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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2010

Lebendig sind die Götter und sehr wandelbar

Souverän, humorvoll und mit Eigensinn: Wendy Doniger hat eine Geschichte des Hinduismus vorgelegt, die auf der Vielfalt dieser Religion besteht.

Wendy Doniger ist die Nachfolgerin von Mircea Eliade am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Chicago. Seit Jahrzehnten schreibt die Indologin über Indien, besonders über die Mythologie des Hinduismus. Sie hat grundlegende Texte übersetzt, darunter den Rigveda, das Kamasutra oder Manus Gesetzbuch. Manche ihrer Bücher entfachten Diskussionen, aber ihr neuestes, "The Hindus - An Alternative History", hat einen Sturm der Entrüstung, vor allem in Indien, ausgelöst. Es gibt wütende Rezensionen in führenden Zeitungen, persönliche Angriffe, hasserfüllte Websites und eine Online-Petition an den Penguin Verlag, das Buch sofort vom Markt zu nehmen.

Der Fall ist exemplarisch und ein Warnsignal für die akademische Freiheit in Zeiten transkultureller Verwicklungen. Blasphemie oder auch eine "Talibanisierung" des Hinduismus werden der Autorin vorgeworfen. Tatsächlich ist das wissenschaftliche Schreiben über den Hinduismus immer öfter Ziel von Angriffen konservativer Hindus.

Aus der Sicht der meist hindu-nationalistisch eingefärbten Kritiker mangelt es einigen westlichen Autoren an Respekt gegenüber "dem Hinduismus". Schließlich seien es überwiegend Nicht-Hindus, die über diese Religion schrieben und dabei mit westlichen, "weißen" Wertvorstellungen verunglimpften. Dagegen müsse man sich wehren, ja einen Glaubenskampf führen.

Wenn es um Fundamentalismus bei Religionen geht, saßen bislang eher die monotheistischen Religionen auf der Anklagebank. Schon Arthur Schopenhauer hatte festgestellt, dass "fanatische Greuel uns doch nur von den Anhängern der monotheistischen Religionen, also allein des Judentums und seiner zwei Verzweigungen, Christentum und Islam, bekannt sind. Von Hindu und Buddhaisten wird Dergleichen uns nicht berichtet."

Das war damals so falsch wie heute, denn auch die Geschichte des sogenannten "Hinduismus" kennt fanatische Auswüchse gegen Andersgläubige. Fragt sich nur, wer diese Hindus eigentlich sind. Den Begriff "Hinduismus" gibt es erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts; er stammt von den Briten. Die Inder selbst nannten noch weit in das 20. Jahrhundert hinein ihre Kaste, wenn sie, zum Beispiel bei den britischen Volkszählungen, nach ihrer Religion gefragt wurden. Erst in Abgrenzung zu Fremdherrschern (Muslimen, Briten) und anderen Religionen (Islam, Christentum) sahen sie sich zunehmend als Anhänger einer Religion.

Eine einheitliche Identität des Hinduismus gibt es freilich nach wie vor nicht. Weder kennt man einen Stifter oder ein religiöses Oberhaupt wie den Papst noch eine einheitliche Doktrin, ein allseitig akzeptiertes Symbol, ein religiöses Zentrum, eine einheitliche Priesterschaft oder einen für alle verbindlichen heiligen Text. Die Briten versuchten, ebendiese Einheit des Hinduismus herzustellen. Es gelang ihnen teilweise, aber nur, indem sie sich überwiegend auf die traditionellen Schriftgelehrten Indiens, die Brahmanen, und deren Sanskrittexte verließen.

Wendy Donigers Buch hat vor allem zum Ziel, andere Stimmen zu Gehör zu bringen, die das überkommene Bild des Hinduismus zurechtrücken sollen: die Stimmen der Frauen und die Stimmen von Mitgliedern anderer Religionen, Kulturen, Kasten, Unterdrückten, ja sogar die Stimmen der Tiere, besonders von Pferd und Hund. Es geht ihr, wie sie sagt, nicht immer nur um "Brahmanen, Sanskrit und die Bhagavadgita". Es geht ihr eben um eine alternative Geschichte des Hinduismus, aber auch um eine Geschichte der Subalternen. Sie wendet sich gegen die Vorstellung, dass der Hinduismus immer nur exotisch, erotisch, spirituell und darüber hinaus ewig unveränderlich sei.

Dabei ziehen sich bestimmte Themen durch ihr Buch: Gewalt und Gewaltlosigkeit (ahimsa) gegenüber Menschen und Tieren, damit auch religiöse Toleranz, Vegetarismus und Tieropfer, genauso wie die Spannungen zwischen Askese, Sexualität und Leidenschaft. Alle großen Themen des Hinduismus kommen zur Sprache: Reinkarnation und Karma, Opfer, die devotionale Verehrung von Göttern (bhakti), Befreiung (moksha), Tantra ebenso wie Rudyard Kiplings Roman "Kim" oder Mahatma Gandhis Einfluss auf den Hinduismus.

