Produktdetails
  • Verlag: Penguin
  • ISBN-13: 9780141028729
  • Artikelnr.: 20922415
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2006

Im Nebelberg ein Degen
Indien ohne Folklore: Kiran Desai und ihr verlorenes Land / Von Wolfgang Schreiber
Die Welt im Umbruch zwischen alt und neu, ein riesiges Land zwischen abgelebt archaischer Tradition, Postkolonialismus und Globalisierung – und mittendrin Menschen, zerrissen zwischen dem „Erbe” ihres Landes und Lebens und dessen schleichender, jede Gewissheit aushöhlender Entleerung. Die Geschichte, die Kiran Desai von ihnen und dem Land erzählt, besteht notgedrungen aus Bruchstücken, vielen Schauplätzen, dramatischen Szenen, Rückblenden, Erinnerungen, die zu einem verschachtelten, bilderreich konzentrierten Kaleidoskop zusammenschießen.
      Die Autorin, 35-jährige Tochter der Schriftstellerin Anita Desai, der sie ihr Buch „in tiefer Liebe” widmet, studierte an der Columbia University und lebt heute abwechselnd in Indien, England und den USA – eine kulturell europäisierte Inderin, die das Programm der Entwurzelung am eigenen Leib erfahren hat. So ist das Erzählzentrum ihres „Indien-Romans” nicht an den mythischen Schauplätzen des Landes angesiedelt, gemalt in den Farben seiner alten Kulturen, Denkmäler oder Riten, auch nicht in den modern-chaotischen Metropolen, sondern fern jeder Folklore weit weg an der Peripherie eines „verlorenen Landes”.
      An einem Ort namens Kalimpong, in der Abgeschiedenheit nahe des Himalaya im Norden, sind Mitte der achtziger Jahre drei Menschen in einem heruntergekommenen Haus auf Gedeih und Verderb beisammen: das Mädchen Sai, die Protagonistin, in einer christlichen Klosterschule erzogen, die in der Pubertät ihre erste Liebe entdeckt, den Hauslehrer Gyan; ihr Großvater, ehemals Richter im indischen Beamtenapparat, in Cambridge ausgebildet und nun vergrämt; und in der schäbigen Küche des Hauses der Koch, der bei den Kolonialherren bessere Tage gesehen hat. Sein Sohn, illegaler Migrant in New York in niederster Arbeit, beschwichtigt den Vater mit Briefen angeblichen Glücks. Sie alle wurden zu Fremden, Gescheiterten. Und in das trügerische Idyll bricht terroristische Gewalt ein durch jugendliche Rebellen aus dem indischen Nepal, die die scheinbar heile Welt von Grund auf verstören – Akteure des indischen Ghurka-Aufstandes Mitte der Achtziger.          
    Die offenbar mühelose Kompositionskunst von Kiran Desai, mit Vitalität aus der Vielfalt genauer, unprätentiöser Natur- und  Menschenbeobachtung heraus entwickelt und lustvoll ausgebreitet, wird schon im ersten Kapitel dieses zweiten Desai-Romans evident. Auf wenigen Seiten, als eine Art Erzählexposition, skizziert und beschwört sie klar, einfach und voller Melancholie das, was das Land einmal war und in der Abgeschiedenheit vielleicht noch sein könnte – die Gegebenheiten der Natur und der Dinge, mit denen die Menschen leben (Robin Detje hat es ausgezeichnet aus dem Englischen übersetzt): „Der ganze Tag hatte in den Farben der Abenddämmerung geleuchtet, nun zog der Nebel wie ein Meerestier über die weiten Hänge der Berge, von ozeanischen Schatten und Abgründen beherrscht. Kurz stieß die aus Eis gehauene Spitze des fernen Kangchenjunga durch den dampfenden Dunst und die Winde um seinen Gipfel bliesen ein Schneewölkchen in den Himmel.”
Trügerische Idyllen,
tiefe Verstörungen,
verflogene Illusionen
Vielleicht ähnelt das, was Kiran Desai mit ihrem Roman an künstlerischer Wirkung erreichen kann und will, von fern und im Kleinformat den gewaltigen „Jahrestagen” des Uwe Johnson. Es sind Menschen in ihren seelischen Erschütterungen und komplizierten, machtlosen Verhältnissen, in all den kleinen, ehemals „ursprünglichen”, doch längst beschädigten Lebenszusammenhängen, die über Länder und Kontinente hinweg gleichsam als in ihren Schicksalen verbunden dargestellt werden. Und es ist der eindringliche, dabei liebevolle Blick für das zwiespältig oder erbarmungslos „sprechende” Detail, was diese Menschen und ihre Geschichten zum Greifen nahe bringt: etwa die tiefen, am Ende zerrissenen Gefühle des Mädchens Sai, das seine erste Liebe schon bald als etwas Unzulängliches begreift – an Sais Empfinden tastet sich die Autorin immer wieder vorsichtig heran: „ In ihrer romantischen Stimmung dachte sie, dass die Liebe sicher im Zwischenraum von Verlangen und Erfüllung wohnte, im Mangel, nicht in der Zufriedenheit. Die Liebe war im Schmerz, in der Vorfreude, im Rückzug, im ganzen Drumherum, nur nicht im Gefühl selbst.”
   Der Farbigkeit der Erzählformen mit all den hin und herschießenden Beobachtungen, Szenenwechseln und historischen Details – die politische Indien-Dimension ist eher schematisch ausgefallen –, entspricht die auktoriale Erzählhaltung einer scheinbar alles wissenden Instanz, die die Schauplätze und Begebenheiten des Romans aus ihrer vereinfachenden und zugleich verdichtenden Perspektive scheinbar immer wieder neu zusammensetzt – und nicht von ungefähr sich eines besonderen Mottos versichert hat. „Meine Menschlichkeit ist im Gefühl, dass wir Stimmen des gleichen Elends sind . . . Mein Vaterland ist ein Gitarrenakkord, einige Porträts und ein alter Degen”. Die Sätze von Jorge Luis Borges, die Kiran Desai ihrem Roman voranstellt, machen die Fallhöhe der erkämpften Freiheit wie der damit einhergehenden Verluste, der Anpassung, der „Verlorenheit”, spirituell erfahrbar.
     Am Ende wird alles traumatisch bei den Menschen in Kalimpong: Die Liebesgeschichte von Sai, der „Erbin des verlorenen Landes”, und ihres Gyan ist zerstört, da er sich den Zielen der Terroristen verpflichtet fühlte. Alle Illusionen sind verflogen, doch nicht alle Bindungen. Und aus New York kehrt endlich Biju, der Sohn des Kochs, in sein Indien heim – in der Fremde gescheitert, nach Hause gelangt als ein Fremder.
Kiran Desai
Erbin des verlorenen Landes
Roman. Aus dem Englischen von Robin Detje. Berlin Verlag, Berlin 2006. 429 Seiten, 19,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr