Rhode Island, 1982. Eine junge Frau und zwei Männer schließen gerade das College ab. Madeleine liebt Leonard, und Leonard und Mitchell lieben Madeleine. Alle drei stehen an der Schwelle zum Erwachsensein und haben ein kompliziertes Verhältnis zu Bindungen und Glück. Leonard ist manisch-depressiv, Madeleine kümmert sich um ihn, und Mitchell bereist mit einem Rucksack voller Bücher über Religion die Welt. Als Madeleine und Leonard immer dichter zusammenrücken, scheint die Sache entschieden. Aber nach einem unerwarteten Treffen der drei werden die Karten neu gemischt.
Dies ist ein Roman über die Spielarten der Liebe die romantische, erotische, platonische Liebe, die Nächstenliebe, die Liebe zu Gott, die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern. Eine dramatische Dreiecksgeschichte, Jahrhunderte alt und doch auf furiose Weise neu erzählt, mit Witz, Ironie und einem tiefen Verständnis für die suchenden Figuren. Mit diesem lebensklugen Buch meldet sich Jeffrey Eugenides als einerder bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur zurück.
Dies ist ein Roman über die Spielarten der Liebe die romantische, erotische, platonische Liebe, die Nächstenliebe, die Liebe zu Gott, die Liebe zwischen Eltern, Kindern und Geschwistern. Eine dramatische Dreiecksgeschichte, Jahrhunderte alt und doch auf furiose Weise neu erzählt, mit Witz, Ironie und einem tiefen Verständnis für die suchenden Figuren. Mit diesem lebensklugen Buch meldet sich Jeffrey Eugenides als einerder bedeutendsten Autoren der amerikanischen Literatur zurück.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.10.2011Das Ja-Wort
Eine Entscheidung fürs ganze Leben: In Jeffrey Eugenides’ „Die Liebeshandlung“ wird der „Marriage Plot“ des viktorianischen Romans noch einmal zu einer ernsten Sache
Es ist in diesem Roman nicht leicht, aus Kinderzimmern zu entkommen. Madeleine trägt schon ihren goldenen Ehering, als sie in Prettybrook, New Jersey, wieder von der Tapete umgeben ist, die ihre Mutter damals eigens für sie hat drucken lassen – auch wenn sie nun verblasst ist und sich an den Rändern ablöst. Die Heldin aus ihrem Lieblingskinderbuch, Ludwig Bemelmans’ „Madeline“, ist auf dieser Tapete im Speiseraum ihrer katholischen Klosterschule zu sehen, im Zoo, in den grünen Parks von Paris, in den pastellfarbenen staatsbürgerlichen Institutionen und bei der Begegnung mit einem einbeinigen Soldaten auf Krücken: „Irgendwie hatte sich all das auf Madeleine übertragen, als sie ein kleines Mädchen war. Und dann waren da noch ihr Vorname, der so ähnlich klang, und die vertrauten Kennzeichen der Gesellschaftsschicht und ihre Selbsteinschätzung, damals und jetzt, in einer Schar von Mädchen das eine zu sein, über das ein Schriftsteller ein Buch schreiben könnte.“
Der amerikanische Autor Jeffrey Eugenides, 1960 in Detroit geboren, ist dieser Schriftsteller. Er hat Madeleine, die Tochter aus gutem Haus, in das Zentrum seines neuen Romans „The Marriage Plot“ gesetzt. Für diesen Titel gibt es im Deutschen keine rechte Entsprechung. Denn der „Plot“ ist darin nicht einfach nur die Handlung, die auf eine Eheschließung zuläuft. Es klingt auch das Komplott darin an, die zu enttarnende, zu entschlüsselnde Intrige. Und etwas Lexikalisches, Fachbegriffliches. „To start with, look at all the books“ – das ist der erste Satz des Romans: „Zunächst mal, schauen Sie sich all die Bücher an.“ Madeleine studiert an der Brown University in Providence, einer der Eliteuniversitäten im amerikanischen Nordosten. Sie will ihre Jahresarbeit über den „marriage plot“ bei Jane Austen und im viktorianischen Roman schreiben. In ihrer Handbibliothek – Edith Wharton und Henry James, George Eliot und Anthony Trollope, die Schwestern Brontë – ist die Frage, wer wen heiraten wird, nicht minder spannend als im Kriminalroman die, wer wen getötet hat. Der deutsche Titel „Die Liebeshandlung“ kann den Echoraum des viktorianischen Romans so wenig herbeizaubern, wie die „Graduierung“ auf Deutsch etwas von dem existentiellen Ernst ahnen lässt, mit dem eine universitäre Abschlussveranstaltung in den Vereinigten Staaten in die Biographien fahren kann.
Jeffrey Eugenides wurde schlagartig bekannt, als er 1993 den Roman „The Virgin Suicides“ („Die Selbstmord-Schwestern“) veröffentlichte. Darin hielt ein Chor von Männern, in denen die Teenager, die sie einmal waren, noch herumspukten, die entgleitenden Erinnerungen an die fünf schönen Lisbon-Töchter fest. Sie hatten sich binnen eines Jahres das Leben genommen. Schon in diesem frappierend gelungenen Debüt hatten die Kinderzimmer ihre Tücken und hohen Schwellen. Zehn Jahre später erhielt Eugenides für seinen zweiten Roman „Middlesex“ (2002) den Pulitzer-Preis. Ein hermaphroditischer Ich-Erzähler verfolgte darin die Geschichte seiner griechischen Einwandererfamilie über drei Generationen bis zurück in die griechisch-türkischen Konflikte des frühen 20. Jahrhunderts. Zugleich hatte er halsbrecherisch mit der antiken Mythologie zu jonglieren. Auch hier war bei aller Turbulenz die riskante Schwelle am Ausgang der Kindheit unübersehbar.
