Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.07.2011Lasst die schwarzen Kindlein kommen
Andrea Levys Roman über die Sklaverei wagt bei aller Brutalität noch ein Happy End
Andrea Levy ist eine der Begründerinnen des "Black British Writing". Ihr Vater war an Bord der "Empire Windrush", des Schiffs, das die ersten Jamaikaner ins viel bewunderte, ferne Mutterland Britannien gebracht hatte. Levys erstes ins Deutsche übersetzte Buch, "Eine englische Art von Glück" (2007), verarbeitet die Erfahrungen der Generation ihrer Eltern, die in den späten vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Schwarze in einem noch sehr weißen England eine neue Heimat zu finden hoffen. Angesichts des Erfolgs dieses Romans, der unter anderem mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet wurde, knüpfen sich hohe Erwartungen an Levys aktuelles Buch, "Das lange Lied eines Lebens".
Diesmal wagt sich die Autorin geschichtlich noch weiter vor - oder vielmehr zurück: Wir befinden uns auf Jamaika, wo am 31. Juli 1838 die Sklaverei nach knapp dreihundert Jahren als leerer Sarg zu Grabe getragen wird. Geschichtlich symbolträchtige Gesten wie diese sind für Levy allerdings nebensächlich, da sie sich auf die Perspektive einer einzelnen Sklavin beschränkt. Da Levy auf keinerlei verlässliche Quellen zur Lebenswirklichkeit der Sklaven aus schwarzer Sicht zurückgreifen kann, sieht sie es als ihre Aufgabe an, der schweigenden Masse mittels ihres Romans eine Stimme zu verleihen. Der Vergleich mit Toni Morrisons "Menschenkind" (1987) drängt sich auf, doch wo die Nobelpreisträgerin den Horror der Sklaverei als Bewusstseinsstrom unmittelbar vergegenwärtigt, bewahren Humor und Mutterwitz Levys Protagonistin July davor, im Elend der Knechtschaft unterzugehen.
Am Anfang, so erklärt July, inzwischen eine alte Frau, die nun "Das lange Lied ihres Lebens" erzählt, stand nicht das Wort, sondern die Gewalttat, die zu ihrer Zeugung führte. Obwohl sie als Tochter des weißen Aufsehers wahrlich kein Kind der Liebe ist, liebt die Sklavin Kitty ihre kleine July über alles. Auch die Schwester des Plantagenbesitzers, Caroline Mortimer, ist von dem niedlichen "Negerkind" begeistert. Die Tochter wird kurzerhand von ihrer Mutter getrennt; statt wie diese als Feldsklavin zu enden, erlangt July den höheren Status einer Haussklavin.
Schon bald lernt sie, deren Haut für eine Mulattin dunkel ist, auch den Rassismus der Sklaven untereinander kennen. Nimrod fällt aus diesem Muster heraus: Er ist rabenschwarz, hässlich und hat Mundgeruch - aber er ist einer der ersten freien Schwarzen, denen July begegnet. Mit ihm zeugt sie einen in ihren Augen hässlichen kleinen Jungen, dessen sie sich auf der Schwelle des Pfarrhauses entledigt.
Mit dem Ende der Sklaverei tritt Robert Goodwin, britischer Theologe und Menschenfreund, auf den Plan. Er ist überzeugt, die befreiten Sklaven durch gutes Zureden zum freudigen Arbeiten motivieren zu können. Dass er July höflich fragt, ob sie ein eheliches Kind sei, offenbart seinen Mangel an Realitätssinn - ebenso wie seine Ehe mit Caroline, Julys Herrin, die er vor allem heiratet, um regelmäßig mit ihrer Dienerin verkehren zu können. Es entwickelt sich eine Ménage-à-trois, in der es July sogar bis aufs Familienporträt schafft.
