Prize-winning historian Peter Novick illuminates the reasons Americans ignored the Holocaust for so long -- how dwelling on German crimes interfered with Cold War mobilization; how American Jews, not wanting to be thought of as victims, avoided the subject. He explores in absorbing detail the decisions that later moved the Holocaust to the center of American life: Jewish leaders invoking its memory to muster support for Israel and to come out on top in a sordid competition over what group had suffered most; politicians using it to score points with Jewish voters. With insight and sensitivity, Novick raises searching questions about these developments. Have American Jews, by making the Holocaust the emblematic Jewish experience, given Hitler a posthumous victory, tacitly endorsing his definition of Jews as despised pariahs? Does the Holocaust really teach useful lessons and sensitize us to atrocities, or, by making the Holocaust the measure, does it make lesser crimes seem "not sobad"? What are we to make of the fact that while Americans spend hundreds of millions of dollars for museums recording a European crime, there is no museum of American slavery?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2000Vom Vorspiel auf dem Theater zum ökumenischen Gottesdienst
Im Gedenken an den Judenmord laufen alle nationalen Sonderwege am Ende zusammen: Zur Debatte um Peter Novicks Buch über den Holocaust in Amerika
Manchmal ist das Schweigen über ein Buch so bezeichnend wie das heftige Theater um ein anderes. Während Norman Finkelsteins Buch "The Holocaust Industry" derzeit in Deutschland hohe Wellen schlägt, wurde Peter Novicks Buch "The Holocaust in American Life" über die Entwicklung des Holocaust-Gedenkens in den Vereinigten Staaten hierzulande wenig beachtet. Finkelstein sieht sein Buch als Antwort auf das von Novick, und dieses hat offenkundige Relevanz für die deutsche Situation.
Bundesaußenminister Joschka Fischer schrieb jüngst in das Besucherbuch von Yad Vashem die Zeile: "Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Dieser Gedanke des chassidischen Mystikers Baal Shem Tov ist in Deutschland nicht mehr ganz unbekannt, nachdem es in Richard von Weizsäckers Rede 1985 Verwendung fand und dann 1988 zum Leitspruch anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Reichskristallnacht wurde. Woran nun konnte Joschka Fischer mit diesem chassidischen Spruch gedacht haben? Welche der beiden Öffentlichkeiten in Israel und Deutschland sähe sich auch nur symbolisch verbannt oder ausgeschlossen? Beide sind doch bereits Weltmeister im Holocaust-Gedenken. Fischers Note im Besucherbuch kann also nur als eine allgemeine und nichtssagende fromme Losung verstanden werden, eine Weisheit, der man nicht widersprechen kann, und ohne besonderen aktuellen politischen und gesellschaftlichen Bezug.
Fischers Note hebt sich ab von der eines anderen deutschen Besuchers, Helmut Kohl, bei seinem ersten Besuch in Israel im Jahr 1984. Kohl sprach damals bekanntlich von der "Gnade der späten Geburt" und der "Überwölbung von Auschwitz". Kann man diese Worte aber nicht auch lesen als Kohls Dankbarkeit dafür, daß er als Mensch mit traditionellem Nationalgefühl aufgrund seines Alters keine Möglichkeit hatte, als passiver Beobachter, als Mitläufer oder als begeisterter Nazi schuldig zu werden? Die "Überwölbung" von Auschwitz wiederum war sein Versuch, an eine vermutlich andere deutsch-jüdische Vergangenheit heute anzuknüpfen.
Kohl und Fischer bedienen sich erstaunlicherweise eines deutlich religiösen Idioms. Kohl, der bekennende Katholik, spricht von "Gnade" und von "Überwölbung", was an gotische oder romanische Kirchenarchitektur erinnern könnte, der Grüne Fischer spricht mit den Worten einen Mystikers von der guten Tat der Erinnerung und dem Mysterium der Erlösung. Die Einbettung der Schoah in eine religiöse Erzählung Narrativ ist in den Gedenkritualen weit verbreitet; sie ist ein Hauptthema von Novicks Buch.
Wie nun hat sich die Gedenkkultur entwickelt? Die große öffentliche Auseinandersetzung begann in Deutschland auf dem politischen Theater, mit Martin Walsers "Eiche und Angora" (1962), Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter" (1963), Peter Weiss' "Die Ermittlung" (1965) und Heinar Kipphardts "Joel Brand" (1965). Wie Anat Feinberg gezeigt hat, fanden sich in diesen wichtigen Stücken die jüdischen Opfer jedoch durchweg in sekundären Rollen, oder sie wurden unsichtbar wie im Stück von Peter Weiss, dessen radikaler Universalismus durch Rollentausch der Schauspieler nicht zwischen Opfern und Tätern unterscheiden wollte.
Der Wandel der öffentlichen Meinung wurde, meiner Einschätzung nach, neben dem Generationswechsel vor allem durch zwei israelische Kriege verursacht, und zwar sowohl in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten. Doch in den Vereinigten Staaten diente der Krieg von 1967 dazu, die Stellung der Juden im ethnischen Gefüge der amerikanischen Gesellschaft neu zu definieren. In Deutschland dagegen wurden die Juden medial von den Deutschen als heldische Figuren neu erfunden. Peter Novick hat in seiner Studie darauf hingewiesen, daß der Jom-Kippur-Krieg von 1973, in dem die Juden wiederum eine Heldenrolle spielten, sie jedoch zugleich als gefährdete, verwundbare Helden zeigte und auf Israels bedrohte Existenz verwies.
