First published in 1924 in German, "The Magic Mountain" is the thoughtful and introspective novel by Nobel Prize laureate Thomas Mann. Widely regarded as one of the most important modern works of the 20th century, Mann's story follows the aristocratic Hans Castorp as he leaves his comfortable family home to visit his ailing friend in a distant sanatorium located high in the Swiss Alps. Castorp's stay begins as a brief vacation before he starts his adult life as an engineer in Germany and evolves into several years spent in this isolated institution recovering from a newly discovered illness. Castorp meets a fascinating cast of characters in his mountain retreat, including anarchists, socialists, and royalty, as he attempts to find meaning in his life. In a work acclaimed as both philosophical and deeply profound, Castorp and his fellow patients have little to do but consider their lives and fill their seemingly endless days with reflection and debate while the rest of Europe marches towards a world war. "The Magic Mountain" is a thought-provoking work that grapples with the eternal human concerns of love, money, politics, and the inexorable passage of time. This edition follows the translation of Helen Tracy Lowe-Porter and is printed on premium acid-free paper.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2013Sein letztes Jahr
Vor hundert Jahren begann Hans Castorps Untergang und die Zeit der großen Gereiztheit hatte die Welt erfasst. Was wir lesen, wenn wir heute den "Zauberberg" lesen
Es gibt keine Zeit mehr, nur noch Geschwindigkeit. Ein Jahr wie ein Onlinetag. Die Moden rasen dahin wie die Monate.
Von Frank Schirrmacher
Fast schon der Februar wieder vorbei? Jetzt aber schnell. Schnell zurück zu unserem alten Bekannten, ehe die Flut, von der er noch gar nichts ahnt, ihn hinwegspült. Zurück zu jenen Gestalten, die Florian Illies in seinem Buch "1913" so wundervoll wiederbelebt hat; aber nun noch ein Stück tiefer hinein in den Bergwerkstollen des Zauberbergs, in den Roman der Epoche.
Hans Castorp auf dem Berghof. Es ist sein sechstes und vorletztes Jahr. Gar nicht leicht, ihn im Jahr 1913 dingfest zu machen. Der Roman selbst ist schon ins Rollen und Rutschen geraten, es geht immer schneller hinab mit dem Erzählstrom. Man müsste eine Stecknadel nehmen und sie irgendwo in das siebente und letzte Kapitel des Werks hineinstechen. So haben das Entdecker mit Landkarten gemacht. So macht Thomas Mann es mit der Zeit.
Sticht man hinein, erkennt man, wie sehr man im Heute angekommen ist. Hier am Ende der Geschichte, die uns im Jahre 2013 genau hundert Jahre von der erzählten Zeit des Jahres 1913 trennt (und das verwirrenderweise auch das Jahr ist, in dem der echte Thomas Mann überhaupt den echten "Zauberberg" zu schreiben begann), hier also unter dem Datum "Berghof 1913" gibt es eigentlich gar keine Zeit mehr, nur noch Geschwindigkeit. Ein Jahr wie ein Onlinetag. Die Moden rasen dahin wie die Monate. Eben haben die Sanatoriumsgäste sich noch wie verrückt mit Fotografieren und dem Herumschicken und -schenken von Fotos beschäftigt, und dann kommt schon die nächste Erfindung, der "Musiksarg", das Grammophon, das es erlaubt, Musik mehr oder minder mobil, jedenfalls ohne Zuhilfenahme eines Instruments oder gar eines ganzen Orchesters zu hören. Hundert Jahre dauert es, bis das Grammophon im Fotoapparat und der Fotoapparat im Grammophon steckt, und heute befinden sich auch noch die Zeitungen in dem gleichen winzigen Gerät (und der Lageplan von Davos und auch der ganze "Zauberberg"-Roman) - eine Vorstellung, die bei unserem Bekannten einen irren Blick ausgelöst hätte. Zeitungen liest er sowieso keine, was sich ein Jahr später, als ihn der Krieg unvorbereitet trifft, als Nachteil erweisen sollte.
