzehn Sprachräumen. Klar, an Griechenland, Mesopotamien, China oder Indien kommt man nicht vorbei, wenn es um die Frühgeschichte des literarischen Erzählens geht. Aber im zweiten Band sind es dann bei wieder fünfhundert Seiten nur noch fünf Sprachräume: der englische, der französische, der deutsche, der russische und der dänische (Hans Christian Andersen). Das ist ein Witz. Zumal neunzig Prozent der Auswahl auf englische Texte fallen. An deutschen sind nur die Brüder Grimm zweimal vertreten, dazu Heinrich Hoffmanns "Struwwelpeter" und Nietzsches "Zarathustra". Goethe? Fehlanzeige, wie schon im ersten Band, wohin zumindest der "Werther" gehört hätte.
Das ist die größte Crux des Projekts: der Anglozentrismus, der noch dadurch verstärkt wird, dass der amerikanische Herausgeber fast nur amerikanische oder englische Zeichner um Mitwirkung gebeten hat. Der deutsche Galiani-Verlag will dieses zu einseitige Bild korrigieren und durch deutsche Zeichner deutsche Titel ergänzen lassen. Im ersten Band aber hat das nur im Falle des Nibelungenlieds geklappt, das Kat Menschik in drei eindrucksvolle Stimmungsbilder gefasst hat. Eine Graphic Novel ist das aber auch nicht. Man darf gespannt sein, wie es bei den beiden Folgebänden weitergeht, zumal im letzten, der dem zwanzigsten Jahrhundert gewidmet ist und im amerikanischen Original von deutscher Zunge nur zwei Hermann-Hesse-Romane graphisch gelten lässt (dafür aber Nabokovs "Lolita" der "russischen und sowjetischen Literatur" zuschlägt; der Autor dürfte sich im Grabe umdrehen).
Es ist also viel mehr zu tun in der deutschen Ausgabe, als im ersten Band getan wurde. Dazu gehörte auch dringend eine Bearbeitung von Kicks Erläuterungen, die nur geringe Sachkenntnis verraten und vor allem sexuelle Freizügigkeit als Kriterium für die Auswahl angeben. Damit aber werden Autoren wie Franklin oder John Donne vor allem zu Libertins gestempelt, statt ihre literarische Bedeutung herauszustellen, die hierzulande tatsächlich noch der Entdeckung harrt.
Und das ist dann doch wieder ein klarer Vorzug des "Graphic Canon" in seiner arroganten Anglomanie: Man bekommt etliche Autoren und Texte geboten, die man zuvor nicht kannte. Und auch viele Zeichner, für die das gleichfalls gilt. Namhafte Künstler sind die Ausnahme - Will Eisner ist mit einer "Don Quijote"-Adaption vertreten, für die sich selbst die "Classics Illustrated" hätten schämen müssen, Robert Crumb dagegen glänzt mit der Auswahl der zu ihm passenden Tagebücher von James Boswell, ansonsten sind nur Seymour Chwast, Roberta Gregory und Peter Kuper noch einigermaßen berühmt. Aber das ist kein Schaden.
Großartig, allerdings auch teuer wäre es gewesen, hätte Galiani nur Kicks Idee übernommen und einen graphischen Kanon aus deutscher Zeichnersicht erstellen lassen. Dann wäre langsam im gegenseitigen Austausch der Perspektiven ein großes Werk entstanden, indem jeweils in anderen Ländern das übersetzt werden könnte, was auch dort als kanonisch gilt oder eben neu entdeckt würde. Natürlich sollten wir Shakespeare nicht missen. Die Amerikaner aber auch nicht Kafka. Was Weltliteratur ist, glaubten wir zu wissen. Wie man am "Graphic Canon" sieht, muss daran aber noch hart gearbeitet werden. Und am Welt-Comic sowieso.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mach es neu: Die alten "Illustrierten Klassiker" wollten noch reine Lesehilfe sein, jetzt soll große Literatur den Comic adeln: Der erste Band des "Graphic Canon" erscheint auf Deutsch.
