Produktdetails
- Verlag: Vintage
- ISBN-13: 9780099422136
- Artikelnr.: 09352711
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.02.2002Ein Freund, und die Welt fiel über mich her
Aber erst im Schmutz findet das Leben zu sich selbst: Heute erscheint Philip Roths großer Roman „Der menschliche Makel”
Die Zartheit, die so zurückgenommen ist, dass sie ein untergründiges Pathos birgt, dem wir uns gerne hingeben, eben weil es sich uns nicht aufdrängt – diese Zartheit stellt sich in Büchern meist erst nach erheblichem epischen Vorlauf ein. Dann nämlich, wenn Leser und Buch so miteinander verbandelt sind, dass auch kleinste Nervenzuckungen des Textes den Leser sogleich berühren. Diese Gleichschaltung muss erst aufgebaut werden, und das braucht Erzählzeit. Thoas „Leb wohl” in der „Iphigenie” eignet dieses zarte Pathos ebenso wie Alkmenens „Ach”, beide sind nicht zufällig Schlussworte. „So lebte er hin”, heißt es am Ende von Büchners „Lenz” und, weil gut vorbereitet, scheint in diesem unauffälligen Satz die ganze Abgründigkeit eines verwirrten Lebens auf.
In seinem neuen Roman „Der menschliche Makel”, der heute auf deutsch in die Buchhandlungen kommt, gelingt Philip Roth bereits nach fünfzig Seiten ein solcher Satz. Das ist kein Kriterium im Sinne eines „schneller, weiter, höher”, es zeigt aber sehr gut, wie reich Roths Stoff ist, und wie meisterhaft er sich in ihm bewegt, dass nur wenige Kapitel genügen, um eine plastische Erzählwelt aufzubauen, in der jedem Satz ohne Prätention im Ohr des Lesers eine berückende Bedeutungsintensität zuwächst. „Kaum hatte ich einen Freund gefunden, da stürmte alle Bosheit der Welt wieder auf mich ein.” Der hier erzählt, ist Nathan Zuckerman, das aus vielen Büchern vertraute alter ego Philip Roths. Zuckerman ist mittlerweile ein alter Mann, der die intellektuelle Boheme Manhattens verlassen und sich in einem Willensakt lebensabendlicher Melancholie von den aufpeitschenden Verführungen und erschöpfenden Kämpfen des Lebens gelöst hat und die Zeit, die ihm noch bleibt, in der Einsiedelei der Berkshires verbringen möchte. Eine Prostataoperation mag die Entscheidung leichter gemacht haben, jetzt ist er impotent. Da lernt er Coleman Silk vom nahe gelegenen Athena College kennen.
Diesem Coleman Silk ist Unerhörtes widerfahren, und er möchte, dass Zuckerman, der berühmte Schriftsteller, das zu Papier bringt, damit die Welt begreift, welches Unrecht man ihm angetan hat. Und weil die beiden sich tatsächlich anfreunden, bricht über Zuckerman wieder die ganze Korruptheit, Gier und Unerlöstheit des Lebens ein: „Kaum hatte ich einen Freund gefunden, da stürmte alle Bosheit der Welt wieder auf mich ein.”
Es ist, an diesem Punkt, ein großer Satz, weil in ihm alle Pole, zwischen die der Roman gespannt ist, schlicht, aber ergreifend anklingen: Die Verderbtheit der Welt und der Sturm des Lebens, die Einsamkeit und die Freundschaft, das Loslassen und das Gepacktwerden. Coleman Silk ist Altphilologe und hat über Jahrzehnte als Dekan das kleine Athena College zu einigem Ansehen geführt. Als er bei Zuckerman erscheint, ist er bereits 71. Seine glänzende akademische Karriere hat ein abruptes Ende gefunden: Zwei Jahre zuvor hatte er sich in einem Seminar nach zwei Studenten erkundigt, die seit Semesterbeginn noch nicht einmal erschienen waren. „Kennt jemand diese Leute?”, fragt er die anderen Studenten. „Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?”
Ein Huhn ohne Kopf
„Do they exist or are they spooks?”, fragt Silk im englischen Original (der Übersetzer Dirk van Gunsteren hat Hervorragendes geleistet, hier blieb ihm nichts anderes übrig, als in die Umschreibung auszuweichen). „Spook” heißt Gespenst, und das war – der Kontext der Äußerung zeigt es –, was Silk meinte. Das Wort hat im Amerikanischen aber noch eine andere, ältere Bedeutung: Es ist auch eine abfällige Bezeichnung für einen Schwarzen. Und wie sich herausstellt, handelt es sich bei den beiden abwesenden Studentinnen um Afroamerikaner, die nun das erste Mal auftreten, um ihrem Professor Rassismus vorzuwerfen. Was seine akademischen Vorlieben betrifft, ist Coleman nicht gerade ein Freund der Minoritäten-Studien, und so steht er plötzlich isoliert da, fallen gelassen von allen, die er einst selber förderte. So weitet sich die Albernheit zu einem veritablen College-Eklat aus, bei dem jeder versucht, sein Mütchen zu kühlen und die eigenen Schafe ins Trockene zu bringen. In einem Klima von Ehrgeiz, Heuchelei und politischer Korrektheit wird Silk stigmatisiert, bis er in Unehren den Bettel hinschmeißt.