Doniger räumt mit liebgewordenen Vorurteilen oder Klischees auf. Sie führt vor, dass Indien nicht nur spirituell, sondern sehr weltlich gewesen ist, nicht nur tolerant und friedlich, sondern besonders in den Epen gewalttätig und brutal, nicht nur rein und keusch, sondern sexualisiert und lüstern. Sie zeigt auf, dass die Muslime dem Hinduismus nicht, wie die HinduNationalisten behaupten, nur geschadet haben, auch wenn sie viele Tempel zerstörten und Konversionen erzwangen. Das ausgeprägte Wallfahrtswesen, die Ashrams und Sekten, ja sogar die hingebungsvolle Verehrung der Götter Rama und Krishna verdanken dem Einfluss des Islams vieles.

In Detailstudien, mitunter preziösen Vignetten, analysiert sie Götter - wenn auch in eigenwilliger Form: Krishna etwa ist bei ihr ein Kriegstreiber, weil er in der Bhagavadgita Arjuna anhält, seine Verwandten zu töten; der Dämon Ravana, der Sita nach Lanka entführt und als Inbild des grausamen Dämons gilt, kommt dafür vergleichsweise gut weg. Oder sie behauptet, dass Sita nicht nur die reine, keusche Frau Ramas war, sondern auch ein begehrendes Auge auf Ramas Bruder Lakshman geworfen habe. Für diese Darstellung und ihre psychoanalytische Auslegung der Epen und Mythen wurde Doniger bereits 2003 in London von einem fanatischen Hindu-Aktivisten attackiert.

Donigers Buch ist geprägt vom persönlichen Stil und von den Vorlieben der Autorin. Sie bedient sich streckenweise einer umgangssprachlichen, mitunter sexualisierten Sprache. Immer wieder bringt sie Assoziationen zur Gegenwart an, etwa wenn George W. Bush als eine zeitgenössische Form von Kalki - Vishnus Erscheinungsform als zerstörerisches Pferd am Ende eines Zyklus der Weltperioden - beschworen wird. Sie ist voller Humor, liebt Wortspiele - etwa linga franca für die Ubiquität des Linga, des Symbols für den Gott Shiva -, verweist auf Filme, vorzugsweise von Woody Allen, und moderne Literatur. Das ist nicht jedermanns Geschmack, aber ihr souveräner Umgang mit der Sprache ist oft durchaus ein Lesevergnügen.

Was uns vorliegt, ist Wendy Donigers Hinduismus, getragen von profundem Wissen, großer Sympathie für ein komplexes und sich ständig wandelndes Indien und voll von originellen Ideen. Wer schon etwas mit Indien vertraut ist, wird von dem Buch lernen können.

Das Buch muss manchen als Bedrohung des Projekts eines homogenen, hinduistisch dominierten Nationalstaates erscheinen. Doniger führt vor Augen, was diese Kritiker leugnen: Vielfalt statt Einheit, Lebendigkeit statt Sturheit, idiosynkratische Qualitäten statt Dogmatik. Die Hindu-Rechten wollen, wie Doniger selbst bemerkt, eine Art Papsttum und die Idee von Orthodoxie in den Hinduismus schmuggeln. Für die Forscherin sind Hindus aber das "Regenbogenvolk", ein Vorbild für eine multikulturelle, multireligiöse, hybride Welt. Für diese Idee opfert sie sogar die Definition des Hinduismus. Wo keine Einheit ist, kann es keine Definition geben.

Leider verfehlt Doniger, diese Fähigkeit zur Vielfalt als das bestimmende Merkmal des Hinduismus oder, wie man treffender sagen sollte, der Hindu-Religionen herauszuarbeiten. Denn bei allen anderen Weltreligionen lassen sich durch die ganze Geschichte einheitliche Merkmale bezüglich Stifter, Lehren oder Symbolen festhalten. Nicht so beim Hinduismus. Ihn charakterisiert, was ich selbst den identifikatorischen Habitus nennen würde: die Fähigkeit, Verschiedenes gleichsetzen zu können.

Solche Auseinandersetzungen könnten auf die akademische Welt begrenzt bleiben. Doch drängt es hindu-nationalistische Kritiker, mehr und mehr öffentlichen Einfluss auszuüben. Offen fordern sie, dass nur noch Hindus den Hinduismus lehren dürften. Aber wem gehört eigentlich der Hinduismus? Die rechten Hindus sollten sich klarmachen, dass der Hinduismus-Begriff aus dem Westen stammt. Wenn sie dann, wie bei manchen Städtenamen, auf alte indische Bezeichnungen zurückgreifen wollen, sind sie in großer Verlegenheit.

Was wäre denn der indische Begriff für "Hinduismus"? Sie werden nicht anders können und wie Wendy Doniger gerade die transkulturelle Vielseitigkeit des Hinduismus darstellen müssen. Diese Fähigkeit, vieles zu ertragen und nicht nur das eine zu wollen, kann durchaus als ein Modell für das unvermeidliche Zusammenwachsen der Religionen und Kulturen dienen.

AXEL MICHAELS

Wendy Doniger: "The Hindus". An Alternative History". The Penguin Press, London 2009. 800 S., geb., 26,99 [Euro].

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