Heute erscheint ein fünfhundert Seiten dicker gebundener Comic-Band im Überformat, der nicht nur in einem literarischen Verlag herauskommt (Galiani, Berlin), sondern auch große Literatur sein will. Genauer gesagt: "Weltliteratur als Graphic Novel" oder noch etwas großspuriger mit dem englischen Originaltitel: "The Graphic Canon". Der amerikanische Publizist Russ Kick hat im vergangenen Jahr auf einen Schlag gleich drei solcher Bände herausgebracht, zusammen mehr als 1500 Seiten mit gezeichneten Versionen literarischer Meisterwerke vom Gilgamesch-Epos bis zum Roman "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace. Nun ist der erste Teil ins Deutsche übersetzt; er umfasst Bücher, die vor der Französischen Revolution erschienen sind.
Eine gute Idee angesichts des derzeitigen Booms von Graphic Novels, möchte man meinen, schließlich nimmt Russ Kick diese Bezeichnung wörtlich und damit ernst. Allerdings sind neben Romanen auch Dramen, Komödien, Erzählungen, Gedichte, Briefe und Satiren zu finden. Die meisten Comics wurden eigens für den "Graphic Canon" gezeichnet, und unter den aus anderen Publikationen übernommenen Werken ist keines älter als zwanzig Jahre. So hat man ein Kompendium, das nicht nur einen bebilderten Literaturkanon darstellt, sondern auch ein Generationenporträt heutiger Comic-Zeichner: Was können sie graphisch, und - kaum weniger interessant - was interessiert sie literarisch?
Der Versuch allerdings, große Literatur in Comics zu fassen, ist nicht neu. Er ist vielmehr so alt wie die Verachtung der Bildergeschichten. Solange die Comics in Zeitungen abgedruckt wurden und sich damit an ein erwachsenes Publikum richteten, gab es keine Probleme. Erst als Ende der dreißiger Jahre die Superhelden und damit die neue Form des am Kiosk gehandelten Comic-Hefts mit jugendlicher Zielgruppe populär wurden, wuchs der Widerstand. Amerikanische Elternverbände liefen Sturm gegen eine Erzählform, die ihre Kinder angeblich verdummte. Doch es gab auch Verteidiger. Einer von ihnen war Albert L. Kanter, der 1941 das erste Heft von "Classics Illustrated" publizierte: eine Adaption des Abenteuerromans "Die drei Musketiere" von Alexandre Dumas. Bis 1969 erschienen in dieser Serie fast 170 Hefte mit Comicfassungen des westlichen Literaturkanons; eines der letzten war Goethes "Faust".
Aber "Classics Illustrated", die am Schluss in mehr als zwanzig Ländern erschienen, setzten allein auf den Ruhm der Vorlagen, nicht auf eigenständige Qualitäten. Die Zeichnungen waren bestenfalls solides Handwerk, und mit abwechslungsreicher Seitenarchitektur war gar nicht zu rechnen: Je konventioneller erzählt wurde, desto besser, die Geschichten waren ja außergewöhnlich genug. Homer, Cervantes, Mark Twain oder Jules Verne für die Jugend der Welt - das musste doch reichen.
Es reichte nicht, die Reihe scheiterte, als der Comic sich im Laufe der sechziger Jahre wieder aus der Schmuddelecke befreite und mit Serien wie "Tim und Struppi", "Asterix" oder "Spirou" vor allem in Europa eigene Legenden entstanden waren, an deren Qualität kein Zweifel mehr bestand. Fortan gab es kaum etwas Peinlicheres als Comics, die nach literarischen Erfolgen schielten. Die Zeit der Literaturadaptionen schien ein für alle Mal vorbei. Bis vor etwa fünfzehn Jahren.
Da erschien in Frankreich etwas, was man für völlig unmöglich gehalten und auch "Classics Illustrated" nicht gewagt hatte: eine Comic-Adaption von Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit". Bis heute arbeitet der Zeichner Stéphane Heuet immer noch daran, länger mittlerweile als Proust selbst. Er hat gerade einmal sechs Alben geschafft, die aber nur die ersten beiden Bände des siebenteiligen Romanzyklus abdecken.
