Produktdetails
- Verlag: Import / Penguin UK
- Seitenzahl: 90
- Englisch
- Abmessung: 180mm
- Gewicht: 62g
- ISBN-13: 9780140258608
- Artikelnr.: 26245806
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.1996Vor Gericht
"Die grüne Meile": Stephen Kings Sechstagewerk
In sechs Fortsetzungen erscheint seit März Stephen Kings Roman "The Green Mile", in jedem Monat eine, für runde fünf Mark. Das letzte Heft ist für den 27. August angekündigt. Fast 700000 Exemplare werden allein im deutschen Sprachraum von jeder Folge verkauft, und die Zahl der Leser nimmt offenbar kaum ab. In den Vereinigten Staaten belegen die Folgen dieses Romans vier vordere Plätze auf der Bestsellerliste, und gedruckt werden dort jeweils drei Millionen Exemplare. Es gibt eine Adresse im Internet (http://greenmile.iconnect/index.html), und der deutsche Verlag hat einen Telefondienst eingerichtet, um die Ungeduld auch richtig wirken zu lassen. Wenn man dort anruft, erfährt man, daß der letzte Teil Aufklärung bringen soll. Das tut er gewiß, und es wird sein wie immer: Am Ende wird es eine Enttäuschung geben, weil das Grauen zeigen muß, was es tatsächlich ist.
In der Präambel bekennt sich King zum Format des "chapbook", der Lieferung eines Romans in Episoden, wie es im neunzehnten Jahrhundert üblich war, als die großen Schriftsteller auch die großen Unterhalter waren. Die Portionierung der Lektüre kommt dem Lauf einer Horror-Geschichte entgegen. Denn nirgendwo ist der Drang zur Auflösung stärker. Das Unheimliche muß sich offenbaren, und während der Leser, womöglich unter Auslassung ganzer Passagen, zum Ende hin hastet, muß der Autor ein Interesse daran haben, diese Eile zu bremsen und die Verzögerung spannend zu gestalten. "Mysteries" erhalten dadurch einen fast liturgischen Charakter. "Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veröffentlicht wird", erklärt Stephen King, "gewinnt der Schriftsteller eine Überlegenheit über den Leser, die er sonst nicht genießen kann: einfach gesagt, treue Leser." Die Zahl der verkauften Exemplare ist daher mehr als nur ein ökonomischer Erfolg: die Beglaubigung eines Bundes.
"Die grüne Meile" spielt im Gefängnis von Cold Mountain zur Zeit der großen Wirtschaftskrise in den frühen dreißiger Jahren, in einer menschenarmen Gegend im Süden der Vereinigten Staaten. Der Titel bezieht sich auf den Linoleumfußboden im Block E. Auf ihm gehen die zum Tode Verurteilten zum Schuppen, wo "Old Sparky" steht, der elektrische Stuhl. In diesem stillen Winkel, den der Erzähler, der Wärter Paul Edgecombe, in all seiner absurden Alltäglichkeit schildert, zieht nach und nach das Wunderbare ein. Es beginnt sehr unscheinbar: ein unerwarteter Handschlag zwischen dem Beamten und seinem Gefangenen, eine Bosheit ohne Motiv, eine ungewöhnlich gelehrige, ja menschenähnlich agierende Maus. Dann eskalieren die sonderbaren Ereignisse, aber so, daß sie nie wirklich überraschend kommen. Die Normalität wird nicht aufgehoben. Sie weitet sich nur aus, und in dieser schleichenden Besiedlung eines prosaischen Kontinents mit Schamanen, Dämonen und Wiedergängern liegt die handwerkliche Leistung Kings.
Der Meister bewegt sich auf bekanntem Terrain; denn er trägt das Mittelalter mit seinen Heils- und Schreckensvisionen in die bilderarme Welt der modernen Puritaner. Deshalb wirken seine Gestalten selbst dort, wo sie furchtbar sein sollen, so vertraut. Man hat sie alle schon gesehen. "The Green Mile" ist besonders christlich: Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Christus, der den Körper eines großen, dummen Schwarzen angenommen hat und zwei Mädchen ermordet haben soll. "In gewisser Weise war es, als trauerte er um die ganze Welt, ein zu großes Gefühl, um es jemals ganz auszulöschen." Der Schwarze weiß, was er nicht wissen kann; er heilt einen Blasenkatarrh und einen Hirntumor. Er erweckt die totgequetschte Maus. Die Züge einer Heilsgeschichte trägt am Ende auch der Roman selbst - in seinen sechs Teilen, und am siebten Tage wird der Schöpfer ruhen. Nur, daß Errettung und Verdammung schon vor dem Jüngsten Gericht stattfinden. "Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht", hatte Christus dem Mann aus Kapernaum vorgeworfen. Zeichen und Wunder aber sind alles, was bei Stephen King vom Glauben bleibt.