Die Verbrechen wurden lange mehr beschworen als beschrieben. Man kann dies als "Gedächtnisnegativ" bezeichnen: Wie bei einem Fotonegativ wurden nur die Konturen des Massenmordes, nicht aber der Kern der Vernichtung sichtbar. Die Endlösung blieb verdunkelt. Dies war bereits in den Nachkriegsjahren angelegt, etwa in Eugen Kogons Buch über den SS-Staat oder auch in der "Woche der Brüderlichkeit", deren Name schon ins Allgemeine auswich. Sie war von den Amerikanern in den späten vierziger Jahren ins Leben gerufen worden und wurde weitgehend von protestantischen Kreisen getragen. Es ist bezeichnend, daß diese an sich legitime und noble Form des Gedenkens aus der Mode gekommen ist. Doch die Opfer wurden damals innerhalb eines christlichen Diskurses universalisiert, und die Endlösung als bürokratisierte und industrialisierte Massenvernichtung wurde nicht angesprochen. Die zwei Haupttexte, die im Zusammenhang mit der Woche der Brüderlichkeit gelesen wurden, waren Albrecht Goes' Novelle "Das Brandopfer" - in dem Titel kommt zum ersten Mal das deutsche Wort für "Holocaust" vor - und Else Behrend-Rosenfelds autobiographischer Bericht "Ich stand nicht allein". Albrecht Goes' Novelle übersetzt die Schoa in einen christlichen Diskurs, in dem eine sich um Juden sorgende Metzgersfrau im Bombenkrieg von einem Juden, mit Davidsstern am Kragen, gerettet wird. Die Botschaft ist also, daß es Menschlichkeit und Unmenschlichkeit überall gibt. Die sich als Halbjüdin darstellende Else Behrend-Rosenfeld drängt die Untaten der Peiniger in den Hintergrund und beschreibt die Hilfsbereitschaft ihrer deutschen Mitmenschen, Verfolgung der Juden wird dabei eher an den Rand gedrängt.
Als Gegenstück zu dieser Literatur findet man in der DDR "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz, einen enorm populären Roman der fünfziger Jahre, in dem, in ganz anderem politischen Kontext, genau wie in der Bundesrepublik oder in Nordamerika die universalistische Deutung im Vordergrund steht. Hier sind es kommunistische Insassen des Konzentrationslagers Buchenwald, die ein jüdisches Kind unter größten Gefahren verstecken und mit in die Befreiung bringen. Dieser Universalismus charakterisiert auch das zweifellos populärste Buch dieses Genres, das Tagebuch der Anne Frank. Auch mit diesem Tagebuch eines Mädchens, das von Judentum und jüdischer Kultur bereits weit entfernt und deshalb für eine nichtjüdische Leserschaft leichter verständlich war, wird der antijüdische Kern der nazistischen Verbrechen beiseite geschoben.
Wie Peter Novick für die Vereinigten Staaten zeigt, war dieser vom antijüdischen Kern abstrahierende Universalismus keineswegs auf die nichtjüdische Welt beschränkt. Auch in Deutschland sahen sich die jüdischen Opfer selbst lange Zeit als Teil einer größeren Gemeinschaft von Verfolgten. Hierbei ist der Wandel in der Diktion auffällig. Heute sprechen wir vor allem von "Opfern" und "Überlebenden". Zwar wurde der Begriff "Opfer" von Anfang an gebraucht, doch der weitaus geläufigere Begriff war damals der des "Verfolgten", der auch in den Namen ihrer Organisationen erschien: "Vereinigung der politisch, rassisch, religiös Verfolgten" (PRV), "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN), "Bund der Verfolgten des Naziregimes" (BVN). Der Verfolgte wehrt sich oder flieht vor dem Verfolger. Die Namen dieser Organisationen bezeichnen auch das gemeinsame Interesse aller Verfolgten, gleich welchen Hintergrunds. Diese Gemeinsamkeit erscheint uns heute nicht mehr selbstverständlich. Das damalige gemeinsame Verständnis wurde in einer Äußerung von Heinz Galinski deutlich, in der er die Juden Berlins in der Gemeindezeitung "Der Weg" im September 1946 dazu aufrief, am zweiten Sonntag im September an der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Faschismus teilzunehmen: "Die jüdische Gemeinschaft wird an der Feierstunde geschlossen teilnehmen.... Es wird erwartet, daß jeder, dessen Gesundheitszustand es erlaubt, zur gemeinsamen Feier erscheint."
Was nun auf den ersten Blick als deutsche Eigentümlichkeit erscheint, die oft aus der deutschen "Unfähigkeit zu trauern" und aus der Unfähigkeit, mit der Schuld umzugehen, erklärt wurde, hat nun erstaunliche Parallelen sowohl in Israel wie in den Vereinigten Staaten. In Israel waren die Überlebenden im Land unübersehbar präsent, auch gab es privates Gedenken in kleinerem Rahmen (wie in Deutschland und anderswo), doch im nationalen Bewußtsein und in Form staatlichen Zeremoniells wurde darüber bis zur Zeit des Eichmann-Prozesses geschwiegen. Die Holocaust-Gedenkkultur ist also eine breite Bewegung, die in den meisten Ländern des Westens einen ähnlichen Verlauf genommen hat. Die national orientierten Erklärungen sind offenbar unzureichend. Damit soll freilich nicht bezweifelt werden, daß das Gedenken trotz dieses parallelen Verlaufs in spezifisch nationale Diskurse eingebettet war - in den Vereinigten Staaten beispielsweise in den ethnischen und Rassendiskurs, in Deutschland in den Schulddiskurs. Die Politik verschiedener Staaten hat diesen zivilgesellschaftlichen Drang zum Gedenken auf je verschiedene Weise instrumentalisiert.
