Word Smith hat die Schnauze voll und will endlich aller Welt die Wahrheit erzählen: die Wahrheit über das tragikomische Schicksal der Ruppert Mundys, des berüchtigtsten Baseballteams aller Zeiten. Smitty muss es wissen, denn jahrzehntelang hat er als Sportreporter das Team bei all seinen heroischen Niederlagen begleitet. Klar, dass hiermit Roths verrücktestes Buch entstanden ist, eine Parodie auf Amerika.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Letzte Lauf oder Das Ende der freien Welt
Philip Roth vereint Baseball und Literatur / Von Hubert Spiegel
Ach, Baseball! Wer von uns Europäern hätte je dieses Spiel verstanden, geschweige denn die Faszination nachempfinden können, die Millionen Amerikaner in die Stadien ihres Landes treibt? Natürlich gibt es Studien, Aufsätze, Bücher, vermutlich ganze Bibliotheken, in denen man alles erfahren kann, was es über dieses Spiel zu wissen gibt. Aber glaubt denn hierzulande irgend jemand irgend etwas über Baseball wissen zu müssen? Nö.
Es dürfte nicht zuletzt an diesem soliden Desinteresse gelegen haben, daß ein großer Roman des großen amerikanischen Autors Philip Roth länger als ein Vierteljahrhundert auf seine Übersetzung ins Deutsche warten mußte. "The Great American Novel", 1973 im Original erschienen, galt bislang als unübersetzbar. In der Verlagsbranche ist das nicht selten eine höflich-respektvolle Umschreibung für das weitaus häßlichere Wörtchen "unverkäuflich". In diesem Fall dürften beide Aspekte eine Rolle gespielt haben, denn dieser Roman ist ein feinziseliertes Sprachkunstwerk über eine Horde tabaksaftspuckender Halbidioten. Will man so etwas lesen?
Ja, man will. Unbedingt. Denn "The Great American Novel" ist unter den zahlreichen virtuosen und witzigen Romanen, die Philip Roth bislang geschrieben hat, vielleicht der witzigste und virtuoseste. Am Ende dieser 445 Seiten weiß der Leser zwar immer noch nicht, was ein Inning oder ein Stolen Base ist, aber er ist mit diesem eigentümlichen Sport versöhnt, fast beginnt er, ihn zu mögen. Denn nun weiß er, warum ein so durch und durch fades Spiel erfunden werden mußte: Ohne Baseball hätte dieses großartige Buch nicht geschrieben werden können.
Genausowenig wäre es jedoch entstanden ohne die Sehnsucht des Schriftstellers nach dem G.A.R., dem Großen Amerikanischen Roman, dem Über-Buch, das seine Zeit und Epoche wie in einem Kristall einschließt und widerspiegelt. Roths Roman ist ebenso sehr Parodie des G.A.R. wie der Versuch, ihn zu schreiben. Der Erzähler, dem Roth diese gewaltige Aufgabe anvertraut hat, hört auf den Namen Word Smith und ist, wie sein Name sagt, ein "Wortschmied": sprachtrunken, alliterationsbesessen, großmäulig, fanatisch, pathetisch, der Wahrheit verpflichtet, aber der Fiktion verfallen, ein Homer des Baseball, der nichts so sehr haßt wie die Funktionäre der Liga und nichts so sehr fürchtet wie den Buchstaben T: "Tücke, Täuschung, Trug und Tränen, alles schon schlimm genug - aber T wie Tod? O welche Tragik, diese Sache mit dem Sterben. Ich sage euch, auf alles würde ich verzichten, auf Tabak, Tafelfreuden, Tagewerke, Talent, Tändeleien, Tangas, Tanzpartnerinnen, Tapferkeitsmedaillen, Taschenuhren, Taubenbrüstchen, tausend Tavernen, T-bone-Steaks, Teakmöbel, Techtelmechtel, Teegebäck, Teigwaren, Telefon, Temperament, Teppiche, Tequila, Terrinen voll Tomatensuppe, Tête-à-têtes, Tingeltangel, Tippfräuleins, Titel, Tokaier, Träume - ja, sogar auf das Tageslicht könnte ich verzichten, wenn ich nur nicht sterben müßte. Ach, es ist entsetzlich, wenn man so tattrig ist wie ich, stellt euch vor, Fans, tagein tagaus TOD." Da bleibt dem großen Fänger, in dessen Handschuh wir alle enden werden, die Spucke weg.
