A landmark, radically uplifting account of our species’ progress, from one of the world's preeminent thinkers. “Unparalleled in its scope and ambition…All readers will learn something, and many will find the book fascinating.’—The Washington Post “Breathtaking. A new Sapiens!” —L'Express “Completely brilliant and utterly original ... a book for our epoch.”—Jon Snow, former presenter, Channel 4 News (UK) “A wildly ambitious attempt to do for economics what Newton, Darwin or Einstein did for their fields: develop a theory that explains almost everything.” —The New Statesman “An inspiring, readable, jargon-free and almost impossibly erudite masterwork.” —The New Statesman “[A] sweeping overview of cultural, technological and educational forces... Its breadth and ambition are reminiscent of Diamond’s Guns, Germs, and Steel and Harari’s Sapiens.”—Financial Times “Astounding in scope and insight...provides the keys to the betterment of our species.”—Nouriel Roubini, author of Crisis Economics “A masterful sweep through the human odyssey.... If you liked Sapiens, you'll love this.” —Lewis Dartnell, author of Origins “Oded Galor's attempt to unify economic theory is impressive and insightful.” —Will Hutton, The Guardian “A great historical fresco.” —Le Monde “It's a page-turner, a suspense-filled thriller full of surprises, mind-bending puzzles and profound insights!”—Glenn C. Loury, author of The Anatomy of Racial Inequality “Brilliantly weaves the threads of global economic history. A tour de force!”—Dani Rodrik, author of Straight Talk on Trade In a captivating journey from the dawn of human existence to the present, world-renowned economist and thinker Oded Galor offers an intriguing solution to two of humanity’s great mysteries. Why are humans the only species to have escaped—only very recently—the subsistence trap, allowing us to enjoy a standard of living that vastly exceeds all others? And why have we progressed so unequally around the world, resulting in the great disparities between nations that exist today? Galor’s gripping narrative explains how technology, population size, and adaptation led to a stunning “phase change” in the human story a mere two hundred years ago. But by tracing that same journey back in time and peeling away the layers of influence—colonialism, political institutions, societal structure, culture—he arrives also at an explanation of inequality’s ultimate causes: those ancestral populations that enjoyed fruitful geographical characteristics and rich diversity were set on the path to prosperity, while those that lacked it were disadvantaged in ways still echo today. As we face ecological crisis across the globe, The Journey of Humanity is a book of urgent truths and enduring relevance, with lessons that are both hopeful and profound: gender equality, investment in education, and balancing diversity with social cohesion are the keys not only to our species’ thriving but to its survival.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2022Im
Weltgarten
Gräuel sind nur Oberflächengekräusel:
Oded Galors ungewöhnlich optimistischer Blick
auf die Geschichte der Menschheit
VON GUSTAV SEIBT
Wenn man die Geschichte der menschlichen Gattung aus großer Entfernung betrachtet, dann zeigen sich zwei tiefgreifende Umbrüche. Der eine ist die neolithische Revolution, bei der die Menschen am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren sesshaft wurden, ihre Wirtschaft vom Jagen und Sammeln auf Ackerbau und Viehzucht umstellten und damit auch Arbeitsteilungen, Handwerk, Wissen, Künste, Schrift, differenzierte soziale Schichtungen und Herrschaftsformen entwickelten. Damals begann alles, was wir als menschliche Hochkultur beschreiben.
Die zweite dieser Fundamentalumwälzungen begann erst vor knapp 300 Jahren: die industrielle Revolution. Sie installierte einen selbsttragenden technischen Fortschritt, automatisierte weite Arbeitsgebiete, zapfte in großem Umfang fossile Energien an, entwickelte Formen von Echtzeit- und Distanzkommunikation über den ganzen Erdball – Telefon, Radio, Fernsehen, Internet –, sie steigerte Wohlstand und Konsum auf fantastische Höhen. Sie brachte damit allerdings auch das Ökosystem der Erde in eine beispiellose Krise. Die Menschheit wurde zu einer erdgeschichtlichen Macht. Man nennt es Anthropozän. Es ist der Moment, in dem wir leben.