Ich möchte hier nun ausführlicher auf die überraschenden amerikanischen Parallelen hinweisen, die in Peter Novicks Buch außerordentlich überzeugend dargestellt werden. Novick zeigt, daß der Begriff "Holocaust", der von jüdischen Funktionären und Intellektuellen heute als exklusive Bezeichnung für die Schoa in Anspruch genommen wird, zu Kriegszeiten und auch später noch für die Bombardierungen und Massaker der Achsenmächte insgesamt stand. Und wie in Deutschland wurden die Verbrechen lange auch von amerikanisch-jüdischen Funktionären universalistisch gedeutet. Noch zur Zeit des Eichmann-Prozesses, in dem zum ersten Mal versucht wurde, die jüdische Schoa als autonomes Phänomen zu definieren, war die amerikanisch-jüdische Führung, auch angesichts amerikanischer Kritik an dem Prozeß, unzufrieden mit dem israelischen Vorgehen. Man versuchte, die Absichten der israelischen Regierung darzustellen als das Bemühen, "das Gewissen der Welt wachzurütteln und auf die schrecklichen Folgen des Totalitarismus aufmerksam zu machen". Der Prozeß sei kein spezielles Plädoyer für die Juden, denn was den Juden in Europa geschah, könne auch anderen Völkern zustoßen, die durch Totalitarismus unterdrückt werden.
Dieser universalistische Rahmen für die Verbrechen hatte, auch darauf weist Novick hin, gute empirische Gründe. Denn die ursprüngliche Erfahrung der Alliierten wie auch der in deutschen, nicht in polnischen Konzentrationslagern Inhaftierten war, daß die Juden nur einen Teil der Insassen ausgemacht hatten. Im Unterschied zu den Lagern im Osten befanden sich in den in Deutschland gelegenen Konzentrationslagern, wie Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau, mehrheitlich nichtjüdische Gefangene. Wenig später verschob sich die Betonung von den deutschen Tätern auf den abstrakten Totalitarismus. Dies paßte, wie Novick schreibt, in die damalige politische Situation: Westdeutschland wurde in der Nato als wichtiger Partner im Kalten Krieg gebraucht, und infolgedessen wurde der Nationalsozialismus mit dem Sowjetregime verglichen.
Der Zeitgeist und der Stil des Gedenkens haben sich seither grundsätzlich geändert. Wie radikal dieser Wandel von einer universalistischen zu einer partikularistischen Form gewesen ist, ist unlängst an der Rezeption des Buches von Goldhagen in Deutschland und den Vereinigten Staaten sichtbar geworden. Im Gegensatz zu den alten Universalismen sind die Juden hier die einzig wirklichen Opfer, und die einzig wirklichen Täter sind die deutschen Vernichtungsantisemiten, die gleichsam in biologischen Kategorien geschildert werden. Goldhagen brachte keine neuen Erkenntnisse, sondern er wiederholte, in reicher Ornamentierung und reduzierter Komplexität - worum es ja bei Erinnerung geht -, genau das, was insbesondere amerikanische Juden in den letzten Jahrzehnten gedacht hatten und was Deutsche hinsichtlich der Schuld hören wollten.
Als sich in den späten siebziger Jahren der partikularistische Diskurs durchgesetzt hatte, waren die Juden die einzig wahren Opfer, die Opfer unvergleichbarer, rational unfaßbarer und nicht darstellbarer Leiden. Dies ermöglichte wiederum einen religiösen Diskurs. Frühere Versuche einer breit akzeptierbaren religiösen Deutung mußten fehlschlagen, denn wie konnten Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sozialdemokraten, Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene und Sinti und Roma alle unter ein religiöses Dach gebracht werden? Der Begriff der Verfolgten bewegte sich also von einer eher aktiven Rolle zur Passivität - von Verfolgten zu Überlebenden oder Opfern. Sowohl der deutsche Begriff "Opfer" wie auch, so Novick, das englische "victim" stammen aus dem religiösen Bereich, als Opfer etwa, die einer Gottheit dargebracht werden. Die Hinbewegung auf still leidende Opfer wird auch in der Veränderung jüdischen Gedenkens offenkundig. In den früheren Jahren, wie heute noch beim nationalen israelischen Gedenktag, galt der Aufstand im Warschauer Ghetto besonders bei den jüdischen Überlebenden als zentraler Gedenktag und wurde auch von politischer Seite als Heldentag definiert. Seit den späten sechziger Jahren, als sich der religiös gefärbte Begriff "Holocaust" allgemein durchsetzte, wurde der 9. November zum wichtigeren Datum, an das Juden und Nichtjuden - beide Gruppen mittlerweile weniger direkt betroffen - erinnern. Thema ist nicht mehr heldischer Widerstand, sondern die Eruption des abstrakten Bösen, das eine Gemeinschaft überwältigt.
Einer der wichtigsten Punkte in Novicks Studie ist die Sakralisierung der Schoa. Diese Sakralisierung beginnt Novick zufolge mit der Herausbildung der fetischisierten Einzigartigkeit der Schoa, die Ismar Schorsch, Kanzler des "Jewish Theological Seminary" in New York, als "geschmacklose säkularisierte Version der Auserwähltheit" bezeichnet hat. Von der Idee der Einzigartigkeit und ihrer deutschen akademischen Version als "Zivilisationsbruch" ist es nur ein kurzer Weg zur Sakralisierung. Emil Fackenheim hat vorgeschlagen, zu den 613 biblischen Geboten ein weiteres hinzuzusetzen, nämlich das Verbot, Hitler einen postumen Sieg zu schenken: "Es ist uns befohlen, zu überleben und uns als Juden zu vermehren, damit das jüdische Volk nicht untergehe."