Dieser Handlungsstrang, der den Roman in Gang bringt, hat alle Eigenschaften einer campus novel – keineswegs originell, aber sehr gekonnt erzählt. Aber überhaupt gilt für dieses Buch: Es werden sehr viele Geschichten erzählt, die alle für sich genommen ziemlich gut sind, aber wie bei einer atomaren Kettenreaktion erst in ihrer Verknüpfung zu jenem epischen Sturzbach anschwellen, dessen schäumende Kraft wie in einer griechischen Tragödie den Professor der Altphilologie und seine Welt mit sich reißt.
Man darf sich Silk nicht als verstaubten, knorzigen Gelehrten, nicht als Fausts Famulus Wagner vorstellen. Was ihn für die griechische Tragödie begeistert, ist deren dionysische Elementargewalt, die Nietzsche an ihr herausstrich. Das ist eine weitere Geschichte in diesem Buch: Der alte Coleman Silk lernt nach dem Tod seiner Frau die junge Faunia Farley kennen, die am College als Putzfrau arbeitet. Dank Viagra haben die beiden eine stürmische sexuelle Beziehung, die die Verhärtungen und Verhärmungen der leidigen Spook- Affäre von Coleman loslöst. Der alberne, bornierte Makel politischer Unkorrektheit hat das Leben klein gemacht. Jetzt befleckt ihn nur der gewaltige Makel des Verlangens, und plötzlich erscheint das Leben wieder groß.
Es ist dieser große Makel, den Roths Roman feiert, der Schmutz und die Erbsünde als Quellen der Vitalität, die das Leben über seine kleinen Verhältnisse hinauswachsen lassen. „The Human Stain” heißt das Buch im Original, und „stain” ist nicht nur im übertragenen Sinn der Schandfleck, sondern meint auch wörtlich das Färben und insofern auch den verbalen Akt, mit dem Silk seine beiden Studenten zu Farbigen macht. Es ist ein starker Titel, und seine volle Bedeutung erschließt sich erst, als Nathan Zuckerman sich daran macht, das erstaunliche Leben seines späten Nachbarns zu erforschen: Silks Lebensmakel ist es, den Makel seiner Herkunft verleugnet zu haben.
Er ist nämlich einer jener hellhäutigen Schwarzen, wie es sie in Amerika häufig gibt, zum Beispiel bei dem berühmten New York-Times- Literaturkritiker Anatole Broyard, dessen Lebensmaskerade Roth als Inspiration gedient haben mag. Mit seinem Eintritt in die Navy beschloss Coleman Silk – zwischen Kohle und Seide entscheidend – sich künftig als Weißer, genauer: als Jude auszugeben. Der menschliche Preis, den er dafür zu zahlen hat, ist immens: Er muss seine Familie verleugnen und sich komplett von ihr trennen.
Der große Gatsby
Wie Philip Roth diese unglaubliche Biografie schildert, ist groß, berührend und zwingend in jedem ihrer Momente. Nichts wirkt konstruiert, wenn die verdrängte Herkunft in der lächerlichen Gestalt der „spooks” Coleman Silk einholt und zu Fall bringt: Tragische Ironie, die bei Roth zugleich den Lebenswillen und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums feiert – trotz der Unmöglichkeit, seine Haut zu wechseln. Denn Roth hat die grandiose amerikanische Mythologie noch einmal in Szene gesetzt, den amerikanischen Traum, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, ganz ernst genommen und mit Coleman Silk eine Figur geschaffen, die mühelos neben einem anderen genialen Selbsterfinder der amerikanischen Literatur zu bestehen vermag: dem großen Gatsby. Und er hat diese Geschichte zugleich als Erzählung von der Gewalt des Sex ausgestaltet. Denn wir schreiben 1998: „Es war der Sommer, in dem jeder an den Penis des Präsidenten dachte und das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit Amerika wieder einmal in Verwirrung stürzte.”
Am Ende sucht Nathan Zuckerman Les, den Ex-Mann von Faunia, auf, an einem See, es ist Winter, Les angelt im Eis. Da heißt es: „Auf einem idyllischen Berg in Amerika sitzt ein Mann auf einem Eimer und fischt durch ein Loch im fünfundvierzig Zentimeter dicken Eis in einem See, dessen Wasser ständig erneuert und gereinigt wird.” Roth findet viele Bilder für die Versteinerung und Vereisung unserer Schicksalsmasken – aber auch für die Löcher in der Starre, aus deren Dunkel immer wieder der Puls sich erneuernden Lebens hervorschlägt. Dies ist eins davon.
IJOMA MANGOLD
PHILIP ROTH: Der menschliche Makel. Roman. Hanser Verlag, München 2002. 400 Seiten, 24,90 Euro.
Coleman Silk, Philip Roths Held, scheint erfolgreich die Haut zu wechseln. Aber am Ende kann er doch nicht heraus. Die Abbildung entnehmen wir dem Band: „Open City. Street Photographs since 1950.” Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2001. 205 Seiten, 39,80 Euro.
Bild: Garry Winograd: New
York City, ca 1969.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Aber erst im Schmutz findet das Leben zu sich selbst: Heute erscheint Philip Roths großer Roman „Der menschliche Makel”
Die Zartheit, die so zurückgenommen ist, dass sie ein untergründiges Pathos birgt, dem wir uns gerne hingeben, eben weil es sich uns nicht aufdrängt – diese Zartheit stellt sich in Büchern meist erst nach erheblichem epischen Vorlauf ein. Dann nämlich, wenn Leser und Buch so miteinander verbandelt sind, dass auch kleinste Nervenzuckungen des Textes den Leser sogleich berühren. Diese Gleichschaltung muss erst aufgebaut werden, und das braucht Erzählzeit. Thoas „Leb wohl” in der „Iphigenie” eignet dieses zarte Pathos ebenso wie Alkmenens „Ach”, beide sind nicht zufällig Schlussworte. „So lebte er hin”, heißt es am Ende von Büchners „Lenz” und, weil gut vorbereitet, scheint in diesem unauffälligen Satz die ganze Abgründigkeit eines verwirrten Lebens auf.
In seinem neuen Roman „Der menschliche Makel”, der heute auf deutsch in die Buchhandlungen kommt, gelingt Philip Roth bereits nach fünfzig Seiten ein solcher Satz. Das ist kein Kriterium im Sinne eines „schneller, weiter, höher”, es zeigt aber sehr gut, wie reich Roths Stoff ist, und wie meisterhaft er sich in ihm bewegt, dass nur wenige Kapitel genügen, um eine plastische Erzählwelt aufzubauen, in der jedem Satz ohne Prätention im Ohr des Lesers eine berückende Bedeutungsintensität zuwächst. „Kaum hatte ich einen Freund gefunden, da stürmte alle Bosheit der Welt wieder auf mich ein.” Der hier erzählt, ist Nathan Zuckerman, das aus vielen Büchern vertraute alter ego Philip Roths. Zuckerman ist mittlerweile ein alter Mann, der die intellektuelle Boheme Manhattens verlassen und sich in einem Willensakt lebensabendlicher Melancholie von den aufpeitschenden Verführungen und erschöpfenden Kämpfen des Lebens gelöst hat und die Zeit, die ihm noch bleibt, in der Einsiedelei der Berkshires verbringen möchte. Eine Prostataoperation mag die Entscheidung leichter gemacht haben, jetzt ist er impotent. Da lernt er Coleman Silk vom nahe gelegenen Athena College kennen.
Diesem Coleman Silk ist Unerhörtes widerfahren, und er möchte, dass Zuckerman, der berühmte Schriftsteller, das zu Papier bringt, damit die Welt begreift, welches Unrecht man ihm angetan hat. Und weil die beiden sich tatsächlich anfreunden, bricht über Zuckerman wieder die ganze Korruptheit, Gier und Unerlöstheit des Lebens ein: „Kaum hatte ich einen Freund gefunden, da stürmte alle Bosheit der Welt wieder auf mich ein.”
Es ist, an diesem Punkt, ein großer Satz, weil in ihm alle Pole, zwischen die der Roman gespannt ist, schlicht, aber ergreifend anklingen: Die Verderbtheit der Welt und der Sturm des Lebens, die Einsamkeit und die Freundschaft, das Loslassen und das Gepacktwerden. Coleman Silk ist Altphilologe und hat über Jahrzehnte als Dekan das kleine Athena College zu einigem Ansehen geführt. Als er bei Zuckerman erscheint, ist er bereits 71. Seine glänzende akademische Karriere hat ein abruptes Ende gefunden: Zwei Jahre zuvor hatte er sich in einem Seminar nach zwei Studenten erkundigt, die seit Semesterbeginn noch nicht einmal erschienen waren. „Kennt jemand diese Leute?”, fragt er die anderen Studenten. „Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?”
Ein Huhn ohne Kopf
„Do they exist or are they spooks?”, fragt Silk im englischen Original (der Übersetzer Dirk van Gunsteren hat Hervorragendes geleistet, hier blieb ihm nichts anderes übrig, als in die Umschreibung auszuweichen). „Spook” heißt Gespenst, und das war – der Kontext der Äußerung zeigt es –, was Silk meinte. Das Wort hat im Amerikanischen aber noch eine andere, ältere Bedeutung: Es ist auch eine abfällige Bezeichnung für einen Schwarzen. Und wie sich herausstellt, handelt es sich bei den beiden abwesenden Studentinnen um Afroamerikaner, die nun das erste Mal auftreten, um ihrem Professor Rassismus vorzuwerfen. Was seine akademischen Vorlieben betrifft, ist Coleman nicht gerade ein Freund der Minoritäten-Studien, und so steht er plötzlich isoliert da, fallen gelassen von allen, die er einst selber förderte. So weitet sich die Albernheit zu einem veritablen College-Eklat aus, bei dem jeder versucht, sein Mütchen zu kühlen und die eigenen Schafe ins Trockene zu bringen. In einem Klima von Ehrgeiz, Heuchelei und politischer Korrektheit wird Silk stigmatisiert, bis er in Unehren den Bettel hinschmeißt.
Dieser Handlungsstrang, der den Roman in Gang bringt, hat alle Eigenschaften einer campus novel – keineswegs originell, aber sehr gekonnt erzählt. Aber überhaupt gilt für dieses Buch: Es werden sehr viele Geschichten erzählt, die alle für sich genommen ziemlich gut sind, aber wie bei einer atomaren Kettenreaktion erst in ihrer Verknüpfung zu jenem epischen Sturzbach anschwellen, dessen schäumende Kraft wie in einer griechischen Tragödie den Professor der Altphilologie und seine Welt mit sich reißt.
Man darf sich Silk nicht als verstaubten, knorzigen Gelehrten, nicht als Fausts Famulus Wagner vorstellen. Was ihn für die griechische Tragödie begeistert, ist deren dionysische Elementargewalt, die Nietzsche an ihr herausstrich. Das ist eine weitere Geschichte in diesem Buch: Der alte Coleman Silk lernt nach dem Tod seiner Frau die junge Faunia Farley kennen, die am College als Putzfrau arbeitet. Dank Viagra haben die beiden eine stürmische sexuelle Beziehung, die die Verhärtungen und Verhärmungen der leidigen Spook- Affäre von Coleman loslöst. Der alberne, bornierte Makel politischer Unkorrektheit hat das Leben klein gemacht. Jetzt befleckt ihn nur der gewaltige Makel des Verlangens, und plötzlich erscheint das Leben wieder groß.