Brutalität und Komik halten einander die Waage: Nach dem Versuch, die aufständischen Sklaven zu bändigen, jagt sich der Plantagenbesitzer eine Kugel in den Kopf - während July und Nimrod im selben Raum unter seinem Bett bibbern, auf dem sie sich in seiner Abwesenheit vergnügt hatten. Die Streiche, die die Sklaven ihren Herren spielen, setzen derart subversive Kräfte frei, dass sogar ein Roman über Sklaverei hier einmal plausibel auf ein Happy End hinauslaufen kann.
Eine erstaunlich leichte Lektüre also - und doch ein Roman mit literarischem Anspruch, weil er die Möglichkeiten seines eigenen Erzählens reflektiert. July will ihre Geschichte erzählen, doch zugleich fürchtet sie sich vor dem Schreiben, das ihre Herrin sie zwar gelehrt hat, das für Sklaven aber eigentlich tabu war. Ihre Ausdrucksweise orientiert sich am Roman des neunzehnten Jahrhunderts.
July ist keine verlässliche Erzählerin. So bietet sie dem Leser etwa alternative Berichte über ihre Geburt im Dezember, die ihr den Namen July eingebracht hat. Woher July überhaupt vieles von dem weiß, was sie erzählt, bleibt ungewiss. Aber ihre Identität entsteht glaubwürdig innerhalb des bekannten Dreiecks von Rasse, Geschlecht und Klasse. Andrea Levy verweist am Ende auf eine stattliche Liste von Quellen und Sekundärliteratur. Indem ihr "Langes Lied eines Lebens" etablierte Erzähltraditionen aufgreift und zugleich unterhöhlt, imitiert es literarisch den Widerstand der Sklaven gegen das System, dem sie unterworfen waren. Gerade so, wie das Kreolische der Karibik englische und muttersprachliche Elemente besitzt, ist dieser eigenwillige Erzählstil das Ergebnis der disharmonischen Symbiose zwischen der Literatur der Kolonialherren und dem Lied der alten Sklavin July. Erst vor wenigen Tagen ist Andrea Levy dafür mit dem Walter Scott Prize for historical fiction ausgezeichnet worden.
MARGRET FETZER
Andrea Levy: "Das lange Lied eines Lebens". Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 360 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Levys Roman über die Sklaverei wagt bei aller Brutalität noch ein Happy End
Andrea Levy ist eine der Begründerinnen des "Black British Writing". Ihr Vater war an Bord der "Empire Windrush", des Schiffs, das die ersten Jamaikaner ins viel bewunderte, ferne Mutterland Britannien gebracht hatte. Levys erstes ins Deutsche übersetzte Buch, "Eine englische Art von Glück" (2007), verarbeitet die Erfahrungen der Generation ihrer Eltern, die in den späten vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts als Schwarze in einem noch sehr weißen England eine neue Heimat zu finden hoffen. Angesichts des Erfolgs dieses Romans, der unter anderem mit dem Orange Prize for Fiction ausgezeichnet wurde, knüpfen sich hohe Erwartungen an Levys aktuelles Buch, "Das lange Lied eines Lebens".
Diesmal wagt sich die Autorin geschichtlich noch weiter vor - oder vielmehr zurück: Wir befinden uns auf Jamaika, wo am 31. Juli 1838 die Sklaverei nach knapp dreihundert Jahren als leerer Sarg zu Grabe getragen wird. Geschichtlich symbolträchtige Gesten wie diese sind für Levy allerdings nebensächlich, da sie sich auf die Perspektive einer einzelnen Sklavin beschränkt. Da Levy auf keinerlei verlässliche Quellen zur Lebenswirklichkeit der Sklaven aus schwarzer Sicht zurückgreifen kann, sieht sie es als ihre Aufgabe an, der schweigenden Masse mittels ihres Romans eine Stimme zu verleihen. Der Vergleich mit Toni Morrisons "Menschenkind" (1987) drängt sich auf, doch wo die Nobelpreisträgerin den Horror der Sklaverei als Bewusstseinsstrom unmittelbar vergegenwärtigt, bewahren Humor und Mutterwitz Levys Protagonistin July davor, im Elend der Knechtschaft unterzugehen.