Der Versuch fand geteilte Aufnahme: Die Proustianer waren begeistert, die Comic-Freunde meist entsetzt. Denn Heuet stellte seine Kunst ganz in den Dienst der Vorlage, er interpretierte nicht, er bebilderte - ganz wie ehedem "Classics Illustrated". Doch die Kritiker übersahen, dass er dabei Prousts Anspruch treu bleibt, indem auch er keine Rücksicht auf Umfang und Arbeitsdauer nimmt. Die gezeichnete "Suche nach der verlorenen Zeit" ist ein ebenso maßlos-meisterliches Vorhaben wie das Original.
Mittlerweile ist dank der Welle anspruchsvoller Comics alles vorstellbar. Der "Ulysses" als Comic? Die beiden Amerikaner Robert Berry und John Levitas arbeiten seit einigen Jahren im Netz daran. "Der Mann ohne Eigenschaften"? Er erscheint noch in diesem Monat bei Suhrkamp, gezeichnet von Nicolas Mahler, der schon Thomas Bernhard und Lewis Carroll kongenial in Bilder gesetzt hat. Und nun eben der "Graphic Canon", der noch mehr will, nämlich alles, die ganze Weltliteratur als Comic.
Im ersten Band sind 57 Bücher enthalten (wenn man eine nur aus drei Bildern bestehende "Hamlet"-Adaption mitzählt). Shakespeare ist ansonsten noch viermal vertreten, mit zwei weiteren Stücken und zwei Sonetten. Und eines dieser Gedichte, das berühmte achtzehnte Sonett, ist auch das Meisterstück dieses Auftaktbandes. Robert Berry und John Levitas - ja, die beiden mit der "Ulysses"-Hybris - haben sich eine Auszeit von ihrem Mammutprojekt genommen, um vierzehn Zeilen Text zu zeichnen. Und wie sie das tun, ist allein schon die fünfzig Euro wert, die das Buch kostet: Sie gewinnen Shakespeares großem Hymnus auf die Schönheit eine konsequente Deutung ab, die ganz neu ist. Und sie schaffen es, zu den Versen "Nie prahle Tod, du gingst in seinem Schatten, / In ewigen Reimen ragst du in die Zeit" (so die in der deutschen Ausgabe benutzte Übersetzung von Stefan George) Shakespeares Werk selbst ins Bild zu setzen - ein Virtuosenstück gezeichneter Intertextualität.
So klug sind indes die wenigsten Adaptionen. Abgesehen von dem Problem, dass natürlich nur selten das ganze Original bebildert werden konnte, weil man sonst die fünfhundert Seiten allein für die "Odyssee" gebraucht hätte oder für den "Lear" (der aber immerhin auf dreizehn Seiten mit der kompletten vierten Szene des zweiten Aufzugs vertreten ist), gefallen sich viele Zeichner in bloßer Illustration. Zumal Russ Kick den Begriff "Graphic Novel" derart weit fasst, dass auch ein textloses Einzelbild wie etwa das von Courtney Skinner zu Benjamin Franklins Brief von 1745, in dem er die Vorzüge einer Eheschließung mit reifen Frauen erläutert, hier als Comic durchgeht. Formal hat Kick gar nichts verstanden.
Von Weltliteratur versteht er auch nicht gerade viel. Der erste Band ist noch der beste, denn er enthält immerhin Adaptionen aus siebzehn Sprachräumen. Klar, an Griechenland, Mesopotamien, China oder Indien kommt man nicht vorbei, wenn es um die Frühgeschichte des literarischen Erzählens geht. Aber im zweiten Band sind es dann bei wieder fünfhundert Seiten nur noch fünf Sprachräume: der englische, der französische, der deutsche, der russische und der dänische (Hans Christian Andersen). Das ist ein Witz. Zumal neunzig Prozent der Auswahl auf englische Texte fallen. An deutschen sind nur die Brüder Grimm zweimal vertreten, dazu Heinrich Hoffmanns "Struwwelpeter" und Nietzsches "Zarathustra". Goethe? Fehlanzeige, wie schon im ersten Band, wohin zumindest der "Werther" gehört hätte.
Das ist die größte Crux des Projekts: der Anglozentrismus, der noch dadurch verstärkt wird, dass der amerikanische Herausgeber fast nur amerikanische oder englische Zeichner um Mitwirkung gebeten hat. Der deutsche Galiani-Verlag will dieses zu einseitige Bild korrigieren und durch deutsche Zeichner deutsche Titel ergänzen lassen. Im ersten Band aber hat das nur im Falle des Nibelungenlieds geklappt, das Kat Menschik in drei eindrucksvolle Stimmungsbilder gefasst hat. Eine Graphic Novel ist das aber auch nicht. Man darf gespannt sein, wie es bei den beiden Folgebänden weitergeht, zumal im letzten, der dem zwanzigsten Jahrhundert gewidmet ist und im amerikanischen Original von deutscher Zunge nur zwei Hermann-Hesse-Romane graphisch gelten lässt (dafür aber Nabokovs "Lolita" der "russischen und sowjetischen Literatur" zuschlägt; der Autor dürfte sich im Grabe umdrehen).
Es ist also viel mehr zu tun in der deutschen Ausgabe, als im ersten Band getan wurde. Dazu gehörte auch dringend eine Bearbeitung von Kicks Erläuterungen, die nur geringe Sachkenntnis verraten und vor allem sexuelle Freizügigkeit als Kriterium für die Auswahl angeben. Damit aber werden Autoren wie Franklin oder John Donne vor allem zu Libertins gestempelt, statt ihre literarische Bedeutung herauszustellen, die hierzulande tatsächlich noch der Entdeckung harrt.
Und das ist dann doch wieder ein klarer Vorzug des "Graphic Canon" in seiner arroganten Anglomanie: Man bekommt etliche Autoren und Texte geboten, die man zuvor nicht kannte. Und auch viele Zeichner, für die das gleichfalls gilt. Namhafte Künstler sind die Ausnahme - Will Eisner ist mit einer "Don Quijote"-Adaption vertreten, für die sich selbst die "Classics Illustrated" hätten schämen müssen, Robert Crumb dagegen glänzt mit der Auswahl der zu ihm passenden Tagebücher von James Boswell, ansonsten sind nur Seymour Chwast, Roberta Gregory und Peter Kuper noch einigermaßen berühmt. Aber das ist kein Schaden.
Großartig, allerdings auch teuer wäre es gewesen, hätte Galiani nur Kicks Idee übernommen und einen graphischen Kanon aus deutscher Zeichnersicht erstellen lassen. Dann wäre langsam im gegenseitigen Austausch der Perspektiven ein großes Werk entstanden, indem jeweils in anderen Ländern das übersetzt werden könnte, was auch dort als kanonisch gilt oder eben neu entdeckt würde. Natürlich sollten wir Shakespeare nicht missen. Die Amerikaner aber auch nicht Kafka. Was Weltliteratur ist, glaubten wir zu wissen. Wie man am "Graphic Canon" sieht, muss daran aber noch hart gearbeitet werden. Und am Welt-Comic sowieso.
ANDREAS PLATTHAUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"A masterful success. If [Russ Kick would] unleash several other loose Canons, I d be living happily ever after." Print Magazine
"Some of history s most skillful wielding of tales has refused to bend to the false divide between children s and adult storytelling ... On the heels of the year s best children s books comes a magnificent embodiment of that ethos in The Graphic Canon of Children s Literature" Maria Popova, Brain Pickings
"These dazzlingly varied renderings run the gamut from haunting to comical while offering visceral reminders that children's stories are often densely layered, infinitely transposable, and peddle in imagery both macabre and whimsical. It is the unfettered imagination of these stories that make them not only wildly entertaining, but also vessels of forgotten truths." Publishers Weekly (starred review)
"Some of history s most skillful wielding of tales has refused to bend to the false divide between children s and adult storytelling ... On the heels of the year s best children s books comes a magnificent embodiment of that ethos in The Graphic Canon of Children s Literature" Maria Popova, Brain Pickings
"These dazzlingly varied renderings run the gamut from haunting to comical while offering visceral reminders that children's stories are often densely layered, infinitely transposable, and peddle in imagery both macabre and whimsical. It is the unfettered imagination of these stories that make them not only wildly entertaining, but also vessels of forgotten truths." Publishers Weekly (starred review)