Was aber ist der entscheidende Unterschied zwischen der nachneolithischen und der industriellen Epoche? Könnte man nicht einfach von einer ungeheuren Steigerung aller schon durch die Sesshaftwerdung erreichten Errungenschaften sprechen? Oded Galor, in den USA lehrender israelischer Ökonom, macht einen Hauptunterschied zum Angelpunkt seiner kurzen, weiträumigen Menschheitsgeschichte: Vor der industriellen Revolution wurden alle durch agrarische und technische Fortschritte erreichten Nahrungszugewinne alsbald vom Bevölkerungswachstum wieder aufgezehrt.
Man nennt es „malthusianische Falle“, nach dem englischen Ökonomen Thomas Malthus. Dieser stellte um 1800 die These auf, dass jede Ausweitung der Nahrungsbasis sogleich durch Bevölkerungsvermehrung wieder verschlungen werde – ganz wie im stationären Tierreich auch. Die Menschheit sei also zu einem Leben am Subsistenzminimum verdammt. Und im Blick auf die Jahrhunderte vor Malthus stimmte das auch. Bevölkerungsschwankungen folgten getreulich diesen Nahrungsspielräumen, die nicht nur durch handwerkliche Errungenschaften, sondern auch durch Seuchen- oder Kriegsverluste variierten.
Malthus entwarf seine Theorie allerdings genau in dem Moment, als ihre Geltung ans Ende kam. Denn das ist der entscheidende Unterschied, auf den es Galor ankommt: Das Industriesystem entkoppelte erstmals in der Geschichte technischen Wandel von Bevölkerungswachstum. Das wurde in Europa im Jahrhundert nach Malthus sichtbar. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen in den hochentwickelten Industriegesellschaften die Geburtenraten deutlich zu sinken – ein Trend, der sich bis heute fortsetzt und allmählich auch auf die postkolonialen Entwicklungsländer übergreift. Deren vor allem dem medizinischen Fortschritt geschuldete Bevölkerungsexplosion im 20. Jahrhundert war also nur eine vorübergehende Erscheinung. Die Zeichen stehen überall auf Rückgang. Das ist mit Blick auf den Klimawandel eine gute Nachricht.
Warum aber kam es so? Galors entscheidendes Wort heißt „Humankapital“. Der technische Fortschritt verlangte immer besser ausgebildete Menschen, nicht nur um ihn weiterzutreiben, sondern schon um die anspruchsvollen technisierten Wirtschaftsformen aufrechtzuerhalten. Ungelernte Arbeit, gar Kinderarbeit, Analphabetismus, körperliches Schuften bis zum frühen Verschleiß lohnte sich in einer hochtechnisierten Umgebung nicht mehr. So setzten sich evolutionär Familienmodelle durch, in denen weniger Kinder besser und langwieriger ausgebildet wurden, um dann produktiver zu arbeiten, um viel besser und auch länger zu leben. Qualität ging vor Quantität. Dazu gehörte die Möglichkeit für Frauen, am nichthäuslichen Wirtschaftsprozess mitzuarbeiten.
Im Industriesystem wird also nicht fürs Bevölkerungswachstum, sondern für Wohlstand und Konsum gearbeitet. Galor lässt keine Zweifel daran, dass er das für einen enormen Gewinn hält – die Menschheit befreite sich von elementarer Not. Kinderarbeit beispielsweise ist entgegen den Bildern, die die Romane von Charles Dickens hinterlassen haben, vor allem ein Kennzeichen vorindustrieller Agrarkulturen, während sie sich in der Industrie auf Dauer nicht lohnt – die braucht ausgebildete Arbeiter. Schon die Skandalisierung von Kinderarbeit seit dem 18. Jahrhundert kündigt den Zeitenwechsel an. Der neue Industriekapitalismus führte auf lange Sicht gerade nicht in die Verelendung, sondern zum Wohlstand für viele, so Galors optimistische Diagnose.
Galor nennt diese Umstellung von Masse auf Humankapital den „demografischen Übergang“, die größte Umwälzung der Menschheit seit 10 000 Jahren. Doch wie kam es dazu und warum zunächst nur an bestimmten Orten? Das ist die Frage, die seine Geschichte der Menschheitsreise eigentlich beantworten will.
Schon in den frühen sesshaften Kulturen gab es technisch-handwerklichen Fortschritt, außerdem wuchs die Bevölkerung so an, dass bald große Siedlungen und Städte entstanden. Der Fortschritt wurde in einem Umfeld, in dem technische Fähigkeiten dauerhaft überliefert und kommunikativ unentwegt erweitert wurden – hier ist die bloße Tatsache großer Menschenansammlungen wichtig –, allmählich selbsttragend. Wo viele Menschen zusammen sind, werden viele Ideen entwickelt, wo gutes Handwerk herrscht, können Erfinder ihre Ideen rasch ausprobieren und umsetzen. Dabei entstehen materielle Überschüsse, die nicht in mehr Kinder, sondern in die Ausbildung von weniger Kindern investiert werden – samt allen Freiheitsgewinnen, die damit möglich werden.