Es ist dieser große Makel, den Roths Roman feiert, der Schmutz und die Erbsünde als Quellen der Vitalität, die das Leben über seine kleinen Verhältnisse hinauswachsen lassen. „The Human Stain” heißt das Buch im Original, und „stain” ist nicht nur im übertragenen Sinn der Schandfleck, sondern meint auch wörtlich das Färben und insofern auch den verbalen Akt, mit dem Silk seine beiden Studenten zu Farbigen macht. Es ist ein starker Titel, und seine volle Bedeutung erschließt sich erst, als Nathan Zuckerman sich daran macht, das erstaunliche Leben seines späten Nachbarns zu erforschen: Silks Lebensmakel ist es, den Makel seiner Herkunft verleugnet zu haben.
Er ist nämlich einer jener hellhäutigen Schwarzen, wie es sie in Amerika häufig gibt, zum Beispiel bei dem berühmten New York-Times- Literaturkritiker Anatole Broyard, dessen Lebensmaskerade Roth als Inspiration gedient haben mag. Mit seinem Eintritt in die Navy beschloss Coleman Silk – zwischen Kohle und Seide entscheidend – sich künftig als Weißer, genauer: als Jude auszugeben. Der menschliche Preis, den er dafür zu zahlen hat, ist immens: Er muss seine Familie verleugnen und sich komplett von ihr trennen.
Der große Gatsby
Wie Philip Roth diese unglaubliche Biografie schildert, ist groß, berührend und zwingend in jedem ihrer Momente. Nichts wirkt konstruiert, wenn die verdrängte Herkunft in der lächerlichen Gestalt der „spooks” Coleman Silk einholt und zu Fall bringt: Tragische Ironie, die bei Roth zugleich den Lebenswillen und das Selbstbestimmungsrecht des Individuums feiert – trotz der Unmöglichkeit, seine Haut zu wechseln. Denn Roth hat die grandiose amerikanische Mythologie noch einmal in Szene gesetzt, den amerikanischen Traum, das Leben in die eigene Hand zu nehmen, ganz ernst genommen und mit Coleman Silk eine Figur geschaffen, die mühelos neben einem anderen genialen Selbsterfinder der amerikanischen Literatur zu bestehen vermag: dem großen Gatsby. Und er hat diese Geschichte zugleich als Erzählung von der Gewalt des Sex ausgestaltet. Denn wir schreiben 1998: „Es war der Sommer, in dem jeder an den Penis des Präsidenten dachte und das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit Amerika wieder einmal in Verwirrung stürzte.”
Am Ende sucht Nathan Zuckerman Les, den Ex-Mann von Faunia, auf, an einem See, es ist Winter, Les angelt im Eis. Da heißt es: „Auf einem idyllischen Berg in Amerika sitzt ein Mann auf einem Eimer und fischt durch ein Loch im fünfundvierzig Zentimeter dicken Eis in einem See, dessen Wasser ständig erneuert und gereinigt wird.” Roth findet viele Bilder für die Versteinerung und Vereisung unserer Schicksalsmasken – aber auch für die Löcher in der Starre, aus deren Dunkel immer wieder der Puls sich erneuernden Lebens hervorschlägt. Dies ist eins davon.
IJOMA MANGOLD
PHILIP ROTH: Der menschliche Makel. Roman. Hanser Verlag, München 2002. 400 Seiten, 24,90 Euro.
Coleman Silk, Philip Roths Held, scheint erfolgreich die Haut zu wechseln. Aber am Ende kann er doch nicht heraus. Die Abbildung entnehmen wir dem Band: „Open City. Street Photographs since 1950.” Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2001. 205 Seiten, 39,80 Euro.
Bild: Garry Winograd: New
York City, ca 1969.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.02.2002Die erlösende Verschmutzung
Rhapsodie des Lebens, Schule des Möglichkeitsdenkens: "Der menschliche Makel", Philip Roths großer amerikanischer Roman
Geheimnis" ist das Zauberwort. Es ist das Schibboleth der Kriminalgeschichten und der Psychoanalyse; es bezeichnet den Urgrund der Verbrechen, der Neurosen und der Mythen. Und es ist der Treibstoff der großen Geschichten, die von alldem erzählen. Philip Roths jüngster Roman ist eine große Geschichte. Das "Geheimnis" ist ihr Leitmotiv, und je häufiger das Wort erscheint, desto größer wird der Zauber.