Dass Bücher ihren Lesern den Kopf verdrehen, ist eine alte Geschichte. Sie wird sehr gern in Romanen erzählt. Manchmal tun sie dabei so, als wollten sie den Lesern den Kopf wieder zurechtrücken, indem sie ihnen die Romane verdächtig machen und verleiden. Aber das war schon im „Don Quijote“ nur eine Finte. In immer tiefer gestaffelte Welten zogen die Romane ihre Leser hinein, und wenn man ihnen „Flucht!“ oder „Eskapismus!“ nachrief, machte ihnen das nichts aus, schon gar nicht, wenn es in ihnen um einen „marriage plot“ ging. Sie konnten sich darauf verlassen, dass kommunizierende Röhren sie mit dem Leben verbanden, aus dem sie hinauszuführen schienen. So ist es auch in diesem Buch: Der viktorianische Roman wird ihm zu einer ernsten Sache, weil er die Frage nach den Entscheidungen stellt, die im Leben zu treffen sind, wenn es denn das eigene sein soll.
Eugenides hat diesen Roman in den frühen achtziger Jahren angesiedelt. Da ist es leichter, über einen „marriage plot“ zu schreiben, als ihn zu leben. Die fortschrittlichen Dozenten erklären ihn für ausgestorben, zur Strecke gebracht durch die Emanzipation der Frauen und das moderne Scheidungs- und Ehevertragsrecht. Überall auf dem Campus stehen theoriebetriebene Windmühlen zur Austreibung aller Naivität. Die Avantgarde der Studenten debattiert in den Semiotik-Seminaren über Jacques Derrida, Umberto Eco und Roland Barthes. Und an Peter Handkes Buch über den Selbstmord der Mutter, „Wunschloses Unglück“ („A Sorrow Beyond Dreams“), wird die These exekutiert: „Bücher sind Bücher über andere Bücher.“
Eben das glaubt Jeffrey Eugenides nicht. Er macht den Campus-Roman mit seinen Theorie-Labyrinthen zum Kinderzimmer, aus dem seine Figuren den Ausgang finden müssen: Madeleine, die ihrer Leidenschaft für die viktorianischen Romane treu bleibt, Mitchell, der Religionswissenschaft studiert und die christliche Mystik entdeckt, und Leonard, der mit unberechenbarer Brillanz zwischen Semiotik, Religionswissenschaft und den Naturwissenschaften irrlichtert.
Die drei dürfen noch einmal, mal heiter, mal verzweifelt, mal im sexuellen Exzess, mal in der Erschlaffung die alte Frage des „marriage plot“ durchleben, wer wen heiratet. Von den Schatten ihrer Herkunftsgeschichten werden die Protagonisten dabei verlässlich begleitet. Leonard stammt aus einem Spukhaus mit zerrütteter Familie in Portland, Oregon, Mitchell kommt wie Eugenides aus einer Familie griechischer Einwanderer in Detroit, und Madeleine kann sich als Tochter des ehemaligen Präsidenten eines Provinz-Colleges einen neuen Saab leisten.
Ähnlich wie die 1977 in New York geborene Elif Batuman in „Die Besessenen“ in lockerem Parlando und mit analytischem Witz von Abenteuern mit russischen Büchern erzählt, schlägt Eugenides Pointen aus den akademischen Theorien. Es steckt nicht nur Satire in seinen Campus-Passagen. Sie sind zugleich ein Lobgesang auf die Lust an Theorien und die Neugier auf das Unbeantwortbare – und sie setzten, auf kühne Weise, die großen Bücher der Literaturwissenschaft als Gemeinwissen voraus. Um Mitchell, der nach Indien reist, in der Krankenstation Mutter Teresas arbeitet und, anders als es die Mode will, die asiatischen Religionen nicht gegen das Christentum ausspielen mag, bildet sich fast so etwas wie ein Heiligenschein. Und die „düsteren, unwiderstehlichen Männer“ bei Jane Austen, Edith Wharton und Henry James finden ihren Nachfolger in Leonard, dessen manisch-depressive Krankheit mehr und mehr in den Vordergrund tritt.
Er ist der Schlüssel zum „marriage plot“, denn er kann jeden Ehering von innen sprengen. Weil er ein Bandana trägt, Tabak kaut und selbstmordgefährdet ist, ist Leonard in den ersten Rezensionen des Romans sogleich als Wiedergänger von David Foster Wallace identifiziert worden. Eugenides hat nie ein Hehl aus seiner Bewunderung für den Generationsgefährten und zumal für dessen großen Roman „Infinite Jest“ („Unendlicher Spaß“) gemacht. Aber seine Wiederbelebung des „marriage plot“ dient nicht der Anverwandlung an David Foster Wallace, sondern der Selbstbehauptung gegen dessen fußnotengespickte Sprachmischungen, syntaktische Fluten und Fragmentierungen. Eugenides setzt die akademische Abschlussfeier des Jahres 1982, mit der sein Roman beginnt, in ein Geflecht von Rückblenden und Vorgriffen. Aber nie stellt er die Überschaubarkeit des Handlungsverlaufs in Frage. Die Ehe, die Madeleine mit Leonard eingeht, darf scheitern, der Plot aber nicht zerbrechen.