Dies gab Fackenheim und seinen Anhängern die Legitimation für jüdische Siedlungen auf der West Bank und die Vertreibung von Palästinensern. Der Weg der Sakralisierung, der vor allem von Elie Wiesel beschritten wurde, wird freilich nicht von allen begangen. Wiesels europäischer Gegenspieler war Primo Levi, der meinte, es sei "naiv, absurd und historisch falsch, zu glauben, daß ein höllisches System wie der Nationalsozialismus seine Opfer heiligt; im Gegenteil, es erniedrigt sie und macht sie sich selbst ähnlich". Vor allem Elie Wiesel hat die Sakralisierung propagiert, die der Idee des Leidens eine Sonderstellung verleiht. Doch weder die Idee des Leidens, des Martyriums noch extreme Trauer und Totenkult sind mit der jüdischen Tradition vereinbar. Novick weist darauf hin, daß Wiesel in seiner Autobiographie über die kabbalistischen und asketischen Versuche seiner Jugend berichte, über die Anziehungskraft des Leidens und seinen Neid auf das Leiden der Armen in seiner Umgebung: Leiden als Weg zum Heiligen.
Wo die Schoa einen heiligen Sinn erlangt, werden auch ihre Opfer geheiligt. Laut Wiesel sind diese Toten im Besitz eines Geheimnisses, das zu kennen die Lebenden weder wert noch fähig seien: "Der Holocaust ist das letzte Ereignis, das letzte Geheimnis, das nie verstanden oder weitergegeben werden kann." Was also in der Geschichte des jüdischen Volkes ein existenzbedrohendes Ereignis war, wird zum wertvollen Erbe. Bei dieser Sakralisierung der Schoa ist nicht zu übersehen, daß es sich auch um eine Verchristlichung handelt, indem christliche Elemente in die jüdische Gedenkkultur getragen werden. Als sich der Antisemitismus in den Vereinigten Staaten abschwächte, glaubten sich die amerikanischen Juden auch in der Gefahr, ihren ethnischen Zusammenhalt zu verlieren. Deshalb sollte die Angst vor dem Antisemitismus durch Auschwitz auf die jüngere Generation übertragen werden: Man beschwor die krasse Erinnerung an Auschwitz, um darzustellen, daß Juden anders sind.
Die Verchristlichung und vor allem vielleicht Katholisierung von Auschwitz wird weiterhin dargestellt im Totenkult und im Kult der Authentizität: fetischisierte Objekte, Kreuzigungsvorstellungen, unschuldiges Leiden und die Sakralisierung der Märtyrer, die für die jüdische Sünde des Ablassens vom Judentum gestorben sind. Diese christlichen Elemente machen die Schoa in einem christlichen Umfeld besonders eingängig. Dieser christliche Charakter wird in Deutschland besonders offenkundig in der Doppelaussage: "Wir tragen alle Schuld" und "Wir wurden erlöst, und unsere Schuld wird von uns genommen durch unsere Erinnerungsarbeit". Hier kommen wir zurück zu Joschka Fischer und seiner Antwort auf Helmut Kohl in Yad Vashem: Erlöst nicht durch Geburt (oder Spätgeburt), sondern durch die gute Tat des Erinnerns. Nirgends wurde das so offenkundig wie in der Goldhagen-Kontroverse.
Welche Lehren können Juden aus alledem ziehen, vor allem Juden in Deutschland? Nicht allein in der breiteren Öffentlichkeit und den staatlichen und quasi-staatlichen Gedenkritualen mit deutschen Politikern und jüdischen Funktionären, sondern auch in dem Gedenken jüdischer Gemeinden werden diese Rituale immer differenzierter und um so leidenschaftlicher, je größer der Abstand von Auschwitz wird. Ähnlich wie in Nordamerika dienen diese Rituale auch hierzulande dazu, ein neues Ghetto einzurichten - in Nordamerika sind es die "gated communities", in die sich auch viele Juden zurückgezogen haben. Je mehr sich Juden auf der einen Seite in die Gesellschaft integrieren, desto mehr entfernen sie sich durch diese Rituale zumindest in ihrer Vorstellungswelt aus ihr, freilich oft auch vom traditionell jüdischen Engagement in Gesellschaft und Politik.
Zum Glück gibt es in Europa auch eine immer größere Öffnung und ein neues Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinschaft. Diese neue Öffnung bezieht sich auf jüdisches Leben, nicht auf jüdischen Tod. Ich erinnere mich, wie ich in einem Seminar mit meinen Studenten über Tom Segevs Buch "Die siebte Million" diskutierte, über Gedächtnispolitik, über Hannah Arendts Eichmann-Buch und über die politische Instrumentalisierung des Eichmann-Prozesses in Israel. An einem Punkt hob ein älterer Herr, ein Student, der nach seiner Pensionierung zur Universität zurückgekommen war, seine Hand. Er erzählte von seinem Vater, einem polnischen Juden, der seine Familie in der Schoa verloren hatte. Als der Eichmann-Prozeß im Fernsehen übertragen wurde, fand er seinen Vater oft vor dem Fernseher und sah, wie er sich im Schmerz auf dem Boden hin und her rollte und schluchzte.