Dabei scheint auf den ersten Blick noch alles taghell und klar. Der Held, der die Tragödie in Gang setzt, ist Professor für klassische Sprachen und Literatur an der neuenglischen Universität von (Nomen ist hier wie immer bei Roth überdeutlich Omen) Athena. Eine winzige sprachliche Fehlleistung, böswillig mißverstanden, kostet ihn die Stellung und den Ruf, läßt seinen perfekten Lebenslauf jählings abbrechen und führt, davon ist er überzeugt, sogar den Tod seiner Ehefrau herbei. Die Fehlleistung bestand in nur einem Wort: dem zwischen "Gespenst" und "Nigger" changierenden spooks, das in der deutschen Übersetzung wortreich, aber elegant umschrieben wird als "dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen". Daß der Universitätslehrer die Hautfarbe der vermeintlich verspotteten Studenten gar nicht kennen kann, nützt ihm zu seiner Verteidigung nichts mehr. Zu plausibel scheint das Bild vom jüdischen Intellektuellen, der die Schwarzen verhöhnt, zu unglaubwürdig dann die Litanei des zum Rücktritt Gezwungenen, der sich fortan von "schwarzem Antisemitismus" verfolgt fühlt. Einmal in Verdacht geraten, erscheint der weiße Rassist schließlich auch noch als sexueller Ausbeuter. Die Liebesbeziehung zwischen dem einundsiebzigjährigen Professor und der halb so alten Putzfrau seines Colleges nimmt eine junge, ehrgeizige und verbissene Kollegin zum Anlaß für anonyme Drohungen; die Denunziationen ziehen immer weitere Kreise, und bald ist Coleman Silk von Kollegen, Freunden und Kindern verlassen.
Nur Nathan Zuckerman steht ihm bei, der fiktionale Doppelgänger des Philip Roth und Erzähler auch dieses Romans, und die Geliebte selbst. Faunia ist die analphabetische Exfrau eines Vietnam-Veteranen, der sie mit Morddrohungen verfolgt, seit ihre während eines Liebesakts mit einem anderen Mann unbeaufsichtigten Kinder in der Wohnung verbrannt sind. Und da dieser Wahnsinnige überdies nicht nur "Schlitzaugen", sondern auch Juden verabscheut, richtet sich sein Vernichtungswillen bald auch auf Coleman Silk.
So weit die wilde Farce aus Sex, Mord und Totschlag und der political correctness, die in diesem Sommer des Jahres 1998 auch sonst explodiert, in dem sich ein puritanischer Lynchmob unter der Führung des Sonderermittlers Starr zum Angriff auf das liberale Amerika aufmacht. In der bizarren Parallelaktion um Coleman und Faunia, Monica und Bill ist jede Geschichte ein Zerrspiegel der anderen; aber Gut und Böse sind doch ebenso leicht faßlich wie, nun ja, Schwarz und Weiß. Was aber, wenn der weiße Rassist selber ein Schwarzer wäre und der Jude gar kein Jude?
Nach ziemlich genau hundert Seiten beginnen die Fronten und die Identitäten zu bröckeln, und am Ende wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Denn Coleman ist "einer der schlauesten Selbsterfinder, die es je gab". Weil er als ein Schwarzer mit nahezu weißer Pigmentierung zur Welt gekommen ist und weil der Heranwachsende "nicht schwarz, nicht weiß, sondern einfach frei und er selbst" sein wollte, hat er seine Familie verraten und sich bei der Navy als Jude ausgegeben, hat als Jude eine Jüdin geheiratet, ist der erste jüdische Professor auf seinem Lehrstuhl geworden. Daß er als jüdischer Rassist attackiert und am Ende als Jude getötet wird, ist die zynische Konsequenz einer Biographie, deren erstaunlichster Zug darin besteht, daß ihr Grundzug gar nicht erfunden ist. Den Rassenwechsel von Schwarz zu Weiß hat Roth dem Vorbild Anatole Boyards nachgestaltet, jenes Starkritikers der "New York Times", dessen erst postum gelüftetes Lebensgeheimnis die physisch nicht mehr wahrnehmbare "schwarze" Abkunft gewesen ist.
Nicht nur der allgegenwärtige Rassendiskurs, der unermüdlich Pigmente zählt und Haarkrausen deutet, muß sich vor diesen Kapriolen im Gestrüpp des eigenen Wahns verfangen, sondern überhaupt die Eindeutigkeit der Identitäten und Beziehungen. Wie sich herausstellt, ist Coleman keineswegs der einzige Selbsterfinder in dieser Geschichte. Seine Geliebte, für Freund und Feind Inbegriff der durch keine Schriftkultur verdorbenen Unschuld vom Lande, wird, was für eine Analphabetin immerhin erstaunlich ist, ein umfangreiches Tagebuch hinterlassen; Ursprung ihres Rollenwechsels ist kein rassisches, sondern ein sexuelles Stigma gewesen, der Mißbrauch durch den protestantischen Vater. Auch Colemans intrigante Feindin ist bei näherem Hinsehen weder seine Feindin noch intrigant; und der Vietnam-Veteran, der rassistische Mörder, den Roth uns mit unbarmherzigem und ebendeshalb barmherzigem Detailrealismus in der Höllenangst seiner Wachträume sehen läßt, erregt nicht nur Furcht und Schaudern, sondern Mitleid. So waghalsig Roth seine Figuren am Rande der Kolportage balancieren läßt, so triumphal verwandelt er vor unseren Augen Chargen in Charaktere.
Weil es in Colemans Drama keine Nebenfiguren gibt, ist es bald nicht mehr nur Colemans Drama. Die fünfaktige Tragödie vom Sturz eines Königs, der schon im vierten Akt stirbt, weitet sich aus zu jener Comédie humaine, auf die einmal beiläufig angespielt wird. Dabei schillert das antikisierende Gewand, das Roth ihr übergeworfen hat, in grellbunten Farben. Zotenreißende Studenten erscheinen als "Chor" des Lewinsky-Dramas und rächende Feministinnen als kollektive Klytämnestra. Coleman, dessen zweiter Vorname "Brutus" lautet, findet sich am Ende so folgerichtig in der Rolle des sterbenden Julius Cäsar wieder, wie er sich vom zürnenden Achill des Anfangs in einen todgeweihten Ödipus verwandelt hat. Er ist Pan und Dionysos; den Vergleich mit Zeus weist er nur zurück, weil dieser Ehrenname nach seiner bescheidenen Meinung eher dem wundertätigen Viagra gebührte. Aber auch wenn der schlaue Selbsterfinder noch häufiger in mythischen Spuren geht, als er selber ahnen mag, so regiert hier doch kein antikes Fatum mehr, sondern die Anarchie der Fortuna. "Welcher Wahnsinnige", fragt Zuckerman einmal, "hat sich das ausgedacht?"
