Produktdetails
  • Verlag: Penguin
  • ISBN-13: 9780141025780
  • Artikelnr.: 20748002
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.03.2006

Die Traurigkeit, nicht trauern zu können
Ein wenig zu nett: Nicole Krauss’ Roman „Die Geschichte der Liebe”
Gefragt, warum gerade in den letzten Jahren ein Boom an Familien-Romanen der jüdischen Enkel-Generation zu verzeichnen sei, antwortete Nicole Krauss, die mit ihrer „Geschichte der Liebe” jetzt selber ein Exempel beigesteuert hat, in einer soziologisch gut abgesicherten Formel: Die Generation der Großeltern habe oft erst vor kurzem ihr Schweigen gebrochen. Seither müssten die Enkel mit den Erinnerungen ihrer Vorfahren auf eigene Weise zurecht kommen.
Das mag in einer Vielzahl der Fälle zutreffen, und so ist es wohl auch bei Nicole Krauss’ Großeltern gewesen. Bei Krauss’ Romanfiguren jedoch fragt man sich oft, wovon sie so lange geschwiegen haben könnten. Das Grauen des Holocaust ist es nicht. Leo Gursky, der zentrale Protagonist und Erzähler aus Krauss’ zweitem Roman „Die Geschichte der Liebe” ist ein ärmlicher, achtzigjähriger US-Immigrant wie andere auch. Allenfalls sein Humor, der ins Groteske schießt, macht ihn zu einem klassischen Vertreter des jüdischen Witzes. Gursky wohnt in einer kleinen, zugemüllten Wohnung, die er sich gerne etwas größer macht. „Vom Klo zur Wohnungstür, unmöglich, da muss ich über den Küchentisch. Ich stelle mir mein Bett gern als Homeplate vor, das Klo als First, den Küchentisch als Second, die Wohnungstür als Third Base.”
Das sind eher holocaustfreie Galgenbetrachtungen eines New Yorkers mit winzigem Einkommen, und wenn Gursky bei Romanbeginn verhindern will, dass bei seinem Sterben niemand dabei ist, so hat auch das wenig mit den speziellen Schrecken der Opfergeneration zu tun. Wobei Krauss die Schraube der üblichen Angst vor der Alterseinsamkeit noch ein wenig weiter dreht: Gursky möchte immer gesehen werden. Also schleppt er sich auch zum Aktzeichnen, um dort, betont hässlich, Modell zu stehen. Während eines solchen Termins zu sterben, wäre, so Gurskys Phantasie, das Gegenteil der drohenden Verwesung in der eigenen Wohnung.
Zugegeben, es sind teilweise makabre Vorstellungen, die der Alte pflegt, dennoch bleibt Gursky ein durchweg sympathischer Kerl, der, und das ist wohl einer der Gründe für den beträchtlichen Erfolg des Buches in den USA und Deutschland, den Holocaust für seine Leser ins Gemütlich-Kauzige wenden kann. Denn auch jene Erinnerungen „an damals”, die Gursky am meisten Probleme bereiten, bleiben überdurchschnittlich „weich”, sind eher sentimentaler Natur. Sie haben mit Alma, Gurskys aus den Augen verlorenem Jugendschwarm, zu tun, sowie mit einem verschollenen Roman-Manuskript, eben jener pathetisch und vielversprechend übertitelten „Geschichte der Liebe”, die der halbwüchsige Gursky schrieb, um Alma von sich zu überzeugen: ein traditionelles Buch im Buch.
Doch warum dringt Nicole Krauss nicht weiter vor als bis zu dieser Art von „Holocaust light”? Neben der auch von US-Kritikern vorgebrachten Begründung, sie schiele nach dem amerikanischen Massenpublikum, gibt Krauss in einem Essay, „On forgetting”, der im Internet nachzulesen ist, eine andere Motivation an. Eine ihrer beiden Großmütter habe sie das Aufnahmegerät ausschalten lassen, als sie ihr erzählt habe, wie ihr Vater gezwungen worden sei, das Gras mit seinen Zähnen zu mähen. Sie habe die Großmutter zuerst nicht verstanden, bis ihr klar wurde: „Erinnern ja, aber nicht den Terror, mit dem sie versuchten, uns unsere Würde zu nehmen (. . .) Erinnere dich an das Leben, wollte sie sagen, erinnere dich daran, wie wir lebten.”