Man braucht sich nur bewußtzumachen, daß Tod im Englischen Death heißt, also mit einem D beginnt, um eine vage Vorstellung von der beeindruckenden Leistung zu bekommen, die Werner Schmitz mit dieser Übersetzung vollbracht hat. Und man muß nicht jedes Detail geprüft haben, um wissen zu können, daß dieses Buch von Streitfällen wimmeln muß.
Word Smith, genannt Smitty, legendärer Sportreporter, Redenschreiber amerikanischer Präsidenten, Autor der im ganzen Land gelesenen Baseball-Kolumne "Eines Mannes Meinung" und Fan bis in die letzte Faser seines Herzens, liegt mit siebenundachtzig Jahren und strengem Alliterationsverbot in einer Klinik. Dort ringt er mit dem Tod und seinem Manuskript, das er am Ende des Buches dem Großen Vorsitzenden Mao schicken wird, in der Annahme, China sei das einzige Land der Erde, wohin der lange Arm der Liga-Funktionäre und Baseball-Gewaltigen nicht reichen werde. Wie ein Dissident und Verfasser staatsgefährdender Schriften sieht sich Smitty in der Heimat mit Publikationsverbot belegt. Der Greis will das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Landes wie seines Nationalsports niederschreiben: die Wahrheit über die Vertreibung der Ruppert Mundys, des Baseball-Teams von Port Ruppert, Massachusetts, aus ihrem eigenen Stadion, mit der der Niedergang der Patriot League, einer der drei großen Ligen des Landes, eingeleitet wurde. Das Stadion der Mundys, deren Name sich vom Gründervater Glorious Mundy (Ruhm der Welt) herleitet, wird der Army als Einschiffungslager für den Krieg in Übersee überlassen, als Amerika den Kampf gegen Hitler aufnimmt. Mit der Entwurzelung der Mundys, die zunächst als patriotischer Akt gefeiert wird, beginnt der Abstieg der ruhmreichen Mundys zum miserabelsten Team aller Zeiten: ein Sammelbecken für Einbeinige und Kurzatmige, arthrosegeplagte Werfer, an Schlafkrankheit leidende Leftfielder und andere Jammergestalten. Da helfen auch Helden nicht weiter wie Roland Agni, bester Rookie aller Zeiten, oder der große John Baal, Dritter Batter und First-Baseman, auch "Base Baal" genannt. Sie sind die letzte Verbindung zu den großen Zeiten der Mundys, als ein Gott wie Luke "der Launische" Gofannon Baseball-Geschichte schrieb.
Aber was Smitty weiß, will kein anderer wissen, hören, glauben. Denn das Ende der Patriot League ist das Ende des wahren Baseball, ist das Ende des wahren Amerika, ist das Ende der freien Welt. Danach gibt es nur noch Lug und Trug, Heuchelei und Geldgier, Intrige, Subversion, Verrat - und die Literatur.
