Sarah Waters' masterly novel is gripping, confident, unnerving and supremely entertaining Hilary Mantel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2011Der Untergang des Hauses Ayres
Spuk in viktorianischen Gemäuern: Der Schauer- und Gesellschaftsroman "Der Besucher" von Sarah Waters erzählt von Poltergeistern archetypischen Stils. Dieses Buch kommt aus der Vergangenheit und ist doch auf der Höhe der Zeit.
Da is was Böses in diesem Haus", merkt Betty, das Dienstmädchen, früher als ihre Herrschaften. Hundreds Hall, das altehrwürdige Herrenhaus in Warwickshire, befindet sich in einem desolaten Zustand: Die Fassaden bröckeln, die Stuckfriese und Regency-Tapeten blättern, die prächtigen Holzarbeiten verschimmeln, der Park verwildert. Die Ayres haben weder die Mittel noch genug Kraft und Zuversicht, um den Verfall aufzuhalten. Die reizende Hausherrin trauert um den Colonel, ihre schwindende Schönheit und ihre früh verstorbene Tochter Susan. Ihr Sohn Roderick, seit seinem Abschuss im Zweiten Weltkrieg mit einem bösen Bein und einem schwachen Nervenkostüm geschlagen, stöhnt unter der Last der Verantwortung. Seine Schwester Caroline stemmt sich tapfer gegen den Untergang des Hauses Ayres, aber sie macht sich keine Illusionen: Landadlige, die wie ihre kümmerlichen Pächter und Mägde in den Ruinen ihres einstigen Glanzes leben, werden nicht mehr gebraucht; Frauen, welche die fehlenden Gaben von Natur und Mitgift noch durch unvorteilhafte Kleidung, schlechten Geschmack und den robusten Charme eines Bauerntrampels unterstreichen, sind allenfalls noch für einen Landarzt wie Dr. Faraday eine gute Partie.
Es ist die Zeit der Lebensmittel- und Benzinrationierungen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die alte Gentry fürchtet unter der Labourregierung um ihre Privilegien, die Ärzteschaft die Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Das Sagen haben jetzt Aufsteiger wie der Bauunternehmer Babb, der Einfamilienhäuser im Park von Hundreds Hall errichtet, oder der Londoner Architekt Butler-Hyde, der für die alte Jungfer und ihren alten Kasten nur naserümpfende Verachtung übrighat. Das Bewusstsein, gesellschaftlich ein "Niemand" ohne Zukunft zu sein, führt Caroline und den Arzt zusammen, aber das Haus verweigert der Mesalliance seinen Segen. Es ist, ahnt Caroline, "als ob das Haus alle unseren wunden Punkte kennt und sie reizen will, einen nach dem andern". Erst muss der brave alte Haushund sterben, nachdem er plötzlich das Kind der Butler-Hydes angefallen hat. Dann kommt Roderick, der Kriegszitterer, in psychiatrische Obhut, weil sein Zimmer, sein Körper und schließlich auch sein Geist von unerklärlichen Brandflecken heimgesucht werden. In den Schränken und auf den Fluren von Hundreds Hall hört man immer öfter ein gespenstisches Scharren und Kratzen, Flattern und Pochen; das Telefon und die Dienstbotenglocken läuten wie von Geisterhand, das alte Hörrohr in Susans Kinderzimmer produziert Pfeiftöne und Atemgeräusche. Der Spuk bringt selbst die beherrschte, vernünftige Caroline zunehmend aus der Fassung; am Ende wird sich das Haus seiner Bewohner wie lästiger Gäste entledigt haben und in majestätischer Pracht vergammeln.
Die Waliserin Sarah Waters zieht die Schraube des Schauerromans so langsam, unerbittlich und altmeisterlich virtuos wie Henry James oder Daphne du Maurier an; Roderick heißt nicht zufällig wie der letzte Spross des Hauses Usher. Aber "Der Besucher" variiert nicht nur das klassische Horrormotiv des verfluchten Hauses. Das Gemäuer mag alt, der Spuk der Klopf- und Poltergeister archetypisch zeitlos sein, aber die Figuren sind psychologisch und soziologisch scharf konturiert. Waters erzählt stilecht betulich von den Geistern und Nachtseiten der Vernunft, die letztlich nur die Kehrseiten zeitgemäßer gesellschaftlicher und erotischer Spannungen sind.