Dies ist eine andere Art der Trauer, Trauer seitens derjenigen, die einen persönlichen Verlust erlitten haben. Für die meisten Juden heute ist diese Zeit vorbei. Vieles, beileibe nicht alles, hat die Zeit notdürftig geheilt. Die höchste Achtung, die Juden den Toten erweisen können, ist es, jüdischen Trotz - "weiterleben" - zu bekunden und in unserem Leben als Juden und als Bürger in Deutschland, den Vereinigten Staaten oder anderswo jüdische Werte lebendig zu halten.
Y. Michal Bodemann
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Gedenken an den Judenmord laufen alle nationalen Sonderwege am Ende zusammen: Zur Debatte um Peter Novicks Buch über den Holocaust in Amerika
Manchmal ist das Schweigen über ein Buch so bezeichnend wie das heftige Theater um ein anderes. Während Norman Finkelsteins Buch "The Holocaust Industry" derzeit in Deutschland hohe Wellen schlägt, wurde Peter Novicks Buch "The Holocaust in American Life" über die Entwicklung des Holocaust-Gedenkens in den Vereinigten Staaten hierzulande wenig beachtet. Finkelstein sieht sein Buch als Antwort auf das von Novick, und dieses hat offenkundige Relevanz für die deutsche Situation.
Bundesaußenminister Joschka Fischer schrieb jüngst in das Besucherbuch von Yad Vashem die Zeile: "Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung." Dieser Gedanke des chassidischen Mystikers Baal Shem Tov ist in Deutschland nicht mehr ganz unbekannt, nachdem es in Richard von Weizsäckers Rede 1985 Verwendung fand und dann 1988 zum Leitspruch anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Reichskristallnacht wurde. Woran nun konnte Joschka Fischer mit diesem chassidischen Spruch gedacht haben? Welche der beiden Öffentlichkeiten in Israel und Deutschland sähe sich auch nur symbolisch verbannt oder ausgeschlossen? Beide sind doch bereits Weltmeister im Holocaust-Gedenken. Fischers Note im Besucherbuch kann also nur als eine allgemeine und nichtssagende fromme Losung verstanden werden, eine Weisheit, der man nicht widersprechen kann, und ohne besonderen aktuellen politischen und gesellschaftlichen Bezug.
Fischers Note hebt sich ab von der eines anderen deutschen Besuchers, Helmut Kohl, bei seinem ersten Besuch in Israel im Jahr 1984. Kohl sprach damals bekanntlich von der "Gnade der späten Geburt" und der "Überwölbung von Auschwitz". Kann man diese Worte aber nicht auch lesen als Kohls Dankbarkeit dafür, daß er als Mensch mit traditionellem Nationalgefühl aufgrund seines Alters keine Möglichkeit hatte, als passiver Beobachter, als Mitläufer oder als begeisterter Nazi schuldig zu werden? Die "Überwölbung" von Auschwitz wiederum war sein Versuch, an eine vermutlich andere deutsch-jüdische Vergangenheit heute anzuknüpfen.
Kohl und Fischer bedienen sich erstaunlicherweise eines deutlich religiösen Idioms. Kohl, der bekennende Katholik, spricht von "Gnade" und von "Überwölbung", was an gotische oder romanische Kirchenarchitektur erinnern könnte, der Grüne Fischer spricht mit den Worten einen Mystikers von der guten Tat der Erinnerung und dem Mysterium der Erlösung. Die Einbettung der Schoah in eine religiöse Erzählung Narrativ ist in den Gedenkritualen weit verbreitet; sie ist ein Hauptthema von Novicks Buch.
Wie nun hat sich die Gedenkkultur entwickelt? Die große öffentliche Auseinandersetzung begann in Deutschland auf dem politischen Theater, mit Martin Walsers "Eiche und Angora" (1962), Rolf Hochhuths "Der Stellvertreter" (1963), Peter Weiss' "Die Ermittlung" (1965) und Heinar Kipphardts "Joel Brand" (1965). Wie Anat Feinberg gezeigt hat, fanden sich in diesen wichtigen Stücken die jüdischen Opfer jedoch durchweg in sekundären Rollen, oder sie wurden unsichtbar wie im Stück von Peter Weiss, dessen radikaler Universalismus durch Rollentausch der Schauspieler nicht zwischen Opfern und Tätern unterscheiden wollte.
Der Wandel der öffentlichen Meinung wurde, meiner Einschätzung nach, neben dem Generationswechsel vor allem durch zwei israelische Kriege verursacht, und zwar sowohl in Deutschland wie in den Vereinigten Staaten. Doch in den Vereinigten Staaten diente der Krieg von 1967 dazu, die Stellung der Juden im ethnischen Gefüge der amerikanischen Gesellschaft neu zu definieren. In Deutschland dagegen wurden die Juden medial von den Deutschen als heldische Figuren neu erfunden. Peter Novick hat in seiner Studie darauf hingewiesen, daß der Jom-Kippur-Krieg von 1973, in dem die Juden wiederum eine Heldenrolle spielten, sie jedoch zugleich als gefährdete, verwundbare Helden zeigte und auf Israels bedrohte Existenz verwies.