Es ist seine Version der Theodizeefrage, und der Roman bildet den eigenwilligen Versuch einer Antwort. Seit jener traumatischen Nacht, in der eine weiße Prostituierte den weißen Navysoldaten als "echten schwarzen Nigger" hinausgeworfen und dann die Militärpolizei dem auf der Straße Liegenden die Worte "U.S. Navy" in den Oberarm tätowiert hat, trägt Coleman dieses Zeichen "seines Heldentums und seiner Schande" als Inschrift am eigenen Leib, Auszeichnung und Stigma zugleich. Seither plagt ihn "die Angst, demaskiert zu werden, und die Sehnsucht, erkannt zu werden: ein echtes Dilemma". Das Dilemma aufzulösen, zu erkennen, ohne zu demaskieren: davon handelt dieses Buch.
Indem die Tiefenschärfe dieser Porträts keine Ab- und Untergründe verborgen läßt, zeigen sie, wo die Dämmerungszone der letzten Geheimnisse beginnt. Roth folgt dem Modell des analytischen Dramas, aber in Schraubendrehungen, die in unauslotbare Vorgeschichten zurückführen: Es könnte immer noch einmal anders gewesen sein. Weil die Identitäten so brüchig sind, zögert der Erzähler die Identifikation seiner Figuren immer wieder irritierend hinaus. Seitenweise hören wir jemanden reden oder denken und sind gezwungen, uns irgendwie einen Reim auf diese "er" und "sie" zu machen; wenn wir dann zum Pronomen einen Namen erfahren, ist er nicht mehr nur des Rätsels Lösung, sondern zugleich sein Anfang. Dieser Roman ist eine Schule im Möglichkeitsdenken.
Leider, leider verliert Roth gegen Ende etwas von der Beherrschung, mit der er bis dahin Realismus und Parabel in schöner Balance gehalten hat, und zerredet seine Geschichte. Wenn die in ihr Stigma eingesperrte Faunia einen Monolog an eine eingesperrte Krähe richtet und mit den Worten "Du bist mein Schicksal" auch kurzsichtigste Leser auf das Gleichnis hinweist, wenn sie schließlich diesem verwunschenen Prinzen auch noch einen Heiratsantrag zuflüstert, dann ist mit dem bis dahin so sicheren Taktgefühl auch die Wirkung der Szene dahin. Zwar ist es wunderbar, daß ein Zuckerman mit amerikanischer Grandezza von der "Rhapsodie des Lebens" reden kann. Wie jede Unschuld, so nutzt sich auch diese bei zu häufigem Gebrauch ab. Daß "das Herz der menschlichen Finsternis unerklärlich" und "die Wahrheit über uns unendlich" sei, wird Lesern mitgeteilt, die ebendies doch längst als Bauprinzip dieser unendlichen Geschichte begriffen haben.
Auch die Zwillinge Anapher und Epipher, die in einem unbeachteten Moment aus dem Lehrbuch der Rhetorik in Roths Prosa gesprungen sein müssen, treiben ein manchmal ermüdendes Spiel. Es ist dieses Spiel mit der monotonen Wiederholung eines Wortes, dieses Spiel mit dem immer wiederholten Einsatz, dieses entnervende Spiel mit der variierenden Umschreibung, das auch als Spiel mit immer denselben Schlußworten auftauchen kann, als wiederholtes Echo auftauchen kann, bis zum Überdruß wieder auftauchen kann. Daß fast alle Figuren früher oder später in diesem Ton denken, beschädigt ihre Glaubwürdigkeit stärker als jede biographische Volte.
Das sind Schönheitsflecken, nicht mehr. Mit diesem Buch hat Roth endgültig The Great American Novel geschrieben, die Tragikomödie seines Landes im späten zwanzigsten Jahrhundert. Da darf Zuckermans Satz, Sex sei "die erlösende Verschmutzung", die "uns immer wieder daran erinnert, aus welchem Stoff wir gemacht sind", auch für den Roman gelten, in dem er steht. Dies ist ein großes Kunstwerk noch mit seinen Flecken und Rissen. Daß es selbst nicht unbefleckt ist vom menschlichen Makel, gehört zur Comédie humaine.
Philip Roth: "Der menschliche Makel". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2001. 400 S., geb., 24,90.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rhapsodie des Lebens, Schule des Möglichkeitsdenkens: "Der menschliche Makel", Philip Roths großer amerikanischer Roman
Geheimnis" ist das Zauberwort. Es ist das Schibboleth der Kriminalgeschichten und der Psychoanalyse; es bezeichnet den Urgrund der Verbrechen, der Neurosen und der Mythen. Und es ist der Treibstoff der großen Geschichten, die von alldem erzählen. Philip Roths jüngster Roman ist eine große Geschichte. Das "Geheimnis" ist ihr Leitmotiv, und je häufiger das Wort erscheint, desto größer wird der Zauber.
Dabei scheint auf den ersten Blick noch alles taghell und klar. Der Held, der die Tragödie in Gang setzt, ist Professor für klassische Sprachen und Literatur an der neuenglischen Universität von (Nomen ist hier wie immer bei Roth überdeutlich Omen) Athena. Eine winzige sprachliche Fehlleistung, böswillig mißverstanden, kostet ihn die Stellung und den Ruf, läßt seinen perfekten Lebenslauf jählings abbrechen und führt, davon ist er überzeugt, sogar den Tod seiner Ehefrau herbei. Die Fehlleistung bestand in nur einem Wort: dem zwischen "Gespenst" und "Nigger" changierenden spooks, das in der deutschen Übersetzung wortreich, aber elegant umschrieben wird als "dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen". Daß der Universitätslehrer die Hautfarbe der vermeintlich verspotteten Studenten gar nicht kennen kann, nützt ihm zu seiner Verteidigung nichts mehr. Zu plausibel scheint das Bild vom jüdischen Intellektuellen, der die Schwarzen verhöhnt, zu unglaubwürdig dann die Litanei des zum Rücktritt Gezwungenen, der sich fortan von "schwarzem Antisemitismus" verfolgt fühlt. Einmal in Verdacht geraten, erscheint der weiße Rassist schließlich auch noch als sexueller Ausbeuter. Die Liebesbeziehung zwischen dem einundsiebzigjährigen Professor und der halb so alten Putzfrau seines Colleges nimmt eine junge, ehrgeizige und verbissene Kollegin zum Anlaß für anonyme Drohungen; die Denunziationen ziehen immer weitere Kreise, und bald ist Coleman Silk von Kollegen, Freunden und Kindern verlassen.
Nur Nathan Zuckerman steht ihm bei, der fiktionale Doppelgänger des Philip Roth und Erzähler auch dieses Romans, und die Geliebte selbst. Faunia ist die analphabetische Exfrau eines Vietnam-Veteranen, der sie mit Morddrohungen verfolgt, seit ihre während eines Liebesakts mit einem anderen Mann unbeaufsichtigten Kinder in der Wohnung verbrannt sind. Und da dieser Wahnsinnige überdies nicht nur "Schlitzaugen", sondern auch Juden verabscheut, richtet sich sein Vernichtungswillen bald auch auf Coleman Silk.
So weit die wilde Farce aus Sex, Mord und Totschlag und der political correctness, die in diesem Sommer des Jahres 1998 auch sonst explodiert, in dem sich ein puritanischer Lynchmob unter der Führung des Sonderermittlers Starr zum Angriff auf das liberale Amerika aufmacht. In der bizarren Parallelaktion um Coleman und Faunia, Monica und Bill ist jede Geschichte ein Zerrspiegel der anderen; aber Gut und Böse sind doch ebenso leicht faßlich wie, nun ja, Schwarz und Weiß. Was aber, wenn der weiße Rassist selber ein Schwarzer wäre und der Jude gar kein Jude?
Nach ziemlich genau hundert Seiten beginnen die Fronten und die Identitäten zu bröckeln, und am Ende wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Denn Coleman ist "einer der schlauesten Selbsterfinder, die es je gab". Weil er als ein Schwarzer mit nahezu weißer Pigmentierung zur Welt gekommen ist und weil der Heranwachsende "nicht schwarz, nicht weiß, sondern einfach frei und er selbst" sein wollte, hat er seine Familie verraten und sich bei der Navy als Jude ausgegeben, hat als Jude eine Jüdin geheiratet, ist der erste jüdische Professor auf seinem Lehrstuhl geworden. Daß er als jüdischer Rassist attackiert und am Ende als Jude getötet wird, ist die zynische Konsequenz einer Biographie, deren erstaunlichster Zug darin besteht, daß ihr Grundzug gar nicht erfunden ist. Den Rassenwechsel von Schwarz zu Weiß hat Roth dem Vorbild Anatole Boyards nachgestaltet, jenes Starkritikers der "New York Times", dessen erst postum gelüftetes Lebensgeheimnis die physisch nicht mehr wahrnehmbare "schwarze" Abkunft gewesen ist.
Nicht nur der allgegenwärtige Rassendiskurs, der unermüdlich Pigmente zählt und Haarkrausen deutet, muß sich vor diesen Kapriolen im Gestrüpp des eigenen Wahns verfangen, sondern überhaupt die Eindeutigkeit der Identitäten und Beziehungen. Wie sich herausstellt, ist Coleman keineswegs der einzige Selbsterfinder in dieser Geschichte. Seine Geliebte, für Freund und Feind Inbegriff der durch keine Schriftkultur verdorbenen Unschuld vom Lande, wird, was für eine Analphabetin immerhin erstaunlich ist, ein umfangreiches Tagebuch hinterlassen; Ursprung ihres Rollenwechsels ist kein rassisches, sondern ein sexuelles Stigma gewesen, der Mißbrauch durch den protestantischen Vater. Auch Colemans intrigante Feindin ist bei näherem Hinsehen weder seine Feindin noch intrigant; und der Vietnam-Veteran, der rassistische Mörder, den Roth uns mit unbarmherzigem und ebendeshalb barmherzigem Detailrealismus in der Höllenangst seiner Wachträume sehen läßt, erregt nicht nur Furcht und Schaudern, sondern Mitleid. So waghalsig Roth seine Figuren am Rande der Kolportage balancieren läßt, so triumphal verwandelt er vor unseren Augen Chargen in Charaktere.
Weil es in Colemans Drama keine Nebenfiguren gibt, ist es bald nicht mehr nur Colemans Drama. Die fünfaktige Tragödie vom Sturz eines Königs, der schon im vierten Akt stirbt, weitet sich aus zu jener Comédie humaine, auf die einmal beiläufig angespielt wird. Dabei schillert das antikisierende Gewand, das Roth ihr übergeworfen hat, in grellbunten Farben. Zotenreißende Studenten erscheinen als "Chor" des Lewinsky-Dramas und rächende Feministinnen als kollektive Klytämnestra. Coleman, dessen zweiter Vorname "Brutus" lautet, findet sich am Ende so folgerichtig in der Rolle des sterbenden Julius Cäsar wieder, wie er sich vom zürnenden Achill des Anfangs in einen todgeweihten Ödipus verwandelt hat. Er ist Pan und Dionysos; den Vergleich mit Zeus weist er nur zurück, weil dieser Ehrenname nach seiner bescheidenen Meinung eher dem wundertätigen Viagra gebührte. Aber auch wenn der schlaue Selbsterfinder noch häufiger in mythischen Spuren geht, als er selber ahnen mag, so regiert hier doch kein antikes Fatum mehr, sondern die Anarchie der Fortuna. "Welcher Wahnsinnige", fragt Zuckerman einmal, "hat sich das ausgedacht?"
Es ist seine Version der Theodizeefrage, und der Roman bildet den eigenwilligen Versuch einer Antwort. Seit jener traumatischen Nacht, in der eine weiße Prostituierte den weißen Navysoldaten als "echten schwarzen Nigger" hinausgeworfen und dann die Militärpolizei dem auf der Straße Liegenden die Worte "U.S. Navy" in den Oberarm tätowiert hat, trägt Coleman dieses Zeichen "seines Heldentums und seiner Schande" als Inschrift am eigenen Leib, Auszeichnung und Stigma zugleich. Seither plagt ihn "die Angst, demaskiert zu werden, und die Sehnsucht, erkannt zu werden: ein echtes Dilemma". Das Dilemma aufzulösen, zu erkennen, ohne zu demaskieren: davon handelt dieses Buch.
Indem die Tiefenschärfe dieser Porträts keine Ab- und Untergründe verborgen läßt, zeigen sie, wo die Dämmerungszone der letzten Geheimnisse beginnt. Roth folgt dem Modell des analytischen Dramas, aber in Schraubendrehungen, die in unauslotbare Vorgeschichten zurückführen: Es könnte immer noch einmal anders gewesen sein. Weil die Identitäten so brüchig sind, zögert der Erzähler die Identifikation seiner Figuren immer wieder irritierend hinaus. Seitenweise hören wir jemanden reden oder denken und sind gezwungen, uns irgendwie einen Reim auf diese "er" und "sie" zu machen; wenn wir dann zum Pronomen einen Namen erfahren, ist er nicht mehr nur des Rätsels Lösung, sondern zugleich sein Anfang. Dieser Roman ist eine Schule im Möglichkeitsdenken.
Leider, leider verliert Roth gegen Ende etwas von der Beherrschung, mit der er bis dahin Realismus und Parabel in schöner Balance gehalten hat, und zerredet seine Geschichte. Wenn die in ihr Stigma eingesperrte Faunia einen Monolog an eine eingesperrte Krähe richtet und mit den Worten "Du bist mein Schicksal" auch kurzsichtigste Leser auf das Gleichnis hinweist, wenn sie schließlich diesem verwunschenen Prinzen auch noch einen Heiratsantrag zuflüstert, dann ist mit dem bis dahin so sicheren Taktgefühl auch die Wirkung der Szene dahin. Zwar ist es wunderbar, daß ein Zuckerman mit amerikanischer Grandezza von der "Rhapsodie des Lebens" reden kann. Wie jede Unschuld, so nutzt sich auch diese bei zu häufigem Gebrauch ab. Daß "das Herz der menschlichen Finsternis unerklärlich" und "die Wahrheit über uns unendlich" sei, wird Lesern mitgeteilt, die ebendies doch längst als Bauprinzip dieser unendlichen Geschichte begriffen haben.
Auch die Zwillinge Anapher und Epipher, die in einem unbeachteten Moment aus dem Lehrbuch der Rhetorik in Roths Prosa gesprungen sein müssen, treiben ein manchmal ermüdendes Spiel. Es ist dieses Spiel mit der monotonen Wiederholung eines Wortes, dieses Spiel mit dem immer wiederholten Einsatz, dieses entnervende Spiel mit der variierenden Umschreibung, das auch als Spiel mit immer denselben Schlußworten auftauchen kann, als wiederholtes Echo auftauchen kann, bis zum Überdruß wieder auftauchen kann. Daß fast alle Figuren früher oder später in diesem Ton denken, beschädigt ihre Glaubwürdigkeit stärker als jede biographische Volte.
Das sind Schönheitsflecken, nicht mehr. Mit diesem Buch hat Roth endgültig The Great American Novel geschrieben, die Tragikomödie seines Landes im späten zwanzigsten Jahrhundert. Da darf Zuckermans Satz, Sex sei "die erlösende Verschmutzung", die "uns immer wieder daran erinnert, aus welchem Stoff wir gemacht sind", auch für den Roman gelten, in dem er steht. Dies ist ein großes Kunstwerk noch mit seinen Flecken und Rissen. Daß es selbst nicht unbefleckt ist vom menschlichen Makel, gehört zur Comédie humaine.
Philip Roth: "Der menschliche Makel". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2001. 400 S., geb., 24,90
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