Sie ist das eigentliche große Thema dieses Buches, von Hemingway, der in einer köstlichen Episode mit Smitty beim Hochseefischen über "Pritschen" (Baseball-Sprache für Angehörige des weiblichen Geschlechts, Synonym für Torte, Tasse, Tussi; Anm. des Rez.) und den G.A.R. debattiert, über Chaucer, Hawthorne und Twain bis zu Melville. Smitty reiht sich in die amerikanische Romantradition ein und führt den Nachweis, daß "Der scharlachrote Buchstabe", "Huckleberry Finns Abenteuer" und "Moby Dick" allesamt große Baseball-Bücher sind: Was soll schließlich aus Huck Finns Freund Jim, dem entlaufenen Negersklaven, geworden sein, wenn nicht der "erste schwarze Ligaspieler", der in die Ruhmeshalle in Cooperstown aufgenommen wurde? "Moby Dick" ist Smittys großes Vorbild: was Melville der Walfang war, ist ihm der Baseball, Port Ruppert ist sein Nantucket, sein Ahab trägt den babylonischen Namen Gil Gamesh und nimmt den diabolischen Weg vom megalomanen Ausnahme-Spieler zum wahnsinnigen, von Rachsucht zerfressenen Trainer. Und Melvilles Ismael, der einzige Überlebende eines großen Schiffbruchs, ist kein anderer als der alte Wortschmied selbst.
Während Smitty im Kapitel über Moby Dick en passant der maroden Menschheit ihr Ende verkündet und die Unbewohnbarkeit eines durch Habgier verwüsteten Planeten prophezeit, verrät er in den Passagen über Hawthorne sein poetisches Rezept zur Herstellung des Meisterwerks. Wo sein Vorgänger aus Neu-England sich auf seine "Fähigkeit zur Phantasie" beruft, verläßt sich Smitty auf einen "Satz Ohren": "Fans, im nachfolgenden Epos steht nicht eine einzige Zeile, die ich nicht entweder selbst vernommen . . . oder von zuverlässigen Informanten erfahren habe, häufig genug von den Beteiligten selbst . . . Du mußt nur zuhören, Nathaniel, dann schreiben die Amerikaner den Großen Amerikanischen Roman für dich." Word Smith, der allhörende Erzähler.
Und Smitty läßt all jene, denen er lauscht, ausführlich zu Wort kommen: Trainer, Spieler, Schiedsrichter, Vereinseigentümer und Liga-Funktionäre. Er begleitet die heimatlosen Spieler der Ruppert Mundys auf ihrer endlosen Tour von Spiel zu Spiel, von Stadion zu Stadion, er ist bei ihnen im Bus und in der Eisenbahn, im Dugout, auf der First Base und in der Umkleidekabine, in Hotels, Kneipen und Bordellen, er reist mit ihnen in die Vergangenheit und träumt mit ihnen ihre Träume. Immer wieder unterbricht Smitty den Erzählfluß, fügt Binnenepisoden ein, unternimmt Ausflüge in die Geschichte seiner Figuren und ihres Sports, zitiert seitenweise aus Zeitungsberichten und einmal auch aus einem im Radio verlesenen Brief, mit dem Bob Yamm, Pinch-Hitter der Kakoola Reapers und erster Zwerg im Profi-Fußball, seinen Rücktritt von der aktiven Laufbahn erklärt.
Perspektiv- und Genrewechsel, Montage, Zitate, eingearbeitete Dramolette und poetologische Exkurse - all das sind Reverenzen an den Roman der klassischen Moderne nicht weniger als an seinen Übervater Lawrence Sterne, dessen "Tristram Shandy" mehr als einmal verstohlen aus dem Dugout dieses Buches blinzelt. Unmöglich, all die Zitate, Anspielungen und Parodien zu entschlüsseln, die Philip Roth kunstvoll miteinander verwoben hat. Und auch das eigene Werk spielt in diesem Geflecht eine Rolle: Wenn der Niedergang der Mundys und der Patriot League sich schließlich als Ergebnis einer kommunistischen, von Moskau gesteuerten Intrige entpuppt, ist das Thema der amerikanischen Paranoia und der Kommunistenhatz unter McCarthy angesprochen, das Roth auch in späteren Büchern immer wieder aufgegriffen hat, zuletzt in "Mein Mann, der Kommunist" (deutsch 1999).
So furios der Auftakt der sich durchaus mit dem Baseball-Prolog von Don DeLillos großartigem Roman "Unterwelt" messen kann, so betrüblich ist das Ende dieses großen amerikanischen Romans. Denn etwas fehlt: ein Glossar. Wer weiß schon, was ein Shortstop ist? Niemand? Ach, Baseball!
Philip Roth: "The Great American Novel". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2000. 445 S., geb., 49,80, DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Philip Roth vereint Baseball und Literatur / Von Hubert Spiegel
Ach, Baseball! Wer von uns Europäern hätte je dieses Spiel verstanden, geschweige denn die Faszination nachempfinden können, die Millionen Amerikaner in die Stadien ihres Landes treibt? Natürlich gibt es Studien, Aufsätze, Bücher, vermutlich ganze Bibliotheken, in denen man alles erfahren kann, was es über dieses Spiel zu wissen gibt. Aber glaubt denn hierzulande irgend jemand irgend etwas über Baseball wissen zu müssen? Nö.
Es dürfte nicht zuletzt an diesem soliden Desinteresse gelegen haben, daß ein großer Roman des großen amerikanischen Autors Philip Roth länger als ein Vierteljahrhundert auf seine Übersetzung ins Deutsche warten mußte. "The Great American Novel", 1973 im Original erschienen, galt bislang als unübersetzbar. In der Verlagsbranche ist das nicht selten eine höflich-respektvolle Umschreibung für das weitaus häßlichere Wörtchen "unverkäuflich". In diesem Fall dürften beide Aspekte eine Rolle gespielt haben, denn dieser Roman ist ein feinziseliertes Sprachkunstwerk über eine Horde tabaksaftspuckender Halbidioten. Will man so etwas lesen?
Ja, man will. Unbedingt. Denn "The Great American Novel" ist unter den zahlreichen virtuosen und witzigen Romanen, die Philip Roth bislang geschrieben hat, vielleicht der witzigste und virtuoseste. Am Ende dieser 445 Seiten weiß der Leser zwar immer noch nicht, was ein Inning oder ein Stolen Base ist, aber er ist mit diesem eigentümlichen Sport versöhnt, fast beginnt er, ihn zu mögen. Denn nun weiß er, warum ein so durch und durch fades Spiel erfunden werden mußte: Ohne Baseball hätte dieses großartige Buch nicht geschrieben werden können.
Genausowenig wäre es jedoch entstanden ohne die Sehnsucht des Schriftstellers nach dem G.A.R., dem Großen Amerikanischen Roman, dem Über-Buch, das seine Zeit und Epoche wie in einem Kristall einschließt und widerspiegelt. Roths Roman ist ebenso sehr Parodie des G.A.R. wie der Versuch, ihn zu schreiben. Der Erzähler, dem Roth diese gewaltige Aufgabe anvertraut hat, hört auf den Namen Word Smith und ist, wie sein Name sagt, ein "Wortschmied": sprachtrunken, alliterationsbesessen, großmäulig, fanatisch, pathetisch, der Wahrheit verpflichtet, aber der Fiktion verfallen, ein Homer des Baseball, der nichts so sehr haßt wie die Funktionäre der Liga und nichts so sehr fürchtet wie den Buchstaben T: "Tücke, Täuschung, Trug und Tränen, alles schon schlimm genug - aber T wie Tod? O welche Tragik, diese Sache mit dem Sterben. Ich sage euch, auf alles würde ich verzichten, auf Tabak, Tafelfreuden, Tagewerke, Talent, Tändeleien, Tangas, Tanzpartnerinnen, Tapferkeitsmedaillen, Taschenuhren, Taubenbrüstchen, tausend Tavernen, T-bone-Steaks, Teakmöbel, Techtelmechtel, Teegebäck, Teigwaren, Telefon, Temperament, Teppiche, Tequila, Terrinen voll Tomatensuppe, Tête-à-têtes, Tingeltangel, Tippfräuleins, Titel, Tokaier, Träume - ja, sogar auf das Tageslicht könnte ich verzichten, wenn ich nur nicht sterben müßte. Ach, es ist entsetzlich, wenn man so tattrig ist wie ich, stellt euch vor, Fans, tagein tagaus TOD." Da bleibt dem großen Fänger, in dessen Handschuh wir alle enden werden, die Spucke weg.