Die Verbrechen wurden lange mehr beschworen als beschrieben. Man kann dies als "Gedächtnisnegativ" bezeichnen: Wie bei einem Fotonegativ wurden nur die Konturen des Massenmordes, nicht aber der Kern der Vernichtung sichtbar. Die Endlösung blieb verdunkelt. Dies war bereits in den Nachkriegsjahren angelegt, etwa in Eugen Kogons Buch über den SS-Staat oder auch in der "Woche der Brüderlichkeit", deren Name schon ins Allgemeine auswich. Sie war von den Amerikanern in den späten vierziger Jahren ins Leben gerufen worden und wurde weitgehend von protestantischen Kreisen getragen. Es ist bezeichnend, daß diese an sich legitime und noble Form des Gedenkens aus der Mode gekommen ist. Doch die Opfer wurden damals innerhalb eines christlichen Diskurses universalisiert, und die Endlösung als bürokratisierte und industrialisierte Massenvernichtung wurde nicht angesprochen. Die zwei Haupttexte, die im Zusammenhang mit der Woche der Brüderlichkeit gelesen wurden, waren Albrecht Goes' Novelle "Das Brandopfer" - in dem Titel kommt zum ersten Mal das deutsche Wort für "Holocaust" vor - und Else Behrend-Rosenfelds autobiographischer Bericht "Ich stand nicht allein". Albrecht Goes' Novelle übersetzt die Schoa in einen christlichen Diskurs, in dem eine sich um Juden sorgende Metzgersfrau im Bombenkrieg von einem Juden, mit Davidsstern am Kragen, gerettet wird. Die Botschaft ist also, daß es Menschlichkeit und Unmenschlichkeit überall gibt. Die sich als Halbjüdin darstellende Else Behrend-Rosenfeld drängt die Untaten der Peiniger in den Hintergrund und beschreibt die Hilfsbereitschaft ihrer deutschen Mitmenschen, Verfolgung der Juden wird dabei eher an den Rand gedrängt.
Als Gegenstück zu dieser Literatur findet man in der DDR "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz, einen enorm populären Roman der fünfziger Jahre, in dem, in ganz anderem politischen Kontext, genau wie in der Bundesrepublik oder in Nordamerika die universalistische Deutung im Vordergrund steht. Hier sind es kommunistische Insassen des Konzentrationslagers Buchenwald, die ein jüdisches Kind unter größten Gefahren verstecken und mit in die Befreiung bringen. Dieser Universalismus charakterisiert auch das zweifellos populärste Buch dieses Genres, das Tagebuch der Anne Frank. Auch mit diesem Tagebuch eines Mädchens, das von Judentum und jüdischer Kultur bereits weit entfernt und deshalb für eine nichtjüdische Leserschaft leichter verständlich war, wird der antijüdische Kern der nazistischen Verbrechen beiseite geschoben.
Wie Peter Novick für die Vereinigten Staaten zeigt, war dieser vom antijüdischen Kern abstrahierende Universalismus keineswegs auf die nichtjüdische Welt beschränkt. Auch in Deutschland sahen sich die jüdischen Opfer selbst lange Zeit als Teil einer größeren Gemeinschaft von Verfolgten. Hierbei ist der Wandel in der Diktion auffällig. Heute sprechen wir vor allem von "Opfern" und "Überlebenden". Zwar wurde der Begriff "Opfer" von Anfang an gebraucht, doch der weitaus geläufigere Begriff war damals der des "Verfolgten", der auch in den Namen ihrer Organisationen erschien: "Vereinigung der politisch, rassisch, religiös Verfolgten" (PRV), "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN), "Bund der Verfolgten des Naziregimes" (BVN). Der Verfolgte wehrt sich oder flieht vor dem Verfolger. Die Namen dieser Organisationen bezeichnen auch das gemeinsame Interesse aller Verfolgten, gleich welchen Hintergrunds. Diese Gemeinsamkeit erscheint uns heute nicht mehr selbstverständlich. Das damalige gemeinsame Verständnis wurde in einer Äußerung von Heinz Galinski deutlich, in der er die Juden Berlins in der Gemeindezeitung "Der Weg" im September 1946 dazu aufrief, am zweiten Sonntag im September an der Gedenkveranstaltung für die Opfer des Faschismus teilzunehmen: "Die jüdische Gemeinschaft wird an der Feierstunde geschlossen teilnehmen.... Es wird erwartet, daß jeder, dessen Gesundheitszustand es erlaubt, zur gemeinsamen Feier erscheint."
Was nun auf den ersten Blick als deutsche Eigentümlichkeit erscheint, die oft aus der deutschen "Unfähigkeit zu trauern" und aus der Unfähigkeit, mit der Schuld umzugehen, erklärt wurde, hat nun erstaunliche Parallelen sowohl in Israel wie in den Vereinigten Staaten. In Israel waren die Überlebenden im Land unübersehbar präsent, auch gab es privates Gedenken in kleinerem Rahmen (wie in Deutschland und anderswo), doch im nationalen Bewußtsein und in Form staatlichen Zeremoniells wurde darüber bis zur Zeit des Eichmann-Prozesses geschwiegen. Die Holocaust-Gedenkkultur ist also eine breite Bewegung, die in den meisten Ländern des Westens einen ähnlichen Verlauf genommen hat. Die national orientierten Erklärungen sind offenbar unzureichend. Damit soll freilich nicht bezweifelt werden, daß das Gedenken trotz dieses parallelen Verlaufs in spezifisch nationale Diskurse eingebettet war - in den Vereinigten Staaten beispielsweise in den ethnischen und Rassendiskurs, in Deutschland in den Schulddiskurs. Die Politik verschiedener Staaten hat diesen zivilgesellschaftlichen Drang zum Gedenken auf je verschiedene Weise instrumentalisiert.