Warum muß ein Indianer, der im Rausch mit einem Stammesbruder stritt und ihm versehentlich den Schädel einschlug, hingerichtet werden? Warum soll eine Frau an Krebs sterben, wenn ihr Mann sie doch liebt? Warum leidet der Wärter an einem Blasenkatarrh, während es schlechteren Menschen gut geht? Wie kommt das Böse in die Welt? Auf solche Fragen geben Stephen Kings Wunder eine Antwort, indem sie den Lauf eines abgrundtief ungerechten Schicksals korrigieren. Den einen erwischt es, den anderen nicht, und keiner kennt den Grund. "Ich war plötzlich davon überzeugt, daß etwas Schreckliches passieren würde", berichtet der Wärter in der nicht immer geschickten Übersetzung, "das unseren geplanten Verlauf dieses frühen Morgens so völlig verändern würde, wie ein Erdbeben den Verlauf eines Flusses verändern kann." Sich so auf unerklärliche Weise ins Unglück getrieben zu fühlen: das heißt Grauen, und um ihm einen Sinn zu geben, wird das Prinzip des Bösen und des Guten neu erfunden - irdisch, ohne Verheißung und ohne höhere Gerechtigkeit. Kings Horrorgeschichten beschreiben eine religiöse Welt nach dem Ende des Christentums. Auch das gehört zu ihrem Erfolg.
Drei Wochen sind eine lange Zeit. Daß am Ende eine Katastrophe steht, die für einige der Figuren auch eine Erlösung darstellt, weiß jeder, der einmal eines der holzschnittartig gefertigten Bücher Stephen Kings gelesen hat. Am Ende von "The Green Mile" müßte die Auferstehung kommen. THOMAS STEINFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Die grüne Meile": Stephen Kings Sechstagewerk
In sechs Fortsetzungen erscheint seit März Stephen Kings Roman "The Green Mile", in jedem Monat eine, für runde fünf Mark. Das letzte Heft ist für den 27. August angekündigt. Fast 700000 Exemplare werden allein im deutschen Sprachraum von jeder Folge verkauft, und die Zahl der Leser nimmt offenbar kaum ab. In den Vereinigten Staaten belegen die Folgen dieses Romans vier vordere Plätze auf der Bestsellerliste, und gedruckt werden dort jeweils drei Millionen Exemplare. Es gibt eine Adresse im Internet (http://greenmile.iconnect/index.html), und der deutsche Verlag hat einen Telefondienst eingerichtet, um die Ungeduld auch richtig wirken zu lassen. Wenn man dort anruft, erfährt man, daß der letzte Teil Aufklärung bringen soll. Das tut er gewiß, und es wird sein wie immer: Am Ende wird es eine Enttäuschung geben, weil das Grauen zeigen muß, was es tatsächlich ist.
In der Präambel bekennt sich King zum Format des "chapbook", der Lieferung eines Romans in Episoden, wie es im neunzehnten Jahrhundert üblich war, als die großen Schriftsteller auch die großen Unterhalter waren. Die Portionierung der Lektüre kommt dem Lauf einer Horror-Geschichte entgegen. Denn nirgendwo ist der Drang zur Auflösung stärker. Das Unheimliche muß sich offenbaren, und während der Leser, womöglich unter Auslassung ganzer Passagen, zum Ende hin hastet, muß der Autor ein Interesse daran haben, diese Eile zu bremsen und die Verzögerung spannend zu gestalten. "Mysteries" erhalten dadurch einen fast liturgischen Charakter. "Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veröffentlicht wird", erklärt Stephen King, "gewinnt der Schriftsteller eine Überlegenheit über den Leser, die er sonst nicht genießen kann: einfach gesagt, treue Leser." Die Zahl der verkauften Exemplare ist daher mehr als nur ein ökonomischer Erfolg: die Beglaubigung eines Bundes.
"Die grüne Meile" spielt im Gefängnis von Cold Mountain zur Zeit der großen Wirtschaftskrise in den frühen dreißiger Jahren, in einer menschenarmen Gegend im Süden der Vereinigten Staaten. Der Titel bezieht sich auf den Linoleumfußboden im Block E. Auf ihm gehen die zum Tode Verurteilten zum Schuppen, wo "Old Sparky" steht, der elektrische Stuhl. In diesem stillen Winkel, den der Erzähler, der Wärter Paul Edgecombe, in all seiner absurden Alltäglichkeit schildert, zieht nach und nach das Wunderbare ein. Es beginnt sehr unscheinbar: ein unerwarteter Handschlag zwischen dem Beamten und seinem Gefangenen, eine Bosheit ohne Motiv, eine ungewöhnlich gelehrige, ja menschenähnlich agierende Maus. Dann eskalieren die sonderbaren Ereignisse, aber so, daß sie nie wirklich überraschend kommen. Die Normalität wird nicht aufgehoben. Sie weitet sich nur aus, und in dieser schleichenden Besiedlung eines prosaischen Kontinents mit Schamanen, Dämonen und Wiedergängern liegt die handwerkliche Leistung Kings.
Der Meister bewegt sich auf bekanntem Terrain; denn er trägt das Mittelalter mit seinen Heils- und Schreckensvisionen in die bilderarme Welt der modernen Puritaner. Deshalb wirken seine Gestalten selbst dort, wo sie furchtbar sein sollen, so vertraut. Man hat sie alle schon gesehen. "The Green Mile" ist besonders christlich: Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Christus, der den Körper eines großen, dummen Schwarzen angenommen hat und zwei Mädchen ermordet haben soll. "In gewisser Weise war es, als trauerte er um die ganze Welt, ein zu großes Gefühl, um es jemals ganz auszulöschen." Der Schwarze weiß, was er nicht wissen kann; er heilt einen Blasenkatarrh und einen Hirntumor. Er erweckt die totgequetschte Maus. Die Züge einer Heilsgeschichte trägt am Ende auch der Roman selbst - in seinen sechs Teilen, und am siebten Tage wird der Schöpfer ruhen. Nur, daß Errettung und Verdammung schon vor dem Jüngsten Gericht stattfinden. "Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder sehet, so glaubet ihr nicht", hatte Christus dem Mann aus Kapernaum vorgeworfen. Zeichen und Wunder aber sind alles, was bei Stephen King vom Glauben bleibt.
Warum muß ein Indianer, der im Rausch mit einem Stammesbruder stritt und ihm versehentlich den Schädel einschlug, hingerichtet werden? Warum soll eine Frau an Krebs sterben, wenn ihr Mann sie doch liebt? Warum leidet der Wärter an einem Blasenkatarrh, während es schlechteren Menschen gut geht? Wie kommt das Böse in die Welt? Auf solche Fragen geben Stephen Kings Wunder eine Antwort, indem sie den Lauf eines abgrundtief ungerechten Schicksals korrigieren. Den einen erwischt es, den anderen nicht, und keiner kennt den Grund. "Ich war plötzlich davon überzeugt, daß etwas Schreckliches passieren würde", berichtet der Wärter in der nicht immer geschickten Übersetzung, "das unseren geplanten Verlauf dieses frühen Morgens so völlig verändern würde, wie ein Erdbeben den Verlauf eines Flusses verändern kann." Sich so auf unerklärliche Weise ins Unglück getrieben zu fühlen: das heißt Grauen, und um ihm einen Sinn zu geben, wird das Prinzip des Bösen und des Guten neu erfunden - irdisch, ohne Verheißung und ohne höhere Gerechtigkeit. Kings Horrorgeschichten beschreiben eine religiöse Welt nach dem Ende des Christentums. Auch das gehört zu ihrem Erfolg.
Drei Wochen sind eine lange Zeit. Daß am Ende eine Katastrophe steht, die für einige der Figuren auch eine Erlösung darstellt, weiß jeder, der einmal eines der holzschnittartig gefertigten Bücher Stephen Kings gelesen hat. Am Ende von "The Green Mile" müßte die Auferstehung kommen. THOMAS STEINFELD
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main