Das Problem, das Nicole Krauss mit dieser Interpretation der Großmutter haben musste, ist offenkundig: Sie, Jahrgang 1974, gehört zur Urenkel-Generation: „Wenn meine Mutter, nach dem Krieg in London geboren, Roman Vishniacs Schtetl-Fotografien sah, spürte sie eine überwältigende Vertrautheit, als ob ihre Familienangehörigen auf den Bildern zu sehen seien, als ob sie selber dort gewesen sei. Wenn ich diese Fotos anschaue, fühle ich mich nur traurig.” Und es sei eine doppelte Traurigkeit, die sie ergreife: Die „Traurigkeit des Erinnerns” und die Traurigkeit, dass sie zur Trauer „nicht mehr in der Lage” sei.
So reden die Einwanderer
Das ist eine ziemlich überzeugende Argumentation, die zur Wahrnehmung dieses Buches gehört. Doch auch wenn man sie akzeptiert, muss man sehen, dass sie Krauss zu nichts anderem als dem Allerweltsmotiv „Erinnere dich, wie wir geliebt haben” gebracht hat. Dank Gurskys hohen Sympathiewerten liest sich der Roman dennoch eine Weile lang rührend und gut. Selbst der im Gegensatz zu ihrem Mann Jonathan Safran Foer geringe sprachliche Ehrgeiz - ein durchschnittlich aufgerautes Einwanderer-Amerikanisch bestimmt den Ton - wirkt nicht weiter störend, solange Gurskys Gegenwarts- und Erinnerungsplot die Hauptrolle spielt.
Doch als wolle Krauss die fehlende eigene Sprache vergessen machen, und ihrem Buch ein paar andere Stimmen und Geheimnisse geben, treibt sie das verschollene Manuskript in immer verworrenere Handlungskonstellationen, die ihre mühselig hergestellte Wahrscheinlichkeit im Wesentlichen der glücklichen Fügung eines auch im Sinne der Überlebensmöglichkeiten durchaus freundlichen Holocausts verdanken. Leo Gurskys „Geschichte der Liebe” erreicht ihn am Ende wieder, weil Zvi Litvinoff, der mit Gursky im polnischen Slonim aufgewachsen ist, das Manuskript nach Chile retten konnte. Litvinoff hat den Text jedoch nicht in Ehren gehalten, sondern, im Glauben an Gurskys Tod, dazu verwendet, sich einer Angebeteten gegenüber selber als Schriftsteller auszugeben.
Auch das wäre für sich genommen kein schlechter Einfall, doch Gurskys, von Litvinoff leicht verhunzte, schließlich ins Spanische übersetzte „Geschichte der Liebe” gerät, per Erläuterungen einer Übersetzerin aus dem Spanischen zu einem ganz anderen Buch geworden, in die Hände von Isaac Moritz. Der ist nicht nur Schriftsteller, sondern niemand anderes als der uneheliche Sohn von Gursky und der damals angebeteten Alma. Auch sie hielt Gursky für tot, suchte sich einen anderen Mann für den in ihrem Bauch nach Amerika mit emigrierten Sohn. Nach so vielen Zufällen macht es sicher Sinn, dass die Tochter der Übersetzerin, ein verschobenes Selbstporträt Nicole Krauss’, nach Gurskys Roman-Heldin Alma heißt, und am Ende den von ihr gesuchten Autor in New York zum erstenmal trifft, gewissermaßen als seelenvolle Wiedergängerin der Ur-Alma, die den Holocaust ebenfalls überlebte und vor kurzem in New York gestorben ist.
Betont nette jüdische Familiengeschichten aus dem zwanzigsten Jahrhundert lesen sich auf ganz andere Weise, aber nicht weniger deutlich phantastisch als nette deutsche.
HANS-PETER KUNISCH
NICOLE KRAUSS: Die Geschichte der Liebe. Roman. Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag. Reinbek bei Hamburg 2005. 352 Seiten, 19,90 Euro.
Der Fotograf Roman Vishniac hielt um 1930 typische Szenen aus dem Schtetl-Leben fest.
Foto: KPA/PA
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