Man braucht sich nur bewußtzumachen, daß Tod im Englischen Death heißt, also mit einem D beginnt, um eine vage Vorstellung von der beeindruckenden Leistung zu bekommen, die Werner Schmitz mit dieser Übersetzung vollbracht hat. Und man muß nicht jedes Detail geprüft haben, um wissen zu können, daß dieses Buch von Streitfällen wimmeln muß.
Word Smith, genannt Smitty, legendärer Sportreporter, Redenschreiber amerikanischer Präsidenten, Autor der im ganzen Land gelesenen Baseball-Kolumne "Eines Mannes Meinung" und Fan bis in die letzte Faser seines Herzens, liegt mit siebenundachtzig Jahren und strengem Alliterationsverbot in einer Klinik. Dort ringt er mit dem Tod und seinem Manuskript, das er am Ende des Buches dem Großen Vorsitzenden Mao schicken wird, in der Annahme, China sei das einzige Land der Erde, wohin der lange Arm der Liga-Funktionäre und Baseball-Gewaltigen nicht reichen werde. Wie ein Dissident und Verfasser staatsgefährdender Schriften sieht sich Smitty in der Heimat mit Publikationsverbot belegt. Der Greis will das dunkelste Kapitel in der Geschichte des Landes wie seines Nationalsports niederschreiben: die Wahrheit über die Vertreibung der Ruppert Mundys, des Baseball-Teams von Port Ruppert, Massachusetts, aus ihrem eigenen Stadion, mit der der Niedergang der Patriot League, einer der drei großen Ligen des Landes, eingeleitet wurde. Das Stadion der Mundys, deren Name sich vom Gründervater Glorious Mundy (Ruhm der Welt) herleitet, wird der Army als Einschiffungslager für den Krieg in Übersee überlassen, als Amerika den Kampf gegen Hitler aufnimmt. Mit der Entwurzelung der Mundys, die zunächst als patriotischer Akt gefeiert wird, beginnt der Abstieg der ruhmreichen Mundys zum miserabelsten Team aller Zeiten: ein Sammelbecken für Einbeinige und Kurzatmige, arthrosegeplagte Werfer, an Schlafkrankheit leidende Leftfielder und andere Jammergestalten. Da helfen auch Helden nicht weiter wie Roland Agni, bester Rookie aller Zeiten, oder der große John Baal, Dritter Batter und First-Baseman, auch "Base Baal" genannt. Sie sind die letzte Verbindung zu den großen Zeiten der Mundys, als ein Gott wie Luke "der Launische" Gofannon Baseball-Geschichte schrieb.
Aber was Smitty weiß, will kein anderer wissen, hören, glauben. Denn das Ende der Patriot League ist das Ende des wahren Baseball, ist das Ende des wahren Amerika, ist das Ende der freien Welt. Danach gibt es nur noch Lug und Trug, Heuchelei und Geldgier, Intrige, Subversion, Verrat - und die Literatur.
Sie ist das eigentliche große Thema dieses Buches, von Hemingway, der in einer köstlichen Episode mit Smitty beim Hochseefischen über "Pritschen" (Baseball-Sprache für Angehörige des weiblichen Geschlechts, Synonym für Torte, Tasse, Tussi; Anm. des Rez.) und den G.A.R. debattiert, über Chaucer, Hawthorne und Twain bis zu Melville. Smitty reiht sich in die amerikanische Romantradition ein und führt den Nachweis, daß "Der scharlachrote Buchstabe", "Huckleberry Finns Abenteuer" und "Moby Dick" allesamt große Baseball-Bücher sind: Was soll schließlich aus Huck Finns Freund Jim, dem entlaufenen Negersklaven, geworden sein, wenn nicht der "erste schwarze Ligaspieler", der in die Ruhmeshalle in Cooperstown aufgenommen wurde? "Moby Dick" ist Smittys großes Vorbild: was Melville der Walfang war, ist ihm der Baseball, Port Ruppert ist sein Nantucket, sein Ahab trägt den babylonischen Namen Gil Gamesh und nimmt den diabolischen Weg vom megalomanen Ausnahme-Spieler zum wahnsinnigen, von Rachsucht zerfressenen Trainer. Und Melvilles Ismael, der einzige Überlebende eines großen Schiffbruchs, ist kein anderer als der alte Wortschmied selbst.