"Der Besucher" ist ein schaurig-schöner Schmöker für lange, verregnete Abende, wenn das Feuerholz im Kamin knackt und das Läuten der Nachtglocke den redlichen Landarzt aus seinem Schlaf schreckt. Dr. Faraday ist als Arzt, spröder Junggeselle, besorgter Hausfreund und genreüblich unzuverlässiger Erzähler gleich mehrfach verpflichtet, rationale Erklärungen für die "Sinnestäuschungen" seiner Patienten zu liefern: nervliche Überlastung, gestörte Hirnfunktionen, technische Defekte, wunderliche Zufälle. Sein Kollege Seeley hat schon mal von Freud und C. G. Jung, Hysterie und paranormalen Materialisationen unbewusster Energien gehört. Aber der dröhnende Grobian kommentiert Faradays zart keimende Gefühle für Caroline mit Spott und sexistischer Häme, und so bleibt auch seine zutreffendste Diagnose ungehört: Leute wie die Ayres haben in England "ihre beste Zeit hinter sich, kein Wunder, wenn ihnen da jetzt auch noch die Nerven durchgehen".
Allerdings gehen auch mit Faraday hin und wieder die Nerven durch. Der steife, prüde, aufreizend selbstlose Freund der Familie will Caroline um jeden Preis heiraten, obwohl ihre strammen Waden und schäbigen Kleider ihn abstoßen und sie sein ungestümes Drängen eher duldet als erwidert. Als seine Braut die Hochzeit in letzter Sekunde absagt, lässt der Arzt sich zu Wutanfällen und Exzessen hinreißen, in denen sich die dunkle Nachtseite seiner Vernunft enthüllt: Ehrgeiz, Habgier, verletzter Stolz, Scham, Selbsthass. Wenn in Hundreds Hall ein böser Geist umgeht, dann ist es der "grundanständige" Dr. Faraday.
Als Schauerroman ist "Der Besucher" enttäuschend. Das Unheimliche kommt sehr langsam und auf leisen Pfoten dahergeschlichen, und es ist, ganz wie Seeley vermutete, keine Ausgeburt der Hölle, sondern nur das verdrängte Heimliche. Waters' Roman, 2009 immerhin für den Booker Prize nominiert, zieht seine Spannung und seinen erzählerischen Reiz nicht aus billigen Gruseleffekten, sondern aus den Abgründen bürgerlicher Seelen und der feinen Balance zwischen retardierenden und vorwärtsdrängenden Momenten. "Der Besucher" kommt aus der Vergangenheit, aber er ist auf der Höhe der Zeit: ein beinahe klassischer Gesellschafts- und ziemlich unromantischer Liebesroman in den abgetragenen Kostümen und abblätternden Kulissen des viktorianischen Schauerromans.
MARTIN HALTER.
Sarah Waters: "Der Besucher". Roman.
Aus dem Englischen von Ute Leibmann. Lübbe Ehrenwirt, Köln 2011. 572 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spuk in viktorianischen Gemäuern: Der Schauer- und Gesellschaftsroman "Der Besucher" von Sarah Waters erzählt von Poltergeistern archetypischen Stils. Dieses Buch kommt aus der Vergangenheit und ist doch auf der Höhe der Zeit.
Da is was Böses in diesem Haus", merkt Betty, das Dienstmädchen, früher als ihre Herrschaften. Hundreds Hall, das altehrwürdige Herrenhaus in Warwickshire, befindet sich in einem desolaten Zustand: Die Fassaden bröckeln, die Stuckfriese und Regency-Tapeten blättern, die prächtigen Holzarbeiten verschimmeln, der Park verwildert. Die Ayres haben weder die Mittel noch genug Kraft und Zuversicht, um den Verfall aufzuhalten. Die reizende Hausherrin trauert um den Colonel, ihre schwindende Schönheit und ihre früh verstorbene Tochter Susan. Ihr Sohn Roderick, seit seinem Abschuss im Zweiten Weltkrieg mit einem bösen Bein und einem schwachen Nervenkostüm geschlagen, stöhnt unter der Last der Verantwortung. Seine Schwester Caroline stemmt sich tapfer gegen den Untergang des Hauses Ayres, aber sie macht sich keine Illusionen: Landadlige, die wie ihre kümmerlichen Pächter und Mägde in den Ruinen ihres einstigen Glanzes leben, werden nicht mehr gebraucht; Frauen, welche die fehlenden Gaben von Natur und Mitgift noch durch unvorteilhafte Kleidung, schlechten Geschmack und den robusten Charme eines Bauerntrampels unterstreichen, sind allenfalls noch für einen Landarzt wie Dr. Faraday eine gute Partie.