Es steht nicht gut heute vor hundert Jahren im Sanatorium "Berghof". Einst waren nur die Lungen vergiftet, jetzt sind es die Köpfe. "Der große Stumpfsinn" hatte, wie der Erzähler schreibt, seine Bewohner schon eine ganze Weile mit seinem Bann belegt, und nun wird er zur Krankheit, er wird gewissermaßen grüner und böser, und jeden neu Hinzutretenden überkommt er sofort wie ein böser Atem, dessen Keime in der Luft liegen. Die Infektion, die im Jahre 1913 in dem vornehmen Haus herrscht, ist schlimmer und offenbar unheilbarer als die Lungenkrankheit, und sie trägt den Namen "Die große Gereiztheit", eine Mischung aus schlechter Laune, bad karma und Ressentiment. "Was gab es denn? Was lag in der Luft? - Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge." Man sieht: Das ging auch ohne Internet.
So also trifft man Hans Castorp an, und Leser des Romans wissen, dass damit natürlich auf die großen Gereiztheiten im Flachland angespielt werden soll, auf die Unruhen und Konflikte der europäischen Völker und ihrer Herrscher, die bald zum Ausbruch kommen würden. Aber während die Geschichtsbücher von "Spannungen" reden, wenn es um Staaten geht, ist es viel interessanter, heute noch einmal die Psychopathologie des Alltagslebens in einem der großen Romane der Weltliteratur zu studieren. So ineinanderfließend die Jahre Hans Castorps am Ende sind, es ist aus heutigem Abstand immer noch faszinierend zu sehen, wie Thomas Mann durch die "große Gereiztheit" des Jahres 1913 die ersten Keime der neuen Volkskrankheiten der anbrechenden Epoche in die Atmosphäre seines Buches eindringen lässt.
Der erste Antisemit taucht auf, ein Vergifter, wie er in den Räumen des "Zauberbergs" noch niemals gesehen wurde, und mit ihm die Vorboten von Rassenwahn und Hass. Herr Wiedemann liest auch keine Zeitungen und bestimmt keine Bücher, hält dafür aber "Die arische Leuchte" im Abonnement. Lichtjahre entfernt scheinen in diesem Augenblick all jene Kapitel, in denen von Humaniora, Aufklärung, Vernunft und auch vom Gottesstaat geredet wurde - und genau das sollen sie auch. Wiedemanns Geisteskrankheit tritt in diesen durch und durch diskursiven Roman ein wie eine Naturgewalt. Die Beschleunigung ist nicht nur ein Erzählprinzip des Romans, sie ist das Abbild der politischen Dynamiken, die längst den Kontinent ergriffen haben.
Ohne es auszusprechen, kündigt der Roman im Jahre 1913 eine neue Epoche an, die weit über den "Donnerschlag" des Ersten Weltkriegs hinausweist. Natürlich war Thomas Mann kein Hellseher. Aber - um die Zahlenkonfusion komplett zu machen - er begann den "Zauberberg" zwar 1913, aber das Kapitel, das heute vor hundert Jahren spielt, schrieb er erst knapp zehn Jahre später: zu einem Zeitpunkt, als, besonders in München, niemandem entgehen konnte, dass die Wiedemanns den Krieg überlebt hatten.
Das alles wäre nicht aufschreibenswert, wenn es sich nicht im Kosmos des Romans ereignen würde. Der "Zauberberg" ist nicht nur seit Generationen für jeden Leser eine lebenslange Verführung, der Welt ein für alle Mal abhandenzukommen: ein Leben außerhalb von Erwartungen und Ansprüchen anderer, ein Dasein, der Selbsterkenntnis und Liebe gewidmet, wobei auch diese Liebe vergeblich, aber keineswegs lebensgefährlich ist. Der Roman ist aber vor allem das große Dementi eines alten Traums von Aufklärern, Bildungsbürgern und Geistes-Ärzten aller Art: der Hoffnung, der Mensch könne einen Zustand der Reflexion und Verinnerlichung erreichen, die ihn immun macht gegen Infektionen und Bazillen aller Art.
Diese letzte Erkenntnis, dass Denken zur Krankheit und das heißt: zur Ideologie werden kann, ist der Zustand, in dem wir unseren alten Bekannten heute vor hundert Jahren antreffen könnten - wenn er denn je gelebt hätte. Kein Wunder, dass Naphta, der an sich und seiner Ideologie leidende Seelenterrorist, jetzt gleich (im Februar 1914) Selbstmord begehen wird. Die Zeit der großen und bösen Gedanken endet, wenn Gedanken zu Taten werden. Die Übergangszeit ist eine gleichsam sensorische Phase. Eine Phase, in der Gedanken gewissermaßen sofort die Nerven reizen, eine Ära der Ungeduld, des Hasses, des Streits, der "großen Gereiztheit".
Wie groß war die Intuition Thomas Manns, diesen zweiten großen Teil der Jahrhundertkatastrophe so vorausgespürt zu haben. Und welcher Stich ins schlichtweg Unheimliche, wenn man sich klarmacht, dass in dem Augenblick, wo Hans Castorps "Berghof", dieser Ort der europäischen Kontemplation, auf dem Schreibtisch des Schriftstellers buchstäblich auseinanderfliegt, ein anderer "Berghof" im Begriff ist, zum Symbol dieses neuen Unglücks zu werden.
Wer braucht Zeitreisen, wo es Romane gibt? Hans Castorp 1913 zeigt uns den Menschen, der nicht ahnt, was ein Jahr später kommt. Thomas Mann 1923 zeigt uns einen Autor, der, nun aus dem Wissen, was geschah, seine Leser gegen den Ausbruch einer neuen Krankheit impfen will, nicht ahnend, wie schlimm es genau zehn Jahre später wirklich werden sollte. Und nicht ahnend, dass das Manuskript des "Zauberbergs", das jetzt im Oktober 1923 fast fertig war, in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs verbrennen würde.
Hans Castorp 1913 - das ist keine Fiktion, das ist längst Bestandteil einer Wirklichkeit geworden, die durch das Buch selbst verändert wurde. Man muss sich vorstellen, wer das alles las und in seinem Kopf behielt, ohne Suchmaschine und digitalen Speicher. "Die Größe der Darstellung ist unerhört", schrieb einer, der das Werk kurz nach Erscheinen las, an seine Studentin, ". . . dass das Dasein von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt, das ist mit einer Meisterschaft angesetzt, dass ich vorläufig einzig darauf konzentriert bleibe." So schrieb es Martin Heidegger in einem Brief an Hannah Arendt. Immunisiert hat es ihn nicht.
Eine Selbstimpfung mit ungewissem Ausgang ist der "Zauberberg" bis heute geblieben und eine Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse.
Wir haben Hans Castorp noch einmal kurz am Jackett festgehalten in seinem letzten, fast schon zu Ende gehenden Jahr. Gleich verschwindet er. Aber wer ihn noch nicht kannte oder wer ihn vergaß und wer im Februar 2013 einmal mit einem umgedrehten Fernglas auf sich selbst zurückblicken will, der hat es gut: Er muss den "Zauberberg" einfach nur lesen. Er tut gut. Er verändert die Luft, die wir atmen.
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Vor hundert Jahren begann Hans Castorps Untergang und die Zeit der großen Gereiztheit hatte die Welt erfasst. Was wir lesen, wenn wir heute den "Zauberberg" lesen
Es gibt keine Zeit mehr, nur noch Geschwindigkeit. Ein Jahr wie ein Onlinetag. Die Moden rasen dahin wie die Monate.
Von Frank Schirrmacher
Fast schon der Februar wieder vorbei? Jetzt aber schnell. Schnell zurück zu unserem alten Bekannten, ehe die Flut, von der er noch gar nichts ahnt, ihn hinwegspült. Zurück zu jenen Gestalten, die Florian Illies in seinem Buch "1913" so wundervoll wiederbelebt hat; aber nun noch ein Stück tiefer hinein in den Bergwerkstollen des Zauberbergs, in den Roman der Epoche.
Hans Castorp auf dem Berghof. Es ist sein sechstes und vorletztes Jahr. Gar nicht leicht, ihn im Jahr 1913 dingfest zu machen. Der Roman selbst ist schon ins Rollen und Rutschen geraten, es geht immer schneller hinab mit dem Erzählstrom. Man müsste eine Stecknadel nehmen und sie irgendwo in das siebente und letzte Kapitel des Werks hineinstechen. So haben das Entdecker mit Landkarten gemacht. So macht Thomas Mann es mit der Zeit.
Sticht man hinein, erkennt man, wie sehr man im Heute angekommen ist. Hier am Ende der Geschichte, die uns im Jahre 2013 genau hundert Jahre von der erzählten Zeit des Jahres 1913 trennt (und das verwirrenderweise auch das Jahr ist, in dem der echte Thomas Mann überhaupt den echten "Zauberberg" zu schreiben begann), hier also unter dem Datum "Berghof 1913" gibt es eigentlich gar keine Zeit mehr, nur noch Geschwindigkeit. Ein Jahr wie ein Onlinetag. Die Moden rasen dahin wie die Monate. Eben haben die Sanatoriumsgäste sich noch wie verrückt mit Fotografieren und dem Herumschicken und -schenken von Fotos beschäftigt, und dann kommt schon die nächste Erfindung, der "Musiksarg", das Grammophon, das es erlaubt, Musik mehr oder minder mobil, jedenfalls ohne Zuhilfenahme eines Instruments oder gar eines ganzen Orchesters zu hören. Hundert Jahre dauert es, bis das Grammophon im Fotoapparat und der Fotoapparat im Grammophon steckt, und heute befinden sich auch noch die Zeitungen in dem gleichen winzigen Gerät (und der Lageplan von Davos und auch der ganze "Zauberberg"-Roman) - eine Vorstellung, die bei unserem Bekannten einen irren Blick ausgelöst hätte. Zeitungen liest er sowieso keine, was sich ein Jahr später, als ihn der Krieg unvorbereitet trifft, als Nachteil erweisen sollte.
Es steht nicht gut heute vor hundert Jahren im Sanatorium "Berghof". Einst waren nur die Lungen vergiftet, jetzt sind es die Köpfe. "Der große Stumpfsinn" hatte, wie der Erzähler schreibt, seine Bewohner schon eine ganze Weile mit seinem Bann belegt, und nun wird er zur Krankheit, er wird gewissermaßen grüner und böser, und jeden neu Hinzutretenden überkommt er sofort wie ein böser Atem, dessen Keime in der Luft liegen. Die Infektion, die im Jahre 1913 in dem vornehmen Haus herrscht, ist schlimmer und offenbar unheilbarer als die Lungenkrankheit, und sie trägt den Namen "Die große Gereiztheit", eine Mischung aus schlechter Laune, bad karma und Ressentiment. "Was gab es denn? Was lag in der Luft? - Zanksucht. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zu giftigem Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge." Man sieht: Das ging auch ohne Internet.
So also trifft man Hans Castorp an, und Leser des Romans wissen, dass damit natürlich auf die großen Gereiztheiten im Flachland angespielt werden soll, auf die Unruhen und Konflikte der europäischen Völker und ihrer Herrscher, die bald zum Ausbruch kommen würden. Aber während die Geschichtsbücher von "Spannungen" reden, wenn es um Staaten geht, ist es viel interessanter, heute noch einmal die Psychopathologie des Alltagslebens in einem der großen Romane der Weltliteratur zu studieren. So ineinanderfließend die Jahre Hans Castorps am Ende sind, es ist aus heutigem Abstand immer noch faszinierend zu sehen, wie Thomas Mann durch die "große Gereiztheit" des Jahres 1913 die ersten Keime der neuen Volkskrankheiten der anbrechenden Epoche in die Atmosphäre seines Buches eindringen lässt.
Der erste Antisemit taucht auf, ein Vergifter, wie er in den Räumen des "Zauberbergs" noch niemals gesehen wurde, und mit ihm die Vorboten von Rassenwahn und Hass. Herr Wiedemann liest auch keine Zeitungen und bestimmt keine Bücher, hält dafür aber "Die arische Leuchte" im Abonnement. Lichtjahre entfernt scheinen in diesem Augenblick all jene Kapitel, in denen von Humaniora, Aufklärung, Vernunft und auch vom Gottesstaat geredet wurde - und genau das sollen sie auch. Wiedemanns Geisteskrankheit tritt in diesen durch und durch diskursiven Roman ein wie eine Naturgewalt. Die Beschleunigung ist nicht nur ein Erzählprinzip des Romans, sie ist das Abbild der politischen Dynamiken, die längst den Kontinent ergriffen haben.
Ohne es auszusprechen, kündigt der Roman im Jahre 1913 eine neue Epoche an, die weit über den "Donnerschlag" des Ersten Weltkriegs hinausweist. Natürlich war Thomas Mann kein Hellseher. Aber - um die Zahlenkonfusion komplett zu machen - er begann den "Zauberberg" zwar 1913, aber das Kapitel, das heute vor hundert Jahren spielt, schrieb er erst knapp zehn Jahre später: zu einem Zeitpunkt, als, besonders in München, niemandem entgehen konnte, dass die Wiedemanns den Krieg überlebt hatten.
Das alles wäre nicht aufschreibenswert, wenn es sich nicht im Kosmos des Romans ereignen würde. Der "Zauberberg" ist nicht nur seit Generationen für jeden Leser eine lebenslange Verführung, der Welt ein für alle Mal abhandenzukommen: ein Leben außerhalb von Erwartungen und Ansprüchen anderer, ein Dasein, der Selbsterkenntnis und Liebe gewidmet, wobei auch diese Liebe vergeblich, aber keineswegs lebensgefährlich ist. Der Roman ist aber vor allem das große Dementi eines alten Traums von Aufklärern, Bildungsbürgern und Geistes-Ärzten aller Art: der Hoffnung, der Mensch könne einen Zustand der Reflexion und Verinnerlichung erreichen, die ihn immun macht gegen Infektionen und Bazillen aller Art.
Diese letzte Erkenntnis, dass Denken zur Krankheit und das heißt: zur Ideologie werden kann, ist der Zustand, in dem wir unseren alten Bekannten heute vor hundert Jahren antreffen könnten - wenn er denn je gelebt hätte. Kein Wunder, dass Naphta, der an sich und seiner Ideologie leidende Seelenterrorist, jetzt gleich (im Februar 1914) Selbstmord begehen wird. Die Zeit der großen und bösen Gedanken endet, wenn Gedanken zu Taten werden. Die Übergangszeit ist eine gleichsam sensorische Phase. Eine Phase, in der Gedanken gewissermaßen sofort die Nerven reizen, eine Ära der Ungeduld, des Hasses, des Streits, der "großen Gereiztheit".
Wie groß war die Intuition Thomas Manns, diesen zweiten großen Teil der Jahrhundertkatastrophe so vorausgespürt zu haben. Und welcher Stich ins schlichtweg Unheimliche, wenn man sich klarmacht, dass in dem Augenblick, wo Hans Castorps "Berghof", dieser Ort der europäischen Kontemplation, auf dem Schreibtisch des Schriftstellers buchstäblich auseinanderfliegt, ein anderer "Berghof" im Begriff ist, zum Symbol dieses neuen Unglücks zu werden.
Wer braucht Zeitreisen, wo es Romane gibt? Hans Castorp 1913 zeigt uns den Menschen, der nicht ahnt, was ein Jahr später kommt. Thomas Mann 1923 zeigt uns einen Autor, der, nun aus dem Wissen, was geschah, seine Leser gegen den Ausbruch einer neuen Krankheit impfen will, nicht ahnend, wie schlimm es genau zehn Jahre später wirklich werden sollte. Und nicht ahnend, dass das Manuskript des "Zauberbergs", das jetzt im Oktober 1923 fast fertig war, in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs verbrennen würde.
Hans Castorp 1913 - das ist keine Fiktion, das ist längst Bestandteil einer Wirklichkeit geworden, die durch das Buch selbst verändert wurde. Man muss sich vorstellen, wer das alles las und in seinem Kopf behielt, ohne Suchmaschine und digitalen Speicher. "Die Größe der Darstellung ist unerhört", schrieb einer, der das Werk kurz nach Erscheinen las, an seine Studentin, ". . . dass das Dasein von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt, das ist mit einer Meisterschaft angesetzt, dass ich vorläufig einzig darauf konzentriert bleibe." So schrieb es Martin Heidegger in einem Brief an Hannah Arendt. Immunisiert hat es ihn nicht.
Eine Selbstimpfung mit ungewissem Ausgang ist der "Zauberberg" bis heute geblieben und eine Sensibilitätsschulung für das Eintreten unerwarteter Ereignisse.
Wir haben Hans Castorp noch einmal kurz am Jackett festgehalten in seinem letzten, fast schon zu Ende gehenden Jahr. Gleich verschwindet er. Aber wer ihn noch nicht kannte oder wer ihn vergaß und wer im Februar 2013 einmal mit einem umgedrehten Fernglas auf sich selbst zurückblicken will, der hat es gut: Er muss den "Zauberberg" einfach nur lesen. Er tut gut. Er verändert die Luft, die wir atmen.
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