Am Anfang, so erklärt July, inzwischen eine alte Frau, die nun "Das lange Lied ihres Lebens" erzählt, stand nicht das Wort, sondern die Gewalttat, die zu ihrer Zeugung führte. Obwohl sie als Tochter des weißen Aufsehers wahrlich kein Kind der Liebe ist, liebt die Sklavin Kitty ihre kleine July über alles. Auch die Schwester des Plantagenbesitzers, Caroline Mortimer, ist von dem niedlichen "Negerkind" begeistert. Die Tochter wird kurzerhand von ihrer Mutter getrennt; statt wie diese als Feldsklavin zu enden, erlangt July den höheren Status einer Haussklavin.
Schon bald lernt sie, deren Haut für eine Mulattin dunkel ist, auch den Rassismus der Sklaven untereinander kennen. Nimrod fällt aus diesem Muster heraus: Er ist rabenschwarz, hässlich und hat Mundgeruch - aber er ist einer der ersten freien Schwarzen, denen July begegnet. Mit ihm zeugt sie einen in ihren Augen hässlichen kleinen Jungen, dessen sie sich auf der Schwelle des Pfarrhauses entledigt.
Mit dem Ende der Sklaverei tritt Robert Goodwin, britischer Theologe und Menschenfreund, auf den Plan. Er ist überzeugt, die befreiten Sklaven durch gutes Zureden zum freudigen Arbeiten motivieren zu können. Dass er July höflich fragt, ob sie ein eheliches Kind sei, offenbart seinen Mangel an Realitätssinn - ebenso wie seine Ehe mit Caroline, Julys Herrin, die er vor allem heiratet, um regelmäßig mit ihrer Dienerin verkehren zu können. Es entwickelt sich eine Ménage-à-trois, in der es July sogar bis aufs Familienporträt schafft.
Brutalität und Komik halten einander die Waage: Nach dem Versuch, die aufständischen Sklaven zu bändigen, jagt sich der Plantagenbesitzer eine Kugel in den Kopf - während July und Nimrod im selben Raum unter seinem Bett bibbern, auf dem sie sich in seiner Abwesenheit vergnügt hatten. Die Streiche, die die Sklaven ihren Herren spielen, setzen derart subversive Kräfte frei, dass sogar ein Roman über Sklaverei hier einmal plausibel auf ein Happy End hinauslaufen kann.
Eine erstaunlich leichte Lektüre also - und doch ein Roman mit literarischem Anspruch, weil er die Möglichkeiten seines eigenen Erzählens reflektiert. July will ihre Geschichte erzählen, doch zugleich fürchtet sie sich vor dem Schreiben, das ihre Herrin sie zwar gelehrt hat, das für Sklaven aber eigentlich tabu war. Ihre Ausdrucksweise orientiert sich am Roman des neunzehnten Jahrhunderts.
July ist keine verlässliche Erzählerin. So bietet sie dem Leser etwa alternative Berichte über ihre Geburt im Dezember, die ihr den Namen July eingebracht hat. Woher July überhaupt vieles von dem weiß, was sie erzählt, bleibt ungewiss. Aber ihre Identität entsteht glaubwürdig innerhalb des bekannten Dreiecks von Rasse, Geschlecht und Klasse. Andrea Levy verweist am Ende auf eine stattliche Liste von Quellen und Sekundärliteratur. Indem ihr "Langes Lied eines Lebens" etablierte Erzähltraditionen aufgreift und zugleich unterhöhlt, imitiert es literarisch den Widerstand der Sklaven gegen das System, dem sie unterworfen waren. Gerade so, wie das Kreolische der Karibik englische und muttersprachliche Elemente besitzt, ist dieser eigenwillige Erzählstil das Ergebnis der disharmonischen Symbiose zwischen der Literatur der Kolonialherren und dem Lied der alten Sklavin July. Erst vor wenigen Tagen ist Andrea Levy dafür mit dem Walter Scott Prize for historical fiction ausgezeichnet worden.
MARGRET FETZER
Andrea Levy: "Das lange Lied eines Lebens". Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2011. 360 S., geb., 19,99 [Euro].
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