Ich möchte hier nun ausführlicher auf die überraschenden amerikanischen Parallelen hinweisen, die in Peter Novicks Buch außerordentlich überzeugend dargestellt werden. Novick zeigt, daß der Begriff "Holocaust", der von jüdischen Funktionären und Intellektuellen heute als exklusive Bezeichnung für die Schoa in Anspruch genommen wird, zu Kriegszeiten und auch später noch für die Bombardierungen und Massaker der Achsenmächte insgesamt stand. Und wie in Deutschland wurden die Verbrechen lange auch von amerikanisch-jüdischen Funktionären universalistisch gedeutet. Noch zur Zeit des Eichmann-Prozesses, in dem zum ersten Mal versucht wurde, die jüdische Schoa als autonomes Phänomen zu definieren, war die amerikanisch-jüdische Führung, auch angesichts amerikanischer Kritik an dem Prozeß, unzufrieden mit dem israelischen Vorgehen. Man versuchte, die Absichten der israelischen Regierung darzustellen als das Bemühen, "das Gewissen der Welt wachzurütteln und auf die schrecklichen Folgen des Totalitarismus aufmerksam zu machen". Der Prozeß sei kein spezielles Plädoyer für die Juden, denn was den Juden in Europa geschah, könne auch anderen Völkern zustoßen, die durch Totalitarismus unterdrückt werden.
Dieser universalistische Rahmen für die Verbrechen hatte, auch darauf weist Novick hin, gute empirische Gründe. Denn die ursprüngliche Erfahrung der Alliierten wie auch der in deutschen, nicht in polnischen Konzentrationslagern Inhaftierten war, daß die Juden nur einen Teil der Insassen ausgemacht hatten. Im Unterschied zu den Lagern im Osten befanden sich in den in Deutschland gelegenen Konzentrationslagern, wie Buchenwald, Bergen-Belsen oder Dachau, mehrheitlich nichtjüdische Gefangene. Wenig später verschob sich die Betonung von den deutschen Tätern auf den abstrakten Totalitarismus. Dies paßte, wie Novick schreibt, in die damalige politische Situation: Westdeutschland wurde in der Nato als wichtiger Partner im Kalten Krieg gebraucht, und infolgedessen wurde der Nationalsozialismus mit dem Sowjetregime verglichen.
Der Zeitgeist und der Stil des Gedenkens haben sich seither grundsätzlich geändert. Wie radikal dieser Wandel von einer universalistischen zu einer partikularistischen Form gewesen ist, ist unlängst an der Rezeption des Buches von Goldhagen in Deutschland und den Vereinigten Staaten sichtbar geworden. Im Gegensatz zu den alten Universalismen sind die Juden hier die einzig wirklichen Opfer, und die einzig wirklichen Täter sind die deutschen Vernichtungsantisemiten, die gleichsam in biologischen Kategorien geschildert werden. Goldhagen brachte keine neuen Erkenntnisse, sondern er wiederholte, in reicher Ornamentierung und reduzierter Komplexität - worum es ja bei Erinnerung geht -, genau das, was insbesondere amerikanische Juden in den letzten Jahrzehnten gedacht hatten und was Deutsche hinsichtlich der Schuld hören wollten.
Als sich in den späten siebziger Jahren der partikularistische Diskurs durchgesetzt hatte, waren die Juden die einzig wahren Opfer, die Opfer unvergleichbarer, rational unfaßbarer und nicht darstellbarer Leiden. Dies ermöglichte wiederum einen religiösen Diskurs. Frühere Versuche einer breit akzeptierbaren religiösen Deutung mußten fehlschlagen, denn wie konnten Kommunisten, Zeugen Jehovas, Sozialdemokraten, Homosexuelle, sowjetische Kriegsgefangene und Sinti und Roma alle unter ein religiöses Dach gebracht werden? Der Begriff der Verfolgten bewegte sich also von einer eher aktiven Rolle zur Passivität - von Verfolgten zu Überlebenden oder Opfern. Sowohl der deutsche Begriff "Opfer" wie auch, so Novick, das englische "victim" stammen aus dem religiösen Bereich, als Opfer etwa, die einer Gottheit dargebracht werden. Die Hinbewegung auf still leidende Opfer wird auch in der Veränderung jüdischen Gedenkens offenkundig. In den früheren Jahren, wie heute noch beim nationalen israelischen Gedenktag, galt der Aufstand im Warschauer Ghetto besonders bei den jüdischen Überlebenden als zentraler Gedenktag und wurde auch von politischer Seite als Heldentag definiert. Seit den späten sechziger Jahren, als sich der religiös gefärbte Begriff "Holocaust" allgemein durchsetzte, wurde der 9. November zum wichtigeren Datum, an das Juden und Nichtjuden - beide Gruppen mittlerweile weniger direkt betroffen - erinnern. Thema ist nicht mehr heldischer Widerstand, sondern die Eruption des abstrakten Bösen, das eine Gemeinschaft überwältigt.
Einer der wichtigsten Punkte in Novicks Studie ist die Sakralisierung der Schoa. Diese Sakralisierung beginnt Novick zufolge mit der Herausbildung der fetischisierten Einzigartigkeit der Schoa, die Ismar Schorsch, Kanzler des "Jewish Theological Seminary" in New York, als "geschmacklose säkularisierte Version der Auserwähltheit" bezeichnet hat. Von der Idee der Einzigartigkeit und ihrer deutschen akademischen Version als "Zivilisationsbruch" ist es nur ein kurzer Weg zur Sakralisierung. Emil Fackenheim hat vorgeschlagen, zu den 613 biblischen Geboten ein weiteres hinzuzusetzen, nämlich das Verbot, Hitler einen postumen Sieg zu schenken: "Es ist uns befohlen, zu überleben und uns als Juden zu vermehren, damit das jüdische Volk nicht untergehe."
