Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2016Globale Verteilung
Wo sind die Gewinner, wo die Verlierer?
Branko Milanovic hatte lange für die Weltbank gearbeitet und ist jetzt Senior Scholar am Luxembourg Income Study Center. In seinem aktuellen Buch stellt er die Frage, was die Globalisierung für die globale Einkommensverteilung bedeutet. Dabei greift er ein von anderen Ökonomen diskutiertes Problem nicht auf, nämlich ob der technologische Wandel oder die Globalisierung im engeren Sinne, also globale Fertigungsketten und zunehmender Handel oder freier Kapitalverkehr, die Hauptursache der Veränderungen der Verteilung ist. Denn diese Frage hält er letztlich für nicht entscheidbar.
Der technologische Wandel ist in seinem Globalisierungsbegriff enthalten. Wo immer es die Daten erlauben, geht es Milanovic um kaufkraftbereinigte und verfügbare Einkommen (nach Steuern und Transfers). Gleich im ersten Kapitel zeigt er für die zwei Jahrzehnte vor der Finanzkrise, dass vor allem die globale Mittelklasse hohe Einkommenszuwächse verzeichnen konnte, dass die untere Mittelschicht in den reichen Ländern - in der Nähe des 80. Einkommensperzentils, global gesehen - kaum dazugewonnen hat, dass auch die Reichen, das oberste Perzentil, oder erst recht die globalen Plutokraten, die weit weniger als ein Prozent des obersten Perzentils ausmachen, viel dazugewonnen haben. Der Begriff "Perzentil" kommt aus dem Lateinischen und beschreibt Hundertstelwerte. Mit Perzentilen wird die Verteilung in Segmente von jeweils 1 Prozent aufgeteilt.
Die globale Mittelklasse lebt meist in Asien, vor allem in China. Wenn man nicht auf die prozentualen Einkommenszuwächse, sondern auf die absoluten Einkommenszuwächse schaut, dann sieht das Bild natürlich anders aus, denn hohe prozentuale Zuwächse, fast eine Verdoppelung, in der Nähe des Median-Einkommens ändern nichts daran, dass sogar das 80. Einkommensperzentil absolut immer noch höhere Einkommenszuwächse erzielt hat. Obwohl seine Schaubilder das eindeutig zeigen, hebt Milanovic diese Tatsache nicht besonders hervor, sondern behandelt die untere Mittelklasse der reichen Länder beziehungsweise des nordatlantischen Raums als Globalisierungsverlierer.
Man kann die globale Einkommensverteilung in zwei Komponenten zerlegen: Ungleichheit zwischen den nationalen Durchschnittseinkommen und Ungleichheit innerhalb von Nationen. Im zweiten Kapitel behandelt Milanovic zunächst die Ungleichheit innerhalb von Volkswirtschaften. Der klassische Erklärungsansatz stammt von Simon Kuznets, wonach der mit der Industrialisierung begonnene Strukturwandel zunächst die Ungleichheit vergrößert hat, später aber die Ungleichheit abgenommen hat, wobei in den westlichen Gesellschaften der Höhepunkt der Ungleichheit in der Nähe des Wechsels vom 19. ins 20. Jahrhundert liegt.
Anfangs hat der Übergang aus der Landwirtschaft mit niedrigeren und ähnlicheren Einkommen in die Industrie mit höheren und ungleicheren Einkommen für zunehmende Ungleichheit gesorgt. Bei der Trendumkehr haben auch Kriege und die damit verbundene Kapital- und Vermögensvernichtung sowie staatliche Sozialpolitik eine Rolle gespielt. Seit etwa dem Jahr 1980 oder mit der Globalisierung und Digitalisierung hat sich der egalitäre Trend im Westen in sein Gegenteil verwandelt, wenn auch nicht in allen Ländern gleichermaßen, in den Vereinigten Staaten etwa wesentlich stärker als in Deutschland.
Milanovic spricht daher nicht mehr von einer Kuznets-Kurve, sondern von Kuznets-Wellen, wobei technologischer Wandel und Globalisierung jetzt zum Abbau von vielen ähnlich gut bezahlten Industriearbeitsplätzen und zum Aufbau von sehr unähnlich bezahlten Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor der reichen Länder geführt haben. Seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher hat die Politik nicht mehr dagegengehalten.