Und wenn er am Ende die mehr oder weniger lädierten Figuren ins Leben entlässt, ist da immer noch „marriage plot“, wenn auch ohne „marriage“. „Sich zersetzender Verstand“ – so beschreibt Leonard einmal seine Krankheit. Eugenides hat ihre Ausdrucksformen – das ruinöse Herunterfahren der Medikamentierung auf eigene Faust, den Zusammenbruch nach einem Glücksspielexzess in Monte Carlo, die Selbstmordgefährdung – nach klinischen Recherchen modelliert, so wie er die Euphorien, die Musik und das Partywesen der akademischen Jugend in den achtziger Jahren den eigenen Erinnerungen nachgebildet hat. Es ist aber dabei die Prosa, so genau Eugenides die Milieus ausleuchtet und die Charaktere gegeneinander absetzt, nicht immer auf der Höhe ihrer Einsichten.
In den „Virgin Suicides“ entstand der Stil aus der Spannung zwischen dem chorischen „wir“ der immer kenntlicher werdenden Männerstimmen und der Ungreifbarkeit und Unnahbarkeit der „Selbstmord-Schwestern“. In „Middlesex“ ging das Ineinander von Zeitgeschichte und Hermaphroditen-Mythologie aus den Lizenzen eines Ich-Erzählers hervor, der historisch, politisch, sexuell kein Blatt vor den Mund nimmt. Hier, im „marriage plot“, experimentiert Eugenides erstmals großflächig mit einem klassischen Erzähler in der dritten Person. Über Madeleine schreibt er, eine kurzfristige studentische Affäre resümierend: „Das Problem war nur, dass Madeleine sich nicht erlauben konnte, Dabney einfach zu genießen oder ihn sogar ein bisschen auszunutzen, sondern sich mädchenhaft hineinsteigern und sich einreden musste, wie sehr sie in ihn verliebt war. Madeleine brauchte offenbar Gefühle. Sie missbilligte die Vorstellung von bedeutungslosem, höchst befriedigendem Sex.“ Das ist eine vollkommen plausible Diagnose.
Vielleicht ist sie aber zu plausibel. Der Ire Colm Tóibín arbeitet schon länger mit einer Erzählstimme, die sich am Roman des 19. Jahrhunderts von Jane Austen über George Eliot bis Henry James orientiert. Er hat, zuletzt in dem Auswandererroman „Brooklyn“ (2009), das Verschattete und Andeutende, halb Verschwiegene, die Selbstdecouvrierung in Monolog und Dialog erprobt, all die Strategien, durch die eine Diagnose in die Figuren selbst verlegt wird. In diesem „marriage plot“ ist der Plot noch nicht ganz in dazu passenden Prosastil eingeschmolzen.
LOTHAR MÜLLER
JEFFREY EUGENIDES: Die Liebeshandlung. Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011. 624 Seiten, 26,95 Euro.
Der Universitäts-Campus
ist sowohl Spielplatz der Gefühle
als auch Labor des Erzählens
Erstmals experimentiert
Eugenides hier mit der Figur des
klassischen Erzählers
Die Frage, wer wen heiratet, ist nicht minder spannend als im Kriminalroman die, wer wen getötet hat. Zugleich aber ist sie die Frage nach den Entscheidungen, die im Leben zu treffen sind, wenn es denn das eigene sein soll. Szene mit Keira Knightley aus Joe Whrights Verfilmung von „Stolz und Vorurteil“ (2005) nach Jane Austens gleichnamigem Roman (Bild oben). Unten der Schriftsteller Jeffrey Eugenides in Princeton.
Fotos: Imago, Gaspar Tringale
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Eine Entscheidung fürs ganze Leben: In Jeffrey Eugenides’ „Die Liebeshandlung“ wird der „Marriage Plot“ des viktorianischen Romans noch einmal zu einer ernsten Sache
Es ist in diesem Roman nicht leicht, aus Kinderzimmern zu entkommen. Madeleine trägt schon ihren goldenen Ehering, als sie in Prettybrook, New Jersey, wieder von der Tapete umgeben ist, die ihre Mutter damals eigens für sie hat drucken lassen – auch wenn sie nun verblasst ist und sich an den Rändern ablöst. Die Heldin aus ihrem Lieblingskinderbuch, Ludwig Bemelmans’ „Madeline“, ist auf dieser Tapete im Speiseraum ihrer katholischen Klosterschule zu sehen, im Zoo, in den grünen Parks von Paris, in den pastellfarbenen staatsbürgerlichen Institutionen und bei der Begegnung mit einem einbeinigen Soldaten auf Krücken: „Irgendwie hatte sich all das auf Madeleine übertragen, als sie ein kleines Mädchen war. Und dann waren da noch ihr Vorname, der so ähnlich klang, und die vertrauten Kennzeichen der Gesellschaftsschicht und ihre Selbsteinschätzung, damals und jetzt, in einer Schar von Mädchen das eine zu sein, über das ein Schriftsteller ein Buch schreiben könnte.“
Der amerikanische Autor Jeffrey Eugenides, 1960 in Detroit geboren, ist dieser Schriftsteller. Er hat Madeleine, die Tochter aus gutem Haus, in das Zentrum seines neuen Romans „The Marriage Plot“ gesetzt. Für diesen Titel gibt es im Deutschen keine rechte Entsprechung. Denn der „Plot“ ist darin nicht einfach nur die Handlung, die auf eine Eheschließung zuläuft. Es klingt auch das Komplott darin an, die zu enttarnende, zu entschlüsselnde Intrige. Und etwas Lexikalisches, Fachbegriffliches. „To start with, look at all the books“ – das ist der erste Satz des Romans: „Zunächst mal, schauen Sie sich all die Bücher an.“ Madeleine studiert an der Brown University in Providence, einer der Eliteuniversitäten im amerikanischen Nordosten. Sie will ihre Jahresarbeit über den „marriage plot“ bei Jane Austen und im viktorianischen Roman schreiben. In ihrer Handbibliothek – Edith Wharton und Henry James, George Eliot und Anthony Trollope, die Schwestern Brontë – ist die Frage, wer wen heiraten wird, nicht minder spannend als im Kriminalroman die, wer wen getötet hat. Der deutsche Titel „Die Liebeshandlung“ kann den Echoraum des viktorianischen Romans so wenig herbeizaubern, wie die „Graduierung“ auf Deutsch etwas von dem existentiellen Ernst ahnen lässt, mit dem eine universitäre Abschlussveranstaltung in den Vereinigten Staaten in die Biographien fahren kann.
Jeffrey Eugenides wurde schlagartig bekannt, als er 1993 den Roman „The Virgin Suicides“ („Die Selbstmord-Schwestern“) veröffentlichte. Darin hielt ein Chor von Männern, in denen die Teenager, die sie einmal waren, noch herumspukten, die entgleitenden Erinnerungen an die fünf schönen Lisbon-Töchter fest. Sie hatten sich binnen eines Jahres das Leben genommen. Schon in diesem frappierend gelungenen Debüt hatten die Kinderzimmer ihre Tücken und hohen Schwellen. Zehn Jahre später erhielt Eugenides für seinen zweiten Roman „Middlesex“ (2002) den Pulitzer-Preis. Ein hermaphroditischer Ich-Erzähler verfolgte darin die Geschichte seiner griechischen Einwandererfamilie über drei Generationen bis zurück in die griechisch-türkischen Konflikte des frühen 20. Jahrhunderts. Zugleich hatte er halsbrecherisch mit der antiken Mythologie zu jonglieren. Auch hier war bei aller Turbulenz die riskante Schwelle am Ausgang der Kindheit unübersehbar.
Dass Bücher ihren Lesern den Kopf verdrehen, ist eine alte Geschichte. Sie wird sehr gern in Romanen erzählt. Manchmal tun sie dabei so, als wollten sie den Lesern den Kopf wieder zurechtrücken, indem sie ihnen die Romane verdächtig machen und verleiden. Aber das war schon im „Don Quijote“ nur eine Finte. In immer tiefer gestaffelte Welten zogen die Romane ihre Leser hinein, und wenn man ihnen „Flucht!“ oder „Eskapismus!“ nachrief, machte ihnen das nichts aus, schon gar nicht, wenn es in ihnen um einen „marriage plot“ ging. Sie konnten sich darauf verlassen, dass kommunizierende Röhren sie mit dem Leben verbanden, aus dem sie hinauszuführen schienen. So ist es auch in diesem Buch: Der viktorianische Roman wird ihm zu einer ernsten Sache, weil er die Frage nach den Entscheidungen stellt, die im Leben zu treffen sind, wenn es denn das eigene sein soll.
Eugenides hat diesen Roman in den frühen achtziger Jahren angesiedelt. Da ist es leichter, über einen „marriage plot“ zu schreiben, als ihn zu leben. Die fortschrittlichen Dozenten erklären ihn für ausgestorben, zur Strecke gebracht durch die Emanzipation der Frauen und das moderne Scheidungs- und Ehevertragsrecht. Überall auf dem Campus stehen theoriebetriebene Windmühlen zur Austreibung aller Naivität. Die Avantgarde der Studenten debattiert in den Semiotik-Seminaren über Jacques Derrida, Umberto Eco und Roland Barthes. Und an Peter Handkes Buch über den Selbstmord der Mutter, „Wunschloses Unglück“ („A Sorrow Beyond Dreams“), wird die These exekutiert: „Bücher sind Bücher über andere Bücher.“
Eben das glaubt Jeffrey Eugenides nicht. Er macht den Campus-Roman mit seinen Theorie-Labyrinthen zum Kinderzimmer, aus dem seine Figuren den Ausgang finden müssen: Madeleine, die ihrer Leidenschaft für die viktorianischen Romane treu bleibt, Mitchell, der Religionswissenschaft studiert und die christliche Mystik entdeckt, und Leonard, der mit unberechenbarer Brillanz zwischen Semiotik, Religionswissenschaft und den Naturwissenschaften irrlichtert.
Die drei dürfen noch einmal, mal heiter, mal verzweifelt, mal im sexuellen Exzess, mal in der Erschlaffung die alte Frage des „marriage plot“ durchleben, wer wen heiratet. Von den Schatten ihrer Herkunftsgeschichten werden die Protagonisten dabei verlässlich begleitet. Leonard stammt aus einem Spukhaus mit zerrütteter Familie in Portland, Oregon, Mitchell kommt wie Eugenides aus einer Familie griechischer Einwanderer in Detroit, und Madeleine kann sich als Tochter des ehemaligen Präsidenten eines Provinz-Colleges einen neuen Saab leisten.
Ähnlich wie die 1977 in New York geborene Elif Batuman in „Die Besessenen“ in lockerem Parlando und mit analytischem Witz von Abenteuern mit russischen Büchern erzählt, schlägt Eugenides Pointen aus den akademischen Theorien. Es steckt nicht nur Satire in seinen Campus-Passagen. Sie sind zugleich ein Lobgesang auf die Lust an Theorien und die Neugier auf das Unbeantwortbare – und sie setzten, auf kühne Weise, die großen Bücher der Literaturwissenschaft als Gemeinwissen voraus. Um Mitchell, der nach Indien reist, in der Krankenstation Mutter Teresas arbeitet und, anders als es die Mode will, die asiatischen Religionen nicht gegen das Christentum ausspielen mag, bildet sich fast so etwas wie ein Heiligenschein. Und die „düsteren, unwiderstehlichen Männer“ bei Jane Austen, Edith Wharton und Henry James finden ihren Nachfolger in Leonard, dessen manisch-depressive Krankheit mehr und mehr in den Vordergrund tritt.
Er ist der Schlüssel zum „marriage plot“, denn er kann jeden Ehering von innen sprengen. Weil er ein Bandana trägt, Tabak kaut und selbstmordgefährdet ist, ist Leonard in den ersten Rezensionen des Romans sogleich als Wiedergänger von David Foster Wallace identifiziert worden. Eugenides hat nie ein Hehl aus seiner Bewunderung für den Generationsgefährten und zumal für dessen großen Roman „Infinite Jest“ („Unendlicher Spaß“) gemacht. Aber seine Wiederbelebung des „marriage plot“ dient nicht der Anverwandlung an David Foster Wallace, sondern der Selbstbehauptung gegen dessen fußnotengespickte Sprachmischungen, syntaktische Fluten und Fragmentierungen. Eugenides setzt die akademische Abschlussfeier des Jahres 1982, mit der sein Roman beginnt, in ein Geflecht von Rückblenden und Vorgriffen. Aber nie stellt er die Überschaubarkeit des Handlungsverlaufs in Frage. Die Ehe, die Madeleine mit Leonard eingeht, darf scheitern, der Plot aber nicht zerbrechen.
Und wenn er am Ende die mehr oder weniger lädierten Figuren ins Leben entlässt, ist da immer noch „marriage plot“, wenn auch ohne „marriage“. „Sich zersetzender Verstand“ – so beschreibt Leonard einmal seine Krankheit. Eugenides hat ihre Ausdrucksformen – das ruinöse Herunterfahren der Medikamentierung auf eigene Faust, den Zusammenbruch nach einem Glücksspielexzess in Monte Carlo, die Selbstmordgefährdung – nach klinischen Recherchen modelliert, so wie er die Euphorien, die Musik und das Partywesen der akademischen Jugend in den achtziger Jahren den eigenen Erinnerungen nachgebildet hat. Es ist aber dabei die Prosa, so genau Eugenides die Milieus ausleuchtet und die Charaktere gegeneinander absetzt, nicht immer auf der Höhe ihrer Einsichten.
In den „Virgin Suicides“ entstand der Stil aus der Spannung zwischen dem chorischen „wir“ der immer kenntlicher werdenden Männerstimmen und der Ungreifbarkeit und Unnahbarkeit der „Selbstmord-Schwestern“. In „Middlesex“ ging das Ineinander von Zeitgeschichte und Hermaphroditen-Mythologie aus den Lizenzen eines Ich-Erzählers hervor, der historisch, politisch, sexuell kein Blatt vor den Mund nimmt. Hier, im „marriage plot“, experimentiert Eugenides erstmals großflächig mit einem klassischen Erzähler in der dritten Person. Über Madeleine schreibt er, eine kurzfristige studentische Affäre resümierend: „Das Problem war nur, dass Madeleine sich nicht erlauben konnte, Dabney einfach zu genießen oder ihn sogar ein bisschen auszunutzen, sondern sich mädchenhaft hineinsteigern und sich einreden musste, wie sehr sie in ihn verliebt war. Madeleine brauchte offenbar Gefühle. Sie missbilligte die Vorstellung von bedeutungslosem, höchst befriedigendem Sex.“ Das ist eine vollkommen plausible Diagnose.
Vielleicht ist sie aber zu plausibel. Der Ire Colm Tóibín arbeitet schon länger mit einer Erzählstimme, die sich am Roman des 19. Jahrhunderts von Jane Austen über George Eliot bis Henry James orientiert. Er hat, zuletzt in dem Auswandererroman „Brooklyn“ (2009), das Verschattete und Andeutende, halb Verschwiegene, die Selbstdecouvrierung in Monolog und Dialog erprobt, all die Strategien, durch die eine Diagnose in die Figuren selbst verlegt wird. In diesem „marriage plot“ ist der Plot noch nicht ganz in dazu passenden Prosastil eingeschmolzen.
LOTHAR MÜLLER
JEFFREY EUGENIDES: Die Liebeshandlung. Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011. 624 Seiten, 26,95 Euro.
Der Universitäts-Campus
ist sowohl Spielplatz der Gefühle
als auch Labor des Erzählens
Erstmals experimentiert
Eugenides hier mit der Figur des
klassischen Erzählers
Die Frage, wer wen heiratet, ist nicht minder spannend als im Kriminalroman die, wer wen getötet hat. Zugleich aber ist sie die Frage nach den Entscheidungen, die im Leben zu treffen sind, wenn es denn das eigene sein soll. Szene mit Keira Knightley aus Joe Whrights Verfilmung von „Stolz und Vorurteil“ (2005) nach Jane Austens gleichnamigem Roman (Bild oben). Unten der Schriftsteller Jeffrey Eugenides in Princeton.
Fotos: Imago, Gaspar Tringale
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.08.2012Das Tuch zum Buch
Das kann ja nur heiter werden: Mehr als spannende Lektüre und ein weiches Strandlaken braucht der Mensch nicht für einen Tag in der Sonne. Aber um ganz abzuschalten und sich auf die Geschichte zu konzentrieren, muss das Umfeld stimmen. Wie soll man mit dem Helden des Liebesromans fiebern, wenn sich auf dem Stoff Star-Wars-Figuren bekriegen? Hier liegt zusammen, was zusammengehört.
Von Jennifer Wiebking
Alltag oder Indonesien?
Das Pendleton-Handtuch erzählt von der traditionellen Ikat-Webtechnik, die ihre Wurzeln in Nordostasien hat und sich anschließend südlich, Richtung Indonesien, orientierte, wo auch Allan Karlssons Lebensgeschichte Station macht. Schon zuvor begegnen sich aber Bestseller und Badetuch flüchtig im Altersheim. Denn dort beginnt der Roman über den hundert Jahre alten Rentner, und auch die Grundfarben des Frottee-Tuches, die eher wie ganz gewöhnlicher Alltag als Exotik anmuten, könnten da zu Hause sein. Na ja, bis man eben die spitzen schwarzen Pfeile auf dem Tuch entdeckt und sich Karlsson zum Angriff rüstet: Über das Fenster seines Zimmers im Erdgeschoss, die Pantoffeln noch an den Füßen, macht er sich an seinem hundertsten Geburtstag einfach aus dem Staub.
Jonas Jonasson, "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand", Carl's Books, 416 Seiten, 14,99 Euro.
Handtuch: Pendleton, 40 Euro.
Zwei für die Freizeit.
David Nicholls, Autor von "Zwei an einem Tag", ist Engländer. Ob er sich im Urlaub an Deutschen stört, die ihm mit ihren Handtüchern zuvorkommen und Liegestühle reservieren? Es soll ja schon Orte mit Handtuch-Polizisten geben, die ein Auge auf die Tücher geworfen haben, die herrenlos auf der Liege verweilen. Ein Wendehandtuch wie dieses von Joop! vermeidet hingegen die Festnahme, indem es ständig sein Gesicht wechselt, indem es zwei Seiten hat, die so unterschiedlich hell und dunkel sind, dass man glaubt, sie gehörten nicht zusammen. Auch Emma und Dexter aus "Zwei an einem Tag" wissen lange nicht, ob sie füreinander bestimmt sind. Ihre Leben laufen so parallel nebeneinander her wie die Seiten des Wendehandtuchs, die abwechselnd ihr Recht auf pralle Sonne einfordern - ohne dass sich ein Tourist dazwischenlegt.
David Nicholls, "Zwei an einem Tag", Heyne, 544 Seiten, 9,99 Euro.
Handtuch: Joop!, 48 Euro.
Keine Angst vor Leoparden.
Nervigste Frage der lieben Mitreisenden, die dieses Buch im Urlaub zu Gesicht bekommen: Geht es in der Geschichte um einen Leoparden? Nein. "Leopard" beschreibt den Killer lediglich in seinem unauffälligen Verhalten. Er ist einer, der seine Morde aus dem Hinterhalt heraus plant, der unberechenbar ist und dessen Spur sich besonders schwierig verfolgen lässt. Für ihn lässt sich Harry Hole, Kommissar der Nesbø-Bücher, überreden, von Hongkong nach Oslo zurückzukehren, um dort zu ermitteln. Auf der anderen Seite: Wer furchtlos genug für diesen achten Fall von Hole ist, wer schon "Fledermaus", den ersten Fall, oder "Schneemann", den siebten, bei sich zu Hause im Regal stehen hat, wird sich bestimmt nicht vor einem Handtuch fürchten, das Leoparden in seinem Muster doch noch wörtlich nimmt.
Jo Nesbø, "Leopard", Ullstein, 704 Seiten, 10,99 Euro.
Handtuch: Louis Vuitton, 405 Euro.
Kunst auf Sand.
In den neunziger Jahren erlebte das Handtuch einen Aufstieg: Aus dem einfachen Frotteelappen wurde ein Designerstück. Heute hingegen geht es in die entgegengesetzte Trend-Richtung: Aus dem Kunstwerk wird ein einfaches Handtuch. Julian Schnabel, Yoko Ono, Peter Doig, Barbara Kruger oder Ed Ruscha haben für die Marke Works on Whatever (WOW) bereits Handtücher gestaltet, die gewisse Strandabschnitte wie Kunstgalerien aussehen lassen. Für die Künstler ist das auch eine Möglichkeit, sich mit einem Alltagsprodukt mitzuteilen. Ed Ruscha zum Beispiel deutet mit dem Satz "The study of friction and wear on mating surfaces" die verflochtenen Stränge von Beziehungsmustern auf dem Handtuch an. "Die Liebeshandlung" von Jeffrey Eugenides vertieft sie anschließend.
Jeffrey Eugenides, "Die Liebeshandlung", Rowohlt, 624 Seiten, 24,95 Euro.
Handtuch: Works on Whatever (WOW), 95 Euro.
Freiheit, immer.
Auf dem Tuch ist die Freiheitsstatue abgebildet. Da muss auch Natale, "Der Junge, der Träume schenkte", auf dem Schiff aus Übersee vorbei. Gerade ist er dabei, in die Vereinigten Staaten zu immigrieren, und bekommt bald einen neuen Namen, Christmas, sowie eine neue Heimat verpasst. "Du bist Amerikaner", bleut ihm die Mutter ein, und Christmas wiederholt es, etwa wenn ihn andere Jungs beschimpfen. Überhaupt plaudert er so lange, bis der amerikanische Traum seiner ist, als hätte er den Gedanken an Lady Liberty so im Kopf, wie sie beim Leser im Nacken liegt.
Luca di Fulvio, "Der Junge, der Träume schenkte", Bastei Lübbe, 783 Seiten, 9,99 Euro.
Handtuch: Möve, 49,90 Euro.
Frottee und andere Stoffe.
In den vierziger Jahren entdecken drei Frauen auf der Suche nach süßem Ruhm süße Psychopharmaka. Anfangs scheinen diese so ungefährlich wie ein Stück Katjes-Yoghurt-Gum. Aus dem Erzählstoff wurden ein Buch und mehrere Filme; Petit Bateau rollt nun für den Sommer auf dem Frottee Punkte und Streifen aus, die an den Rausch von Jennifer, Anne und Neely erinnern. Auch wenn es sich auf diesem Stoff viel besser leben und lesen lässt.
Jacqueline Susann, "Valley of the Dolls", Grove/Atlantic Inc., 442 Seiten, 11,20 Euro (im englischen Original). Auf Deutsch gebraucht bei Amazon-Händlern zu kaufen.
Handtuch: Petit Bateau, 49 Euro.
Strand- und Mordmotive.
Sommer in Frankreich: Vom Handtuch wird viel erwartet. Inmitten der Massen markiert es den Platz, auf dem man nur Schönes erleben möchte. Gut also, wenn das Sonnenschirm-Motiv von Hermès die besten anderthalb Quadratmeter Strand als reserviert kennzeichnet, selbst wenn man sich kurz im Meer abkühlt. Dass sich Schönes auch mit Schauerlichem versteht, zeigt der andere Sommer in Frankreich: Der Kommissar ist neu an der bretonischen Küste und hat es gleich mit dem Mord an dem Besitzer eines legendären Hotels zu tun, in dem Urlauber eigentlich die schönsten Wochen des Jahres verbringen sollen. Dort ist auch das Hermès-Strandtuch vermutlich kein Fremder.
Jean-Luc Bannalec, "Bretonische Verhältnisse", Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 14,99 Euro.
Handtuch: Hermès, 410 Euro.
Tragödien in Blau-Weiß.
Das Paar aus Berlin könnte die Zeit mit dem deutschen Tauchlehrer auf Lanzarote auch nutzen, um in dem 14000-Euro-Urlaub wirklich etwas zu lernen. Vor den beiden liegt schließlich nichts als der Atlantik, der dem Mix aus November-Winden und Sonnenstrahlen eine Bühne zum Tanzen bietet und daraus bestimmt Lichtmosaike kreiert, die dem Motiv auf dem Strandhandtuch von Ralph Lauren ähneln. Aber so verworren, wie das Muster des Tuches daherkommt, ist auch die Beziehung des Paares. Auf dem blau-weißen Tuch mag man in den Lesepausen wegdösen, ansonsten erlebt man Tauchgänge in allerlei Tiefen, echte und metaphorische.
Juli Zeh, "Nullzeit", Schöffling & Co., 256 Seiten, 19,95 Euro.
Handtuch: Ralph Lauren Home, 125 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das kann ja nur heiter werden: Mehr als spannende Lektüre und ein weiches Strandlaken braucht der Mensch nicht für einen Tag in der Sonne. Aber um ganz abzuschalten und sich auf die Geschichte zu konzentrieren, muss das Umfeld stimmen. Wie soll man mit dem Helden des Liebesromans fiebern, wenn sich auf dem Stoff Star-Wars-Figuren bekriegen? Hier liegt zusammen, was zusammengehört.
Von Jennifer Wiebking
Alltag oder Indonesien?
Das Pendleton-Handtuch erzählt von der traditionellen Ikat-Webtechnik, die ihre Wurzeln in Nordostasien hat und sich anschließend südlich, Richtung Indonesien, orientierte, wo auch Allan Karlssons Lebensgeschichte Station macht. Schon zuvor begegnen sich aber Bestseller und Badetuch flüchtig im Altersheim. Denn dort beginnt der Roman über den hundert Jahre alten Rentner, und auch die Grundfarben des Frottee-Tuches, die eher wie ganz gewöhnlicher Alltag als Exotik anmuten, könnten da zu Hause sein. Na ja, bis man eben die spitzen schwarzen Pfeile auf dem Tuch entdeckt und sich Karlsson zum Angriff rüstet: Über das Fenster seines Zimmers im Erdgeschoss, die Pantoffeln noch an den Füßen, macht er sich an seinem hundertsten Geburtstag einfach aus dem Staub.
Jonas Jonasson, "Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand", Carl's Books, 416 Seiten, 14,99 Euro.
Handtuch: Pendleton, 40 Euro.
Zwei für die Freizeit.
David Nicholls, Autor von "Zwei an einem Tag", ist Engländer. Ob er sich im Urlaub an Deutschen stört, die ihm mit ihren Handtüchern zuvorkommen und Liegestühle reservieren? Es soll ja schon Orte mit Handtuch-Polizisten geben, die ein Auge auf die Tücher geworfen haben, die herrenlos auf der Liege verweilen. Ein Wendehandtuch wie dieses von Joop! vermeidet hingegen die Festnahme, indem es ständig sein Gesicht wechselt, indem es zwei Seiten hat, die so unterschiedlich hell und dunkel sind, dass man glaubt, sie gehörten nicht zusammen. Auch Emma und Dexter aus "Zwei an einem Tag" wissen lange nicht, ob sie füreinander bestimmt sind. Ihre Leben laufen so parallel nebeneinander her wie die Seiten des Wendehandtuchs, die abwechselnd ihr Recht auf pralle Sonne einfordern - ohne dass sich ein Tourist dazwischenlegt.
David Nicholls, "Zwei an einem Tag", Heyne, 544 Seiten, 9,99 Euro.
Handtuch: Joop!, 48 Euro.
Keine Angst vor Leoparden.
Nervigste Frage der lieben Mitreisenden, die dieses Buch im Urlaub zu Gesicht bekommen: Geht es in der Geschichte um einen Leoparden? Nein. "Leopard" beschreibt den Killer lediglich in seinem unauffälligen Verhalten. Er ist einer, der seine Morde aus dem Hinterhalt heraus plant, der unberechenbar ist und dessen Spur sich besonders schwierig verfolgen lässt. Für ihn lässt sich Harry Hole, Kommissar der Nesbø-Bücher, überreden, von Hongkong nach Oslo zurückzukehren, um dort zu ermitteln. Auf der anderen Seite: Wer furchtlos genug für diesen achten Fall von Hole ist, wer schon "Fledermaus", den ersten Fall, oder "Schneemann", den siebten, bei sich zu Hause im Regal stehen hat, wird sich bestimmt nicht vor einem Handtuch fürchten, das Leoparden in seinem Muster doch noch wörtlich nimmt.
Jo Nesbø, "Leopard", Ullstein, 704 Seiten, 10,99 Euro.
Handtuch: Louis Vuitton, 405 Euro.
Kunst auf Sand.
In den neunziger Jahren erlebte das Handtuch einen Aufstieg: Aus dem einfachen Frotteelappen wurde ein Designerstück. Heute hingegen geht es in die entgegengesetzte Trend-Richtung: Aus dem Kunstwerk wird ein einfaches Handtuch. Julian Schnabel, Yoko Ono, Peter Doig, Barbara Kruger oder Ed Ruscha haben für die Marke Works on Whatever (WOW) bereits Handtücher gestaltet, die gewisse Strandabschnitte wie Kunstgalerien aussehen lassen. Für die Künstler ist das auch eine Möglichkeit, sich mit einem Alltagsprodukt mitzuteilen. Ed Ruscha zum Beispiel deutet mit dem Satz "The study of friction and wear on mating surfaces" die verflochtenen Stränge von Beziehungsmustern auf dem Handtuch an. "Die Liebeshandlung" von Jeffrey Eugenides vertieft sie anschließend.
Jeffrey Eugenides, "Die Liebeshandlung", Rowohlt, 624 Seiten, 24,95 Euro.
Handtuch: Works on Whatever (WOW), 95 Euro.
Freiheit, immer.
Auf dem Tuch ist die Freiheitsstatue abgebildet. Da muss auch Natale, "Der Junge, der Träume schenkte", auf dem Schiff aus Übersee vorbei. Gerade ist er dabei, in die Vereinigten Staaten zu immigrieren, und bekommt bald einen neuen Namen, Christmas, sowie eine neue Heimat verpasst. "Du bist Amerikaner", bleut ihm die Mutter ein, und Christmas wiederholt es, etwa wenn ihn andere Jungs beschimpfen. Überhaupt plaudert er so lange, bis der amerikanische Traum seiner ist, als hätte er den Gedanken an Lady Liberty so im Kopf, wie sie beim Leser im Nacken liegt.
Luca di Fulvio, "Der Junge, der Träume schenkte", Bastei Lübbe, 783 Seiten, 9,99 Euro.
Handtuch: Möve, 49,90 Euro.
Frottee und andere Stoffe.
In den vierziger Jahren entdecken drei Frauen auf der Suche nach süßem Ruhm süße Psychopharmaka. Anfangs scheinen diese so ungefährlich wie ein Stück Katjes-Yoghurt-Gum. Aus dem Erzählstoff wurden ein Buch und mehrere Filme; Petit Bateau rollt nun für den Sommer auf dem Frottee Punkte und Streifen aus, die an den Rausch von Jennifer, Anne und Neely erinnern. Auch wenn es sich auf diesem Stoff viel besser leben und lesen lässt.
Jacqueline Susann, "Valley of the Dolls", Grove/Atlantic Inc., 442 Seiten, 11,20 Euro (im englischen Original). Auf Deutsch gebraucht bei Amazon-Händlern zu kaufen.
Handtuch: Petit Bateau, 49 Euro.
Strand- und Mordmotive.
Sommer in Frankreich: Vom Handtuch wird viel erwartet. Inmitten der Massen markiert es den Platz, auf dem man nur Schönes erleben möchte. Gut also, wenn das Sonnenschirm-Motiv von Hermès die besten anderthalb Quadratmeter Strand als reserviert kennzeichnet, selbst wenn man sich kurz im Meer abkühlt. Dass sich Schönes auch mit Schauerlichem versteht, zeigt der andere Sommer in Frankreich: Der Kommissar ist neu an der bretonischen Küste und hat es gleich mit dem Mord an dem Besitzer eines legendären Hotels zu tun, in dem Urlauber eigentlich die schönsten Wochen des Jahres verbringen sollen. Dort ist auch das Hermès-Strandtuch vermutlich kein Fremder.
Jean-Luc Bannalec, "Bretonische Verhältnisse", Kiepenheuer & Witsch, 304 Seiten, 14,99 Euro.
Handtuch: Hermès, 410 Euro.
Tragödien in Blau-Weiß.
Das Paar aus Berlin könnte die Zeit mit dem deutschen Tauchlehrer auf Lanzarote auch nutzen, um in dem 14000-Euro-Urlaub wirklich etwas zu lernen. Vor den beiden liegt schließlich nichts als der Atlantik, der dem Mix aus November-Winden und Sonnenstrahlen eine Bühne zum Tanzen bietet und daraus bestimmt Lichtmosaike kreiert, die dem Motiv auf dem Strandhandtuch von Ralph Lauren ähneln. Aber so verworren, wie das Muster des Tuches daherkommt, ist auch die Beziehung des Paares. Auf dem blau-weißen Tuch mag man in den Lesepausen wegdösen, ansonsten erlebt man Tauchgänge in allerlei Tiefen, echte und metaphorische.
Juli Zeh, "Nullzeit", Schöffling & Co., 256 Seiten, 19,95 Euro.
Handtuch: Ralph Lauren Home, 125 Euro.
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