Dies gab Fackenheim und seinen Anhängern die Legitimation für jüdische Siedlungen auf der West Bank und die Vertreibung von Palästinensern. Der Weg der Sakralisierung, der vor allem von Elie Wiesel beschritten wurde, wird freilich nicht von allen begangen. Wiesels europäischer Gegenspieler war Primo Levi, der meinte, es sei "naiv, absurd und historisch falsch, zu glauben, daß ein höllisches System wie der Nationalsozialismus seine Opfer heiligt; im Gegenteil, es erniedrigt sie und macht sie sich selbst ähnlich". Vor allem Elie Wiesel hat die Sakralisierung propagiert, die der Idee des Leidens eine Sonderstellung verleiht. Doch weder die Idee des Leidens, des Martyriums noch extreme Trauer und Totenkult sind mit der jüdischen Tradition vereinbar. Novick weist darauf hin, daß Wiesel in seiner Autobiographie über die kabbalistischen und asketischen Versuche seiner Jugend berichte, über die Anziehungskraft des Leidens und seinen Neid auf das Leiden der Armen in seiner Umgebung: Leiden als Weg zum Heiligen.
Wo die Schoa einen heiligen Sinn erlangt, werden auch ihre Opfer geheiligt. Laut Wiesel sind diese Toten im Besitz eines Geheimnisses, das zu kennen die Lebenden weder wert noch fähig seien: "Der Holocaust ist das letzte Ereignis, das letzte Geheimnis, das nie verstanden oder weitergegeben werden kann." Was also in der Geschichte des jüdischen Volkes ein existenzbedrohendes Ereignis war, wird zum wertvollen Erbe. Bei dieser Sakralisierung der Schoa ist nicht zu übersehen, daß es sich auch um eine Verchristlichung handelt, indem christliche Elemente in die jüdische Gedenkkultur getragen werden. Als sich der Antisemitismus in den Vereinigten Staaten abschwächte, glaubten sich die amerikanischen Juden auch in der Gefahr, ihren ethnischen Zusammenhalt zu verlieren. Deshalb sollte die Angst vor dem Antisemitismus durch Auschwitz auf die jüngere Generation übertragen werden: Man beschwor die krasse Erinnerung an Auschwitz, um darzustellen, daß Juden anders sind.
Die Verchristlichung und vor allem vielleicht Katholisierung von Auschwitz wird weiterhin dargestellt im Totenkult und im Kult der Authentizität: fetischisierte Objekte, Kreuzigungsvorstellungen, unschuldiges Leiden und die Sakralisierung der Märtyrer, die für die jüdische Sünde des Ablassens vom Judentum gestorben sind. Diese christlichen Elemente machen die Schoa in einem christlichen Umfeld besonders eingängig. Dieser christliche Charakter wird in Deutschland besonders offenkundig in der Doppelaussage: "Wir tragen alle Schuld" und "Wir wurden erlöst, und unsere Schuld wird von uns genommen durch unsere Erinnerungsarbeit". Hier kommen wir zurück zu Joschka Fischer und seiner Antwort auf Helmut Kohl in Yad Vashem: Erlöst nicht durch Geburt (oder Spätgeburt), sondern durch die gute Tat des Erinnerns. Nirgends wurde das so offenkundig wie in der Goldhagen-Kontroverse.
Welche Lehren können Juden aus alledem ziehen, vor allem Juden in Deutschland? Nicht allein in der breiteren Öffentlichkeit und den staatlichen und quasi-staatlichen Gedenkritualen mit deutschen Politikern und jüdischen Funktionären, sondern auch in dem Gedenken jüdischer Gemeinden werden diese Rituale immer differenzierter und um so leidenschaftlicher, je größer der Abstand von Auschwitz wird. Ähnlich wie in Nordamerika dienen diese Rituale auch hierzulande dazu, ein neues Ghetto einzurichten - in Nordamerika sind es die "gated communities", in die sich auch viele Juden zurückgezogen haben. Je mehr sich Juden auf der einen Seite in die Gesellschaft integrieren, desto mehr entfernen sie sich durch diese Rituale zumindest in ihrer Vorstellungswelt aus ihr, freilich oft auch vom traditionell jüdischen Engagement in Gesellschaft und Politik.
Zum Glück gibt es in Europa auch eine immer größere Öffnung und ein neues Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinschaft. Diese neue Öffnung bezieht sich auf jüdisches Leben, nicht auf jüdischen Tod. Ich erinnere mich, wie ich in einem Seminar mit meinen Studenten über Tom Segevs Buch "Die siebte Million" diskutierte, über Gedächtnispolitik, über Hannah Arendts Eichmann-Buch und über die politische Instrumentalisierung des Eichmann-Prozesses in Israel. An einem Punkt hob ein älterer Herr, ein Student, der nach seiner Pensionierung zur Universität zurückgekommen war, seine Hand. Er erzählte von seinem Vater, einem polnischen Juden, der seine Familie in der Schoa verloren hatte. Als der Eichmann-Prozeß im Fernsehen übertragen wurde, fand er seinen Vater oft vor dem Fernseher und sah, wie er sich im Schmerz auf dem Boden hin und her rollte und schluchzte.
Dies ist eine andere Art der Trauer, Trauer seitens derjenigen, die einen persönlichen Verlust erlitten haben. Für die meisten Juden heute ist diese Zeit vorbei. Vieles, beileibe nicht alles, hat die Zeit notdürftig geheilt. Die höchste Achtung, die Juden den Toten erweisen können, ist es, jüdischen Trotz - "weiterleben" - zu bekunden und in unserem Leben als Juden und als Bürger in Deutschland, den Vereinigten Staaten oder anderswo jüdische Werte lebendig zu halten.
Y. Michal Bodemann
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