Im dritten Kapitel wird die Ungleichheit zwischen Nationen behandelt. Die hat während des 19. und 20. Jahrhunderts durch das schnelle Wachstum des nordatlantischen Raums, des Westens, zugenommen, nimmt aber seit der Jahrtausendwende ab. Während im 18. Jahrhundert die Klassenlage die materiellen Lebensbedingungen der Menschen bestimmte, war es im 19. und 20. Jahrhundert vorwiegend die Nationalität oder Staatsangehörigkeit. Milanovic spricht hier von einer Bürgerschaftsrente. Mitte des 20. Jahrhunderts waren 80 Prozent der Einkommensunterschiede zwischen den Menschen durch die Ungleichheit der Durchschnittseinkommen zwischen Ländern und nur 20 Prozent durch intranationale Einkommensunterschiede erklärbar. Vor allem für Menschen in unteren Einkommensschichten ist die Bürgerschaftsrente bedeutsam, denn bei einfachen Tätigkeiten sind die Lohnunterschiede zwischen reichen und armen Ländern viel höher als bei hochqualifizierten.
Während die ersten drei Kapitel sich mit Daten und deren theoretischer Erklärung beschäftigen, bietet der Schluss spekulative Ausblicke und normative Überlegungen. Dabei tritt Milanovic für offenere Grenzen der reichen Gesellschaften für Menschen aus armen Ländern ein. Er befürchtet plutokratische Abwege in der politischen Entwicklung der Vereinigten Staaten und rechtspopulistische in Europa. In den Vereinigten Staaten sieht er die Aushöhlung der Demokratie, in Europa Widerstände gegen die Globalisierung.
Das Buch ist gut lesbar und verlangt keine Vorkenntnisse. Es ist vor allem in den ersten Kapiteln unbedingt empfehlenswert. Sowohl bei Milanovics Bemerkungen zum Ersten Weltkrieg und seinen Verweisen auf marxistische Imperialismustheorien als auch bei seinen abschließenden Überlegungen merkt man, dass Milanovic in den Nachbardisziplinen der Ökonomik, ja sogar in der Institutionenökonomik, nicht wirklich zu Hause ist. Aber punktuelle Schwächen ändern nichts daran, dass Milanovic ein unbedingt lesenswertes Werk gelungen ist.
ERICH WEEDE
Branko Milanovic: Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization. Cambridge, MA: Harvard University Press (Belknap) 2016, 299 Seiten, 29,95 Dollar
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wo sind die Gewinner, wo die Verlierer?
Branko Milanovic hatte lange für die Weltbank gearbeitet und ist jetzt Senior Scholar am Luxembourg Income Study Center. In seinem aktuellen Buch stellt er die Frage, was die Globalisierung für die globale Einkommensverteilung bedeutet. Dabei greift er ein von anderen Ökonomen diskutiertes Problem nicht auf, nämlich ob der technologische Wandel oder die Globalisierung im engeren Sinne, also globale Fertigungsketten und zunehmender Handel oder freier Kapitalverkehr, die Hauptursache der Veränderungen der Verteilung ist. Denn diese Frage hält er letztlich für nicht entscheidbar.
Der technologische Wandel ist in seinem Globalisierungsbegriff enthalten. Wo immer es die Daten erlauben, geht es Milanovic um kaufkraftbereinigte und verfügbare Einkommen (nach Steuern und Transfers). Gleich im ersten Kapitel zeigt er für die zwei Jahrzehnte vor der Finanzkrise, dass vor allem die globale Mittelklasse hohe Einkommenszuwächse verzeichnen konnte, dass die untere Mittelschicht in den reichen Ländern - in der Nähe des 80. Einkommensperzentils, global gesehen - kaum dazugewonnen hat, dass auch die Reichen, das oberste Perzentil, oder erst recht die globalen Plutokraten, die weit weniger als ein Prozent des obersten Perzentils ausmachen, viel dazugewonnen haben. Der Begriff "Perzentil" kommt aus dem Lateinischen und beschreibt Hundertstelwerte. Mit Perzentilen wird die Verteilung in Segmente von jeweils 1 Prozent aufgeteilt.
Die globale Mittelklasse lebt meist in Asien, vor allem in China. Wenn man nicht auf die prozentualen Einkommenszuwächse, sondern auf die absoluten Einkommenszuwächse schaut, dann sieht das Bild natürlich anders aus, denn hohe prozentuale Zuwächse, fast eine Verdoppelung, in der Nähe des Median-Einkommens ändern nichts daran, dass sogar das 80. Einkommensperzentil absolut immer noch höhere Einkommenszuwächse erzielt hat. Obwohl seine Schaubilder das eindeutig zeigen, hebt Milanovic diese Tatsache nicht besonders hervor, sondern behandelt die untere Mittelklasse der reichen Länder beziehungsweise des nordatlantischen Raums als Globalisierungsverlierer.
