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Der 72jährige August Brill wird von Schlaflosigkeit geplagt. Und so sitzt er nachts in seinem Rollstuhl und denkt sich Geschichten über eine parallele Welt aus, um seinen eigenen Sorgen und Ängsten zu entfliehen.

Produktbeschreibung
Der 72jährige August Brill wird von Schlaflosigkeit geplagt. Und so sitzt er nachts in seinem Rollstuhl und denkt sich Geschichten über eine parallele Welt aus, um seinen eigenen Sorgen und Ängsten zu entfliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2009

Der Irak-Krieg im Nebenzimmer
Von der Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem gelesenen Tod zu erwärmen: Paul Austers Roman „Mann im Dunkel”
Ein Mann, der in einem dunklen Loch eingeschlossen ist und sein Schicksal zu verstehen versucht; ein anderer, der sich im Dunkel seines Schlafzimmers Geschichten erzählt; wirkliche und erfundene Welten und die Schwierigkeit, zwischen ihnen zu unterscheiden; das alles kennt man von Paul Auster, dessen Werk um wenige Motive mit hohem Wiedererkennungswert kreist. Wo aber bleibt in seinem neuen Roman der Detektiv, ohne den seine Vorgänger nicht denkbar gewesen wären?
Verglichen mit früheren Romanen Austers ist „Mann im Dunkel” düsterer und weniger verspielt, besitzt dafür aber eine menschlichere und auch offenkundig persönlichere Seite. Er ist der Familie des Schriftstellers David Grossmann gewidmet, dessen Sohn Uri 2006 bei einem Einsatz der israelischen Streitkräfte im Südlibanon umkam. Austers Roman erzählt von Owen Brick, der eines Tages in einem Erdloch erwacht und merkt, dass er in einer alternativen Gegenwart gelandet ist. Es herrscht Bürgerkrieg im Jahr 2007, die USA haben sich in die Unabhängigen Staaten und die von George W. Bush geführten Föderalisten geteilt. Die Türme des World Trade Center stehen aber noch, und so ist es schwer zu sagen, wann sich die Realität gespalten hat. Brick, so viel steht fest, wurde in den Krieg gerufen, um ihn zu beenden.
Von Militärs der Unabhängigen Staaten erhält er den Auftrag, den Urheber des Krieges auszuschalten: einen 72jährigen Literaturkritiker namens August Brill, der sich im Dunkel seines Schlafzimmers eine Geschichte erzählt von einem Bürgerkrieg, der Amerika entzweit, und von einem Mann namens Brick mit dem Auftrag, den Urheber dieses Krieges umzubringen. Selbststerbehilfe über den Umweg der Fiktion.
Kann der erfundene Brick frei handeln? Und vermag sein Handeln so tödlichfaktisch zu sein, wie Brill es sich vorstellt? Das sind Fragen, die ins Herz von Austers postmoderner Poetik zielen, aber es gibt nur wenige von ihnen, und die sind wohlbekannt. „Mann im Dunkel” besitzt zwar eine abstrakt-phantastische Ebene wie Austers letzter Roman „Reisen im Skriptorium”, aber mit der Rahmenerzählung um Brill auch ein zunehmend dominierendes realistisches Setting wie zuletzt der Roman „Die Brooklyn-Revue”. Die Interferenzen zwischen beiden Ebenen halten sich in Grenzen, die von Auster früher so oft verwischte Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit existiert.
Denn August Brill gelingt es nicht, in seinen Geschichten zu leben, um sich der Realität zu entziehen. In anderen Zimmern seines Hauses liegen schlaflos seine Tochter Miriam und die 23jährige Enkelin Katya, deren Freund Titus Small ums Leben gekommen ist. Erst gegen Ende erhellen sich die Zusammenhänge: Titus hat für einen Dienstleister der amerikanischen Armee im Irak gearbeitet, wurde gekidnappt und vor laufender Kamera geköpft. So erklären sich die endlosen Abende vor dem Fernseher, die Brill und seine Enkelin, die ihr Filmstudium seit Titus’ Tod unterbrochen hat, mit Filmklassikern verbringen. Es ist, als wollten sie ihre Netzhaut, in die sich die Bilder der Hinrichtung eingebrannt haben, mit neuen Eindrücken überschreiben.
Auster erzählt die Geschichte eines Traumas, um sie mit der Lebensgeschichte Brills zu verknüpfen. Auch die handelt von Trennungen, vom Weitermachen und beharrlichen Schuldgefühlen, von zwei gescheiterten Ehen und Anekdoten, die Brill von Freunden aufgeschnappt und in Erinnerung behalten hat, weil sie, auch wenn sie von Ereignissen im Dritten Reich handeln, auf nur halb verstandene Weise Licht auf die Ereignisse seines eigenen Lebens werfen.
So entspinnt sich eine Parabel um das Verhältnis von privaten Katastrophen und Krieg. Sind beide vergleichbar? Kann Weltgeschichte Trost angesichts der selbst erlebten Geschichte sein? Zumindest das Ende von „Mann im Dunkel” deutet an, dass es so ist. Katya und Miriam kommen nachts in Brills Zimmer und erzählen einander bis in die Morgenstunden Geschichten aus dem eigenen Leben, eine Art Genesung nicht durch Überschreiben mit neuen Bildern, sondern durch im Dunkeln getauschte Worte. Den leeren Platz des Detektivs hat schließlich die Enkelin eingenommen, die August Brills Lebensgeschichte aus ihm herausfragt, um ihre eigene Situation darin wiederzufinden.
Dass der Rahmenerzähler Brill seinen erfundenen Mörder Owen Brick sterben lässt, lange bevor der Roman zu Ende ist, mutet dabei wie eine Absage ans Fabulieren überhaupt an und wie ein Besinnen auf die Dinge, die einen unmittelbar etwas angehen. Austers literarischer Zug ist aber auch deshalb erstaunlich, weil die Genesung des Erzählers den Tod der erzählten Figur vorauszusetzen scheint. Das ist grausam, aber nicht neu. „Das was den Leser zum Roman zieht,” schrieb Walter Benjamin einmal, „ist die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen.”
Insofern reflektiert Paul Auster einen Zusammenhang zwischen Literatur, Tod und Trost, den viele Romane nahe legen, und heikel wirkt daran um so mehr, dass der Irak in „Mann im Dunkel” gelegentlich wie eine Parallelwelt erscheint, in Wirklichkeit aber mitten in der einzigen liegt, die es gibt. KAI WIEGANDT
PAUL AUSTER: Mann im Dunkel. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2008. 220 Seiten, 17,90 Euro.
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