Das führt zur zweiten Frage, der nach dem Wo und Wann. Warum Europa? Das ist eine der meistbehandelten Fragen der Geschichtswissenschaft und des historischen Denkens. Angesichts der Jahrtausendzeiträume, die Galor überblickt, könnte man sie fast für zweitrangig halten, es geht in menschheitsgeschichtlichen Zeitdimensionen fast um Augenblicke, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Interessant ist es trotzdem, sich diese Fragen vorzulegen. Im zweiten Teil seines Buches sammelt Galor zahlreiche Faktoren, die von liberalen politischen Institutionen bis zu Klimafragen, von kleinteiliger Geografie (begünstigt Wettbewerb) bis zu religiösen Arbeitsethiken reichen. Kommt das Wasser eher von oben (Regenkulturen) oder aus den Flüssen (Flusskulturen)? Regen begünstigt Kleinbetriebe und Individualismus, Flüsse müssen kollektiv bewirtschaftet werden, sie fördern Despotien und Sklaverei, hemmen aber womöglich Ideenreichtum. Schwere Pflüge begünstigen Männerarbeit, bei leichten Harken können auch Frauen mithalten.
Dutzende solcher Überlegungen, die meisten aus der kulturhistorischen Tradition gut bekannt, stellt Galor an. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht der verbreiteten Versuchung erliegt, einen einzelnen Faktor (einen „Trick siebzehn“, mit dem Kulturtheorie sich gern populär macht) zu privilegieren, sondern viele Möglichkeiten erwägt.
Das macht Spaß, auch weil es den Blick auf soziale Tatsachen und ihre nicht immer offensichtlichen Funktionen öffnet. An einer Stelle allerdings vertut sich Galor in den Kategorien. Er hält menschliche Diversität oder Vielfalt, solange sie nicht das kooperative Vertrauen innerhalb von Gesellschaften in Gefahr bringt, für einen wichtigen Fortschrittsmotor. Dabei meint er zunächst genetische Vielfalt, und diese sei bei Bevölkerungen, die dem afrikanischen Ursprung der Menschheit geografisch näher blieben, zwangsläufig größer als bei Populationen, die sich durch Abspaltungen in immer entferntere Weltgegenden ausbreiteten, also in Europa größer als in Fernost oder in Südamerika.
Aber Galor geht aus von einem kulturellen Beispiel, der Entstehung des Rock’n’Roll im Zusammenwirken afrikanischer und europäischer Einwanderer in den USA. Doch das ist ein kultureller Begriff von Diversität, der sich nicht eins zu eins auf den genetischen abbilden lässt. Genetisch diverse Gesellschaften können kulturell – sprachlich, religiös, moralisch – natürlich völlig homogen sein. Die von Galor behauptete „Nähe zum afrikanischen Ursprung“ lässt sich in der von Wanderungen durchmischten europäisch-asiatischen Landmasse im Einzelnen kaum noch ausmachen. Und auch die genetisch abgelegenen mittelamerikanischen Populationen waren zu imponierenden hochkulturellen Leistungen fähig.
Galors Buch hat einen stringenten Gedankengang und eine überreiche Kasuistik, die Unmengen von Forschung verarbeitet. Und sie bietet einen optimistischen Ausblick: Die Kombination von langfristigem Bevölkerungsrückgang und technischem Fortschritt wird uns, so Galor, auch befähigen, dem Klimawandel zu trotzen. Weniger Menschen mit mehr Wohlstand seien weit weniger klimaschädlich als viele Menschen mit bescheidenem Wohlstand. Deshalb sollten die Entwicklungsländer auch nicht bestehende Industrien kopieren (damit würden sie immer hinterherhinken und das Klimaübel vermehren), sondern in die Ausbildung ihrer Kinder und in die Freiheit der Frauen investieren.
Wäre hier das eigentliche Ende der Geschichte? Kleinere, reichere Gesellschaften auf einer wieder geräumigeren Erde, ein von raffinierter Technik immer effizienter kultivierter Weltgarten mit frischer Luft und blauem Himmel? Kriege und Gräuel sind in Galors Welt nur Oberflächengekräusel. Im Jahrtausendblick zeigt sich, dass die Menschheit alle Zerstörungen immer wieder schnell ausgeglichen hat. Sie muss jetzt, daran lässt auch Galor keinen Zweifel, eine Klippe umschiffen. Aber dass sie das kann, auch daran hat dieses zuversichtliche Buch keinen Zweifel.
Kinderarbeit ist ein Kennzeichen
vorindustrieller Agrarkulturen,
in der Industrie lohnt sie nicht
Alle Zerstörungen hat die
Menschheit immer wieder
schnell ausgeglichen
Wirtschaftsforscher
Oded Galor Foto: Peter Goldberg
Fanal für die ewige Armut und Ungleichheit oder bloß bedauerliches Übergangsphänomen? Blick auf die Favela da Rocinha, den größten Slum Brasiliens, im Hintergrund die Skyline von Rio de Janeiro.
Foto: Imago
Oded Galor: The Journey of Humanity. Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann. DTV, München 2022.
382 Seiten 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Weltgarten
Gräuel sind nur Oberflächengekräusel:
Oded Galors ungewöhnlich optimistischer Blick
auf die Geschichte der Menschheit
VON GUSTAV SEIBT
Wenn man die Geschichte der menschlichen Gattung aus großer Entfernung betrachtet, dann zeigen sich zwei tiefgreifende Umbrüche. Der eine ist die neolithische Revolution, bei der die Menschen am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren sesshaft wurden, ihre Wirtschaft vom Jagen und Sammeln auf Ackerbau und Viehzucht umstellten und damit auch Arbeitsteilungen, Handwerk, Wissen, Künste, Schrift, differenzierte soziale Schichtungen und Herrschaftsformen entwickelten. Damals begann alles, was wir als menschliche Hochkultur beschreiben.
Die zweite dieser Fundamentalumwälzungen begann erst vor knapp 300 Jahren: die industrielle Revolution. Sie installierte einen selbsttragenden technischen Fortschritt, automatisierte weite Arbeitsgebiete, zapfte in großem Umfang fossile Energien an, entwickelte Formen von Echtzeit- und Distanzkommunikation über den ganzen Erdball – Telefon, Radio, Fernsehen, Internet –, sie steigerte Wohlstand und Konsum auf fantastische Höhen. Sie brachte damit allerdings auch das Ökosystem der Erde in eine beispiellose Krise. Die Menschheit wurde zu einer erdgeschichtlichen Macht. Man nennt es Anthropozän. Es ist der Moment, in dem wir leben.
Was aber ist der entscheidende Unterschied zwischen der nachneolithischen und der industriellen Epoche? Könnte man nicht einfach von einer ungeheuren Steigerung aller schon durch die Sesshaftwerdung erreichten Errungenschaften sprechen? Oded Galor, in den USA lehrender israelischer Ökonom, macht einen Hauptunterschied zum Angelpunkt seiner kurzen, weiträumigen Menschheitsgeschichte: Vor der industriellen Revolution wurden alle durch agrarische und technische Fortschritte erreichten Nahrungszugewinne alsbald vom Bevölkerungswachstum wieder aufgezehrt.
Man nennt es „malthusianische Falle“, nach dem englischen Ökonomen Thomas Malthus. Dieser stellte um 1800 die These auf, dass jede Ausweitung der Nahrungsbasis sogleich durch Bevölkerungsvermehrung wieder verschlungen werde – ganz wie im stationären Tierreich auch. Die Menschheit sei also zu einem Leben am Subsistenzminimum verdammt. Und im Blick auf die Jahrhunderte vor Malthus stimmte das auch. Bevölkerungsschwankungen folgten getreulich diesen Nahrungsspielräumen, die nicht nur durch handwerkliche Errungenschaften, sondern auch durch Seuchen- oder Kriegsverluste variierten.
Malthus entwarf seine Theorie allerdings genau in dem Moment, als ihre Geltung ans Ende kam. Denn das ist der entscheidende Unterschied, auf den es Galor ankommt: Das Industriesystem entkoppelte erstmals in der Geschichte technischen Wandel von Bevölkerungswachstum. Das wurde in Europa im Jahrhundert nach Malthus sichtbar. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen in den hochentwickelten Industriegesellschaften die Geburtenraten deutlich zu sinken – ein Trend, der sich bis heute fortsetzt und allmählich auch auf die postkolonialen Entwicklungsländer übergreift. Deren vor allem dem medizinischen Fortschritt geschuldete Bevölkerungsexplosion im 20. Jahrhundert war also nur eine vorübergehende Erscheinung. Die Zeichen stehen überall auf Rückgang. Das ist mit Blick auf den Klimawandel eine gute Nachricht.
Warum aber kam es so? Galors entscheidendes Wort heißt „Humankapital“. Der technische Fortschritt verlangte immer besser ausgebildete Menschen, nicht nur um ihn weiterzutreiben, sondern schon um die anspruchsvollen technisierten Wirtschaftsformen aufrechtzuerhalten. Ungelernte Arbeit, gar Kinderarbeit, Analphabetismus, körperliches Schuften bis zum frühen Verschleiß lohnte sich in einer hochtechnisierten Umgebung nicht mehr. So setzten sich evolutionär Familienmodelle durch, in denen weniger Kinder besser und langwieriger ausgebildet wurden, um dann produktiver zu arbeiten, um viel besser und auch länger zu leben. Qualität ging vor Quantität. Dazu gehörte die Möglichkeit für Frauen, am nichthäuslichen Wirtschaftsprozess mitzuarbeiten.
Im Industriesystem wird also nicht fürs Bevölkerungswachstum, sondern für Wohlstand und Konsum gearbeitet. Galor lässt keine Zweifel daran, dass er das für einen enormen Gewinn hält – die Menschheit befreite sich von elementarer Not. Kinderarbeit beispielsweise ist entgegen den Bildern, die die Romane von Charles Dickens hinterlassen haben, vor allem ein Kennzeichen vorindustrieller Agrarkulturen, während sie sich in der Industrie auf Dauer nicht lohnt – die braucht ausgebildete Arbeiter. Schon die Skandalisierung von Kinderarbeit seit dem 18. Jahrhundert kündigt den Zeitenwechsel an. Der neue Industriekapitalismus führte auf lange Sicht gerade nicht in die Verelendung, sondern zum Wohlstand für viele, so Galors optimistische Diagnose.
Galor nennt diese Umstellung von Masse auf Humankapital den „demografischen Übergang“, die größte Umwälzung der Menschheit seit 10 000 Jahren. Doch wie kam es dazu und warum zunächst nur an bestimmten Orten? Das ist die Frage, die seine Geschichte der Menschheitsreise eigentlich beantworten will.
Schon in den frühen sesshaften Kulturen gab es technisch-handwerklichen Fortschritt, außerdem wuchs die Bevölkerung so an, dass bald große Siedlungen und Städte entstanden. Der Fortschritt wurde in einem Umfeld, in dem technische Fähigkeiten dauerhaft überliefert und kommunikativ unentwegt erweitert wurden – hier ist die bloße Tatsache großer Menschenansammlungen wichtig –, allmählich selbsttragend. Wo viele Menschen zusammen sind, werden viele Ideen entwickelt, wo gutes Handwerk herrscht, können Erfinder ihre Ideen rasch ausprobieren und umsetzen. Dabei entstehen materielle Überschüsse, die nicht in mehr Kinder, sondern in die Ausbildung von weniger Kindern investiert werden – samt allen Freiheitsgewinnen, die damit möglich werden.
Das führt zur zweiten Frage, der nach dem Wo und Wann. Warum Europa? Das ist eine der meistbehandelten Fragen der Geschichtswissenschaft und des historischen Denkens. Angesichts der Jahrtausendzeiträume, die Galor überblickt, könnte man sie fast für zweitrangig halten, es geht in menschheitsgeschichtlichen Zeitdimensionen fast um Augenblicke, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Interessant ist es trotzdem, sich diese Fragen vorzulegen. Im zweiten Teil seines Buches sammelt Galor zahlreiche Faktoren, die von liberalen politischen Institutionen bis zu Klimafragen, von kleinteiliger Geografie (begünstigt Wettbewerb) bis zu religiösen Arbeitsethiken reichen. Kommt das Wasser eher von oben (Regenkulturen) oder aus den Flüssen (Flusskulturen)? Regen begünstigt Kleinbetriebe und Individualismus, Flüsse müssen kollektiv bewirtschaftet werden, sie fördern Despotien und Sklaverei, hemmen aber womöglich Ideenreichtum. Schwere Pflüge begünstigen Männerarbeit, bei leichten Harken können auch Frauen mithalten.