Man kann die globale Einkommensverteilung in zwei Komponenten zerlegen: Ungleichheit zwischen den nationalen Durchschnittseinkommen und Ungleichheit innerhalb von Nationen. Im zweiten Kapitel behandelt Milanovic zunächst die Ungleichheit innerhalb von Volkswirtschaften. Der klassische Erklärungsansatz stammt von Simon Kuznets, wonach der mit der Industrialisierung begonnene Strukturwandel zunächst die Ungleichheit vergrößert hat, später aber die Ungleichheit abgenommen hat, wobei in den westlichen Gesellschaften der Höhepunkt der Ungleichheit in der Nähe des Wechsels vom 19. ins 20. Jahrhundert liegt.
Anfangs hat der Übergang aus der Landwirtschaft mit niedrigeren und ähnlicheren Einkommen in die Industrie mit höheren und ungleicheren Einkommen für zunehmende Ungleichheit gesorgt. Bei der Trendumkehr haben auch Kriege und die damit verbundene Kapital- und Vermögensvernichtung sowie staatliche Sozialpolitik eine Rolle gespielt. Seit etwa dem Jahr 1980 oder mit der Globalisierung und Digitalisierung hat sich der egalitäre Trend im Westen in sein Gegenteil verwandelt, wenn auch nicht in allen Ländern gleichermaßen, in den Vereinigten Staaten etwa wesentlich stärker als in Deutschland.
Milanovic spricht daher nicht mehr von einer Kuznets-Kurve, sondern von Kuznets-Wellen, wobei technologischer Wandel und Globalisierung jetzt zum Abbau von vielen ähnlich gut bezahlten Industriearbeitsplätzen und zum Aufbau von sehr unähnlich bezahlten Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor der reichen Länder geführt haben. Seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher hat die Politik nicht mehr dagegengehalten.
Im dritten Kapitel wird die Ungleichheit zwischen Nationen behandelt. Die hat während des 19. und 20. Jahrhunderts durch das schnelle Wachstum des nordatlantischen Raums, des Westens, zugenommen, nimmt aber seit der Jahrtausendwende ab. Während im 18. Jahrhundert die Klassenlage die materiellen Lebensbedingungen der Menschen bestimmte, war es im 19. und 20. Jahrhundert vorwiegend die Nationalität oder Staatsangehörigkeit. Milanovic spricht hier von einer Bürgerschaftsrente. Mitte des 20. Jahrhunderts waren 80 Prozent der Einkommensunterschiede zwischen den Menschen durch die Ungleichheit der Durchschnittseinkommen zwischen Ländern und nur 20 Prozent durch intranationale Einkommensunterschiede erklärbar. Vor allem für Menschen in unteren Einkommensschichten ist die Bürgerschaftsrente bedeutsam, denn bei einfachen Tätigkeiten sind die Lohnunterschiede zwischen reichen und armen Ländern viel höher als bei hochqualifizierten.
Während die ersten drei Kapitel sich mit Daten und deren theoretischer Erklärung beschäftigen, bietet der Schluss spekulative Ausblicke und normative Überlegungen. Dabei tritt Milanovic für offenere Grenzen der reichen Gesellschaften für Menschen aus armen Ländern ein. Er befürchtet plutokratische Abwege in der politischen Entwicklung der Vereinigten Staaten und rechtspopulistische in Europa. In den Vereinigten Staaten sieht er die Aushöhlung der Demokratie, in Europa Widerstände gegen die Globalisierung.
Das Buch ist gut lesbar und verlangt keine Vorkenntnisse. Es ist vor allem in den ersten Kapiteln unbedingt empfehlenswert. Sowohl bei Milanovics Bemerkungen zum Ersten Weltkrieg und seinen Verweisen auf marxistische Imperialismustheorien als auch bei seinen abschließenden Überlegungen merkt man, dass Milanovic in den Nachbardisziplinen der Ökonomik, ja sogar in der Institutionenökonomik, nicht wirklich zu Hause ist. Aber punktuelle Schwächen ändern nichts daran, dass Milanovic ein unbedingt lesenswertes Werk gelungen ist.
ERICH WEEDE
Branko Milanovic: Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization. Cambridge, MA: Harvard University Press (Belknap) 2016, 299 Seiten, 29,95 Dollar
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