Es ist die Zeit der Lebensmittel- und Benzinrationierungen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die alte Gentry fürchtet unter der Labourregierung um ihre Privilegien, die Ärzteschaft die Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Das Sagen haben jetzt Aufsteiger wie der Bauunternehmer Babb, der Einfamilienhäuser im Park von Hundreds Hall errichtet, oder der Londoner Architekt Butler-Hyde, der für die alte Jungfer und ihren alten Kasten nur naserümpfende Verachtung übrighat. Das Bewusstsein, gesellschaftlich ein "Niemand" ohne Zukunft zu sein, führt Caroline und den Arzt zusammen, aber das Haus verweigert der Mesalliance seinen Segen. Es ist, ahnt Caroline, "als ob das Haus alle unseren wunden Punkte kennt und sie reizen will, einen nach dem andern". Erst muss der brave alte Haushund sterben, nachdem er plötzlich das Kind der Butler-Hydes angefallen hat. Dann kommt Roderick, der Kriegszitterer, in psychiatrische Obhut, weil sein Zimmer, sein Körper und schließlich auch sein Geist von unerklärlichen Brandflecken heimgesucht werden. In den Schränken und auf den Fluren von Hundreds Hall hört man immer öfter ein gespenstisches Scharren und Kratzen, Flattern und Pochen; das Telefon und die Dienstbotenglocken läuten wie von Geisterhand, das alte Hörrohr in Susans Kinderzimmer produziert Pfeiftöne und Atemgeräusche. Der Spuk bringt selbst die beherrschte, vernünftige Caroline zunehmend aus der Fassung; am Ende wird sich das Haus seiner Bewohner wie lästiger Gäste entledigt haben und in majestätischer Pracht vergammeln.
Die Waliserin Sarah Waters zieht die Schraube des Schauerromans so langsam, unerbittlich und altmeisterlich virtuos wie Henry James oder Daphne du Maurier an; Roderick heißt nicht zufällig wie der letzte Spross des Hauses Usher. Aber "Der Besucher" variiert nicht nur das klassische Horrormotiv des verfluchten Hauses. Das Gemäuer mag alt, der Spuk der Klopf- und Poltergeister archetypisch zeitlos sein, aber die Figuren sind psychologisch und soziologisch scharf konturiert. Waters erzählt stilecht betulich von den Geistern und Nachtseiten der Vernunft, die letztlich nur die Kehrseiten zeitgemäßer gesellschaftlicher und erotischer Spannungen sind.
"Der Besucher" ist ein schaurig-schöner Schmöker für lange, verregnete Abende, wenn das Feuerholz im Kamin knackt und das Läuten der Nachtglocke den redlichen Landarzt aus seinem Schlaf schreckt. Dr. Faraday ist als Arzt, spröder Junggeselle, besorgter Hausfreund und genreüblich unzuverlässiger Erzähler gleich mehrfach verpflichtet, rationale Erklärungen für die "Sinnestäuschungen" seiner Patienten zu liefern: nervliche Überlastung, gestörte Hirnfunktionen, technische Defekte, wunderliche Zufälle. Sein Kollege Seeley hat schon mal von Freud und C. G. Jung, Hysterie und paranormalen Materialisationen unbewusster Energien gehört. Aber der dröhnende Grobian kommentiert Faradays zart keimende Gefühle für Caroline mit Spott und sexistischer Häme, und so bleibt auch seine zutreffendste Diagnose ungehört: Leute wie die Ayres haben in England "ihre beste Zeit hinter sich, kein Wunder, wenn ihnen da jetzt auch noch die Nerven durchgehen".
Allerdings gehen auch mit Faraday hin und wieder die Nerven durch. Der steife, prüde, aufreizend selbstlose Freund der Familie will Caroline um jeden Preis heiraten, obwohl ihre strammen Waden und schäbigen Kleider ihn abstoßen und sie sein ungestümes Drängen eher duldet als erwidert. Als seine Braut die Hochzeit in letzter Sekunde absagt, lässt der Arzt sich zu Wutanfällen und Exzessen hinreißen, in denen sich die dunkle Nachtseite seiner Vernunft enthüllt: Ehrgeiz, Habgier, verletzter Stolz, Scham, Selbsthass. Wenn in Hundreds Hall ein böser Geist umgeht, dann ist es der "grundanständige" Dr. Faraday.
Als Schauerroman ist "Der Besucher" enttäuschend. Das Unheimliche kommt sehr langsam und auf leisen Pfoten dahergeschlichen, und es ist, ganz wie Seeley vermutete, keine Ausgeburt der Hölle, sondern nur das verdrängte Heimliche. Waters' Roman, 2009 immerhin für den Booker Prize nominiert, zieht seine Spannung und seinen erzählerischen Reiz nicht aus billigen Gruseleffekten, sondern aus den Abgründen bürgerlicher Seelen und der feinen Balance zwischen retardierenden und vorwärtsdrängenden Momenten. "Der Besucher" kommt aus der Vergangenheit, aber er ist auf der Höhe der Zeit: ein beinahe klassischer Gesellschafts- und ziemlich unromantischer Liebesroman in den abgetragenen Kostümen und abblätternden Kulissen des viktorianischen Schauerromans.
MARTIN HALTER.
Sarah Waters: "Der Besucher". Roman.
Aus dem Englischen von Ute Leibmann. Lübbe Ehrenwirt, Köln 2011. 572 S., geb., 19,99 [Euro].
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