Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2014Der Rückspiegel
der Eitelkeit
Eine Ideenkiste, rappelvoll:
James Boswells „Journal“
Eine „unsägliche Eitelkeit“ schrieb James Boswell sich selbst zu und die Neigung, alles aus der eigenen Perspektive „ins Überdimensionale zu steigern“. Das hört sich nicht wie eine Empfehlung an, ist aber eine, jedenfalls für den Verfasser eines Tagebuchs. James Boswell (1740–1795), den Freunde der Literaturgeschichte als Biografen des Doktor Johnson kennen, schrieb sein ganzes Leben an seinem Journal, erstaunlich für einen sonst so undisziplinierten Menschen.
Aber er war sich selbst nun mal wichtig, und es kam auch etwas dabei raus: eines der interessantesten Bücher des 18. Jahrhunderts. Denn der Autor ist eitel, aber er macht sich nichts vor; er ist sich selbst ein Problem, kein Gegenstand der Bewunderung, nicht durchweg jedenfalls. Boswell ist klar, dass er starker äußerer Reize bedarf. Deshalb der Hang zum Alkohol (nicht selten eine Flasche Port und mehr am Abend) und die merkwürdige Leidenschaft, Hinrichtungen zu besuchen, „obwohl ich starkes Mitleid mit den Opfern empfinde“. Noch mehr interessiert sich Boswell für Sex. Ein Homme à Femmes ist er nicht, aber ein ständiger Bordellgast. Das alles wird notiert, genau wie die Scham, schon wieder die Kontrolle über sich selbst verloren zu haben. Er ist kein guter Ehemann, das schmerzt ihn ernsthaft. Doch dann geht es mit „gewissen Aktivitäten im Konkubinat“ weiter.
Boswell führt das Journal um der Selbsterforschung willen. Auch was gegen ihn spricht, wird notiert. Es ist eine Gewissensprüfung, puritanisch inspiriert und auf eine Lebensführung angewandt, die wenig streng ist. Da gibt es viel festzuhalten. Die Freude an sich selbst und der Wunsch nach stets neuen Sensationen lässt Boswell die Gesellschaft großer Männer suchen. Er ist bei Voltaire und Rousseau zu Gast, immer wieder trifft er Samuel Johnson, um dessen Meinungen festzuhalten.
So entsteht eine rappelvolle Sammelbüchse ideengeschichtlicher Splitter, zum Beispiel zur Frage, warum weibliche Keuschheit so wichtig ist: davon „hängt aller Besitz in der Welt ab“. Zur Hilfe kommt Boswell seine beachtliche Ungeniertheit. So besucht er David Hume in den letzten Wochen seines Lebens. Hume fühlt den Tod nahen, ist aber offenbar in heiterer Verfassung, die Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele hält er für Humbug. Boswell notiert es mit Bewunderung, aber auch mit leisem Grauen, er denkt an seine fromme Mutter – und lenkt den Todkranken gleich aufs nächste heikle Thema zu.
Die schöne Ausgabe, die der Anglist Helmut Winkler bei Reclam herausgebracht hat, war lange vergriffen. Endlich ist sie wieder lieferbar. Sie macht einen Autor zugänglich, der in vorrevolutionärer Kulisse alle Selbstzweifel der Moderne kennt.
STEPHAN SPEICHER
James Boswell: Journal. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Helmut Winter. Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 502 Seiten, 17,95 Euro.
Er ist kein guter Ehemann,
das schmerzt ihn ernsthaft
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der Eitelkeit
Eine Ideenkiste, rappelvoll:
James Boswells „Journal“
Eine „unsägliche Eitelkeit“ schrieb James Boswell sich selbst zu und die Neigung, alles aus der eigenen Perspektive „ins Überdimensionale zu steigern“. Das hört sich nicht wie eine Empfehlung an, ist aber eine, jedenfalls für den Verfasser eines Tagebuchs. James Boswell (1740–1795), den Freunde der Literaturgeschichte als Biografen des Doktor Johnson kennen, schrieb sein ganzes Leben an seinem Journal, erstaunlich für einen sonst so undisziplinierten Menschen.
Aber er war sich selbst nun mal wichtig, und es kam auch etwas dabei raus: eines der interessantesten Bücher des 18. Jahrhunderts. Denn der Autor ist eitel, aber er macht sich nichts vor; er ist sich selbst ein Problem, kein Gegenstand der Bewunderung, nicht durchweg jedenfalls. Boswell ist klar, dass er starker äußerer Reize bedarf. Deshalb der Hang zum Alkohol (nicht selten eine Flasche Port und mehr am Abend) und die merkwürdige Leidenschaft, Hinrichtungen zu besuchen, „obwohl ich starkes Mitleid mit den Opfern empfinde“. Noch mehr interessiert sich Boswell für Sex. Ein Homme à Femmes ist er nicht, aber ein ständiger Bordellgast. Das alles wird notiert, genau wie die Scham, schon wieder die Kontrolle über sich selbst verloren zu haben. Er ist kein guter Ehemann, das schmerzt ihn ernsthaft. Doch dann geht es mit „gewissen Aktivitäten im Konkubinat“ weiter.
Boswell führt das Journal um der Selbsterforschung willen. Auch was gegen ihn spricht, wird notiert. Es ist eine Gewissensprüfung, puritanisch inspiriert und auf eine Lebensführung angewandt, die wenig streng ist. Da gibt es viel festzuhalten. Die Freude an sich selbst und der Wunsch nach stets neuen Sensationen lässt Boswell die Gesellschaft großer Männer suchen. Er ist bei Voltaire und Rousseau zu Gast, immer wieder trifft er Samuel Johnson, um dessen Meinungen festzuhalten.
So entsteht eine rappelvolle Sammelbüchse ideengeschichtlicher Splitter, zum Beispiel zur Frage, warum weibliche Keuschheit so wichtig ist: davon „hängt aller Besitz in der Welt ab“. Zur Hilfe kommt Boswell seine beachtliche Ungeniertheit. So besucht er David Hume in den letzten Wochen seines Lebens. Hume fühlt den Tod nahen, ist aber offenbar in heiterer Verfassung, die Vorstellung der Unsterblichkeit der Seele hält er für Humbug. Boswell notiert es mit Bewunderung, aber auch mit leisem Grauen, er denkt an seine fromme Mutter – und lenkt den Todkranken gleich aufs nächste heikle Thema zu.
Die schöne Ausgabe, die der Anglist Helmut Winkler bei Reclam herausgebracht hat, war lange vergriffen. Endlich ist sie wieder lieferbar. Sie macht einen Autor zugänglich, der in vorrevolutionärer Kulisse alle Selbstzweifel der Moderne kennt.
STEPHAN SPEICHER
James Boswell: Journal. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Helmut Winter. Reclam Verlag, Stuttgart 2014. 502 Seiten, 17,95 Euro.
Er ist kein guter Ehemann,
das schmerzt ihn ernsthaft
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