Dutzende solcher Überlegungen, die meisten aus der kulturhistorischen Tradition gut bekannt, stellt Galor an. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er nicht der verbreiteten Versuchung erliegt, einen einzelnen Faktor (einen „Trick siebzehn“, mit dem Kulturtheorie sich gern populär macht) zu privilegieren, sondern viele Möglichkeiten erwägt.
Das macht Spaß, auch weil es den Blick auf soziale Tatsachen und ihre nicht immer offensichtlichen Funktionen öffnet. An einer Stelle allerdings vertut sich Galor in den Kategorien. Er hält menschliche Diversität oder Vielfalt, solange sie nicht das kooperative Vertrauen innerhalb von Gesellschaften in Gefahr bringt, für einen wichtigen Fortschrittsmotor. Dabei meint er zunächst genetische Vielfalt, und diese sei bei Bevölkerungen, die dem afrikanischen Ursprung der Menschheit geografisch näher blieben, zwangsläufig größer als bei Populationen, die sich durch Abspaltungen in immer entferntere Weltgegenden ausbreiteten, also in Europa größer als in Fernost oder in Südamerika.
Aber Galor geht aus von einem kulturellen Beispiel, der Entstehung des Rock’n’Roll im Zusammenwirken afrikanischer und europäischer Einwanderer in den USA. Doch das ist ein kultureller Begriff von Diversität, der sich nicht eins zu eins auf den genetischen abbilden lässt. Genetisch diverse Gesellschaften können kulturell – sprachlich, religiös, moralisch – natürlich völlig homogen sein. Die von Galor behauptete „Nähe zum afrikanischen Ursprung“ lässt sich in der von Wanderungen durchmischten europäisch-asiatischen Landmasse im Einzelnen kaum noch ausmachen. Und auch die genetisch abgelegenen mittelamerikanischen Populationen waren zu imponierenden hochkulturellen Leistungen fähig.
Galors Buch hat einen stringenten Gedankengang und eine überreiche Kasuistik, die Unmengen von Forschung verarbeitet. Und sie bietet einen optimistischen Ausblick: Die Kombination von langfristigem Bevölkerungsrückgang und technischem Fortschritt wird uns, so Galor, auch befähigen, dem Klimawandel zu trotzen. Weniger Menschen mit mehr Wohlstand seien weit weniger klimaschädlich als viele Menschen mit bescheidenem Wohlstand. Deshalb sollten die Entwicklungsländer auch nicht bestehende Industrien kopieren (damit würden sie immer hinterherhinken und das Klimaübel vermehren), sondern in die Ausbildung ihrer Kinder und in die Freiheit der Frauen investieren.
Wäre hier das eigentliche Ende der Geschichte? Kleinere, reichere Gesellschaften auf einer wieder geräumigeren Erde, ein von raffinierter Technik immer effizienter kultivierter Weltgarten mit frischer Luft und blauem Himmel? Kriege und Gräuel sind in Galors Welt nur Oberflächengekräusel. Im Jahrtausendblick zeigt sich, dass die Menschheit alle Zerstörungen immer wieder schnell ausgeglichen hat. Sie muss jetzt, daran lässt auch Galor keinen Zweifel, eine Klippe umschiffen. Aber dass sie das kann, auch daran hat dieses zuversichtliche Buch keinen Zweifel.
Kinderarbeit ist ein Kennzeichen
vorindustrieller Agrarkulturen,
in der Industrie lohnt sie nicht
Alle Zerstörungen hat die
Menschheit immer wieder
schnell ausgeglichen
Wirtschaftsforscher
Oded Galor Foto: Peter Goldberg
Fanal für die ewige Armut und Ungleichheit oder bloß bedauerliches Übergangsphänomen? Blick auf die Favela da Rocinha, den größten Slum Brasiliens, im Hintergrund die Skyline von Rio de Janeiro.
Foto: Imago
Oded Galor: The Journey of Humanity. Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann. DTV, München 2022.
382 Seiten 26 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
A wildly ambitious attempt to do for economics what Newton, Darwin or Einstein did for their fields: develop a theory that explains almost everything ... an inspiring, readable, jargon-free and almost impossibly erudite masterwork, the boldest possible attempt to write the economic history of humanity New Statesman