Während Smitty im Kapitel über Moby Dick en passant der maroden Menschheit ihr Ende verkündet und die Unbewohnbarkeit eines durch Habgier verwüsteten Planeten prophezeit, verrät er in den Passagen über Hawthorne sein poetisches Rezept zur Herstellung des Meisterwerks. Wo sein Vorgänger aus Neu-England sich auf seine "Fähigkeit zur Phantasie" beruft, verläßt sich Smitty auf einen "Satz Ohren": "Fans, im nachfolgenden Epos steht nicht eine einzige Zeile, die ich nicht entweder selbst vernommen . . . oder von zuverlässigen Informanten erfahren habe, häufig genug von den Beteiligten selbst . . . Du mußt nur zuhören, Nathaniel, dann schreiben die Amerikaner den Großen Amerikanischen Roman für dich." Word Smith, der allhörende Erzähler.
Und Smitty läßt all jene, denen er lauscht, ausführlich zu Wort kommen: Trainer, Spieler, Schiedsrichter, Vereinseigentümer und Liga-Funktionäre. Er begleitet die heimatlosen Spieler der Ruppert Mundys auf ihrer endlosen Tour von Spiel zu Spiel, von Stadion zu Stadion, er ist bei ihnen im Bus und in der Eisenbahn, im Dugout, auf der First Base und in der Umkleidekabine, in Hotels, Kneipen und Bordellen, er reist mit ihnen in die Vergangenheit und träumt mit ihnen ihre Träume. Immer wieder unterbricht Smitty den Erzählfluß, fügt Binnenepisoden ein, unternimmt Ausflüge in die Geschichte seiner Figuren und ihres Sports, zitiert seitenweise aus Zeitungsberichten und einmal auch aus einem im Radio verlesenen Brief, mit dem Bob Yamm, Pinch-Hitter der Kakoola Reapers und erster Zwerg im Profi-Fußball, seinen Rücktritt von der aktiven Laufbahn erklärt.
Perspektiv- und Genrewechsel, Montage, Zitate, eingearbeitete Dramolette und poetologische Exkurse - all das sind Reverenzen an den Roman der klassischen Moderne nicht weniger als an seinen Übervater Lawrence Sterne, dessen "Tristram Shandy" mehr als einmal verstohlen aus dem Dugout dieses Buches blinzelt. Unmöglich, all die Zitate, Anspielungen und Parodien zu entschlüsseln, die Philip Roth kunstvoll miteinander verwoben hat. Und auch das eigene Werk spielt in diesem Geflecht eine Rolle: Wenn der Niedergang der Mundys und der Patriot League sich schließlich als Ergebnis einer kommunistischen, von Moskau gesteuerten Intrige entpuppt, ist das Thema der amerikanischen Paranoia und der Kommunistenhatz unter McCarthy angesprochen, das Roth auch in späteren Büchern immer wieder aufgegriffen hat, zuletzt in "Mein Mann, der Kommunist" (deutsch 1999).
So furios der Auftakt der sich durchaus mit dem Baseball-Prolog von Don DeLillos großartigem Roman "Unterwelt" messen kann, so betrüblich ist das Ende dieses großen amerikanischen Romans. Denn etwas fehlt: ein Glossar. Wer weiß schon, was ein Shortstop ist? Niemand? Ach, Baseball!
Philip Roth: "The Great American Novel". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Schmitz. Carl Hanser Verlag, München und Wien 2000. 445 S., geb., 49,80, DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Baseball und amerikanische Träume
Wer das jüngste Epos von Roth gelesen hat, Der menschliche Makel, großartig komponiert, geschrieben und übersetzt, und sich durch den Anfang des vorliegenden Werks arbeitet, darf fragen, ob beides aus derselben Werkstatt stammt. Ja. Doch dazwischen liegen 30 Jahre. Rowohlt hat nun The Great American Novel noch einmal aufgelegt. Bewunderer der Sprachkunst Roths wird es freuen und auch die Leser, denen der amerikanische Nationalsport Baseball näher ist als der gewöhnliche Fußball.
Wer ist Word Smith?
Roth lässt die Geschichte um einen alten Herrn kreisen, einen ehemaligen Sportreporter, der nach 80 Jahren auf sein Leben, auf Baseball und das einst berühmteste Team dieses Sports zurückblickt. Word Smith heißt der Held, dessen Erscheinung der Autor so beschreibt: "Kurzatmig, kurzschlüssig, kurzsichtig mag er ja sein, steifgelenkig, weinbäuchig, schwachblasig und so runter bis zu den Pantoffeln, anämisch, arthritisch, diabetisch, dyspeptisch, sklerotisch...", aber noch ist er nicht ganz am Boden."
Fischen mit Hemingway
Aus der Erinnerung will Smith den Great American Novel schreiben. Dass daraus nichts wird, lässt Roth schnell erkennen: Beim Fischen vor der Küste Floridas sagt Ernest Hemingway mit der ihm eigenen Bescheidenheit, dass der große amerikanische Roman noch nicht geschrieben ist: "Weil, wenn überhaupt einer, Papa (Hemingway, Anm. Red.)ihn schreiben wird und keiner von diesen versoffenen Sportjournalisten mit ihren hübschen Häuschen an einem verträumten Waldsee."
(Mathias Voigt, literaturtest.de)
Wer das jüngste Epos von Roth gelesen hat, Der menschliche Makel, großartig komponiert, geschrieben und übersetzt, und sich durch den Anfang des vorliegenden Werks arbeitet, darf fragen, ob beides aus derselben Werkstatt stammt. Ja. Doch dazwischen liegen 30 Jahre. Rowohlt hat nun The Great American Novel noch einmal aufgelegt. Bewunderer der Sprachkunst Roths wird es freuen und auch die Leser, denen der amerikanische Nationalsport Baseball näher ist als der gewöhnliche Fußball.
Wer ist Word Smith?
Roth lässt die Geschichte um einen alten Herrn kreisen, einen ehemaligen Sportreporter, der nach 80 Jahren auf sein Leben, auf Baseball und das einst berühmteste Team dieses Sports zurückblickt. Word Smith heißt der Held, dessen Erscheinung der Autor so beschreibt: "Kurzatmig, kurzschlüssig, kurzsichtig mag er ja sein, steifgelenkig, weinbäuchig, schwachblasig und so runter bis zu den Pantoffeln, anämisch, arthritisch, diabetisch, dyspeptisch, sklerotisch...", aber noch ist er nicht ganz am Boden."
Fischen mit Hemingway
Aus der Erinnerung will Smith den Great American Novel schreiben. Dass daraus nichts wird, lässt Roth schnell erkennen: Beim Fischen vor der Küste Floridas sagt Ernest Hemingway mit der ihm eigenen Bescheidenheit, dass der große amerikanische Roman noch nicht geschrieben ist: "Weil, wenn überhaupt einer, Papa (Hemingway, Anm. Red.)ihn schreiben wird und keiner von diesen versoffenen Sportjournalisten mit ihren hübschen Häuschen an einem verträumten Waldsee."
(Mathias